Woche 18/2023: Viertagewoche und eine Sprengung zwischen Rasur und Brausebad

Montag: Wie der Zeitung zu entnehmen ist, gibt es einen Interessenverband für Fußgänger, Fuss e. V. Als begeisterter Gernegeher begrüße ich das sehr, doch warum nennen die sich „Fuss“? Nach englischer Lesart bedeutet das Getue, Gedöns, Gewese, Buhei. Damit tun sie ihrem berechtigten Anliegen, Städte fußgängerfreundlicher zu machen, sicher keinen Gefallen.

Heute ist der Tag der Arbeit. Die IG Metall fordert eine Viertagewoche, was der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände ablehnt, stattdessen fordert er ein weiteres Mal „mehr Bock auf Arbeit“, man mag es nicht mehr hören. Nach allem, was ich über die Viertagewoche bei vollem Lohn gelesen habe, bringt sie allen Beteiligten nur Vorteile: Die Mitarbeiter sind zufriedener, arbeiten produktiver, werden seltener krank, neue Leute sind einfacher zu bekommen und zu halten. Und die Arbeit wird erbracht. Also worauf noch warten? Aber ein freier Tag, einfach so, ist in unserer Fleißkultur, wo es immer was zu tun gibt, nicht denkbar. Noch nicht. Liebe Generation Z, bitte übernehmen! Als Boomer stimme ich nicht in allem mit euch überein, in diesem Punkt sind wir uns einig.

Anstatt zu arbeiten nutzte ich den Tag für einen langen Spaziergang ans andere Rheinufer und zurück.

Durch die Hüchten
Ölfeld
Streuobst
Siegauen
Einkehr

Dienstag: Nach zwei richtigen Frühlingstagen lag heute Morgen ein Grauschleier über Stadt, Land und Fluss, dazu ganz feiner Niesel, geradeso zu spüren, indes zu wenig, um dafür den Schirm aufzuspannen. Erfreulicherweise blieb meine persönliche Stimmung davon ungetrübt, daher kam ich einigermaßen wohlgelaunt durch diesen Quasimontag.

Die Linden am Rheinufer schlagen aus, wie man so sagt, was in etwa so unsinnig ist wie aus dem Boden schießende Pilze

Abends schien wieder die Sonne, daher hielt ich spontan Einkehr in der Außengastronomie einer innenstädtischen Gaststätte mit dem Namen Varie Tee. Aus Protest gegen dieses Wortspiel bestellte ich statt des ursprünglich beabsichtigten Pfefferminztees einen Rosé. (Ja ich weiß … Jeder hat halt seinen Dämonen.)

Ich bin kein Gendergegner, kann das darin enthaltene Anliegen nachvollziehen. Meines völlig unmaßgeblichen, in diesem Blog allerdings vorherrschenden Erachtens überwiegen die nachteiligen Auswirkungen auf das Sprach- und Schriftbild die erhofften Vorteile für die Mitgedachten (m/w/d), daher sehe ich auch weiterhin davon ab; bislang hat das keine Leserin beanstandet. Dessen ungeachtet staunte ich heute einmal mehr, wie andere Zeit und Geld für dieses Thema aufwenden:

Um den Reim zu wahren: „Geländer“ ist ein gängiges Synonym für Treppenhandlauf, aber das wissen Sie sicher.

Vielleicht noch das dazu: Gegendert wird gerne mit Sternchen, Doppelpunkt, Binnen-I, der etwas sperrigen Nennung beider Geschlechter („Hosenträgerinnen und Hosenträger“), Partizip („Gastgebende“), sich für besonders fortschrittlich haltende nutzen konsequent das generische Femininum. Kann man alles machen, habe ich nichts gegen. Was ich indes richtig schlimm finde, ist die irritierende Mischform, für die sich unter anderem manche Zeitschriften inzwischen entschieden haben: „Busfahrerinnen und Altenpfleger fordern mehr Lohn.“ Ob sich da alle mitgedacht fühlen?

Mittwoch: „Wenige Tage vor der Keulung von König Charles …“ hörte ich morgens den Nachrichtensprecher im Radio sagen. Vielleicht war das Gehör kurz nach dem Aufwachen noch nicht voll betriebsbereit.

Gehört und notiert in einer Besprechung: „Es müssen mal alle zusammenkommen, die da einen Löffel im Topf haben.“ Das klingt jedenfalls wesentlich netter als Stakeholder.

Als abends vier von fünf Leuten, die mir begegneten, mit ihrem Datengerät beschäftigt waren, entweder indem im Gehen ihr Blick darauf gerichtet war oder sie damit telefonierten, fiel mir wieder ein Artikel in der vorletzten Sonntagszeitung ein. Darin listete eine offenbar junge Redakteurin mit einem Augenzwinkern diverse Dinge auf, die sie an Boomern befremdlich findet, unter anderem (erwartungsgemäß) deren Genderverweigerung. Ein anderer Punkt lautete sinngemäß so: „Ihr habt es nicht gelernt, im Gehen das Smartphone zu benutzen, deshalb steht ihr uns oft im Wege herum.“ Dem ist zu entgegnen: Dafür können wir problemlos größere Strecken gehend oder radfahrend zurückzulegen ohne Kopfhörer und ohne überhaupt das Telefon zu benutzen. Und ohne Kaffeebecher.

Donnerstag: Heute feiert Deutschland den Erdüberlastungstag, an dem wir alle natürlich nachwachsenden Ressourcen für dieses Jahr verpulvert haben. – Der Verband der Automobilindustrie erwartet für dieses Jahr in Deutschland eine Verdopplung des Zuwachses an Neuzulassungen auf vier Prozent, demnach werden 2,8 Millionen neue Autos unsere Straßen bereichern. Hätte ich ein Schamgefühl, wäre es verletzt.

Mittags in der Kantine in der Rubrik „Tradition“: Gyros von der Bio-Landpute mit Bratkartoffeln und Gurkensalat mit Dill. Es gibt schon seltsame Traditionen.

Spontane Frage: Wurde bereits die Halbwertszeit von Vollwertkost erforscht?

Was nervt: das Gechatte auf Teams. Ständig geht unten rechts auf dem Bildschirm das Fensterchen auf, weil einer mal eben was will. Wie auf dem Marktplatz, wo mich Leute ungefragt anquatschen, um mich für Kinder- oder Tierschutz zu begeistern. Der Vorzug von Gruppenchats: Man kann sie stummschalten, was ich konsequent mache.

Aufkleber an einem Lampenpfahl: »Therapie für alle«. Sehr guter Vorschlag, wo kann ich mich anmelden?

Freitag: „Ich habe nächste Woche Urlaub, bin aber erreichbar“, sagt ein Kollege in der Besprechung. Auch hier scheint eine Therapie dringend angebracht.

Nachmittags gab es Gebäck und Sekt anlässlich der Verabschiedung des großen Vorsitzenden, der nun den Stab übergeben hat an den jüngeren Nachfolger. Nach launigen Ansprachen begab er sich in die Menge, die sich sogleich um ihn scharrte für ein Selfie mit dem Scheidenden. Das ganze fotografiert von einem Fotografen der Kommunikationsabteilung, auf dass demnächst zahlreiche Bilder von Leuten, die zusammen mit dem Ex-Chef gequält in ihr eigenes Datengerät grinsen, im Intranet zu sehen sind. Als Selfiesdämlichfinder hielt ich Abstand und griff lieber ein weiteres Gläschen vom gereichten Tablett ab. Prioritäten setzen, so wichtig.

Samstag: Mit einem halben Auge schaute ich die Krönung in London an. Nicht weil es mich sonderlich interessierte oder ich eine Monarchie im Jahre 2023 noch für zeitgemäß und erforderlich hielte, doch wenn der Fernseher läuft, weil andere Haushaltsmitglieder die Zeremonie verfolgen, dann komme ich nicht umhin, ab und zu hinzuschauen. Warum auch nicht, das war schon sehens- und hörenswert. Ich möchte nicht mit denjenigen tauschen, die Verantwortung tragen für die Vorbereitung und Durchführung einer solchen Veranstaltung, die man ja nicht im vollen Umfang vorher proben kann, dennoch müssen alle Beteiligten, egal ob Chorsängerin, Soldat oder König, genau wissen, wann sie wo zu sein, was sie dort zu tun und gegebenenfalls sagen haben. Dafür meine volle Hochachtung. Der Stein, der ihnen danach vom Herzen fällt, wenn alles gut gelaufen ist, dürfte ähnliche Erschütterungen auslösen wie die Rahmedetalbrücke an der Autobahn 45, wenn sie morgen gesprengt wird.

Nach drei Jahren Zwangspause gab es in Bonn wieder Rhein in Flammen, dessen Höhepunkt am späten Abend stets ein grandioses Feuerwerk im Rheinauenpark ist. Zu diesem Anlass hatte der Liebste einen Tisch reserviert im Restaurant im Obergeschoss eines nahe dem Veranstaltungsort gelegenen Hotels, oder Rooftop Restaurant, wie das wohl jetzt heißt. Die Hoffnung war, nach dem Mahl mit einem Getränk in der Hand von dort aus das Feuerwerk zu betrachten. Daraus wurde nicht viel, denn das Spektakel wurde fast komplett durch das frühere Abgeordnetenhochhaus, auch als „Langer Eugen“ bekannt, verdeckt, nur ein paar wenige Male überragten die Lichter das Gebäude. Das einzige, was wir neben Lichtblitzen und Knallen mitbekamen, war die beeindruckende Rauchwolke, die über den Rhein nach Beuel zog. Rhein im Feinstaub statt in Flammen.

Nach Hause gingen wir zu Fuß, weil die Bahnen in Richtung Innenstadt überfüllt waren von Veranstaltungsbesuchern, ein Taxi war nicht zu bekommen. Das war überhaupt nicht schlimm, zum einen gehe ich diese Strecke ohnehin zweimal wöchentlich freiwillig, zudem kam nach der umfassenden Weinbegleitung zum Abendessen etwas Bewegung an der frischen Luft sehr gelegen. (Der Feinstaub war ja rüber nach Beuel gezogen.)

Sonntag: Durch das Programm am Vorabend kamen wir heute Morgen erst etwas später aus dem Tuch. Immerhin schaffte ich es, zwischen Rasur und Brausebad im Fernsehen die Sprengung der Rahmedetalbrücke mitzuerleben, die um zwölf planmäßig zusammenbrach und die Umgebung in eine Staubwolke hüllte. Der Sprengmeister zeigte sich mit seinem Werk sehr zufrieden.

Nach spätem Frühstück ging ich raus, es war warm, man trug T-Shirt und kurze Hose. Und die Kastanien stehen endlich in voller Blüte, nicht nur an der Poppelsdorfer Allee.

Hier ein besonders hypsches Exemplar in der Inneren Nordstadt

***

Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 3/2023: Beschimpfender Unfug

Montag: Als solchen Geräten mit einer gewissen Skepsis begegnender Mensch schenkte ich unserer digitalen Personenwaage im Bad nicht allzu viel Glauben, als sie gestern Morgen ein unplausibel hohes Gewicht anzeigte, zumal es sich wenig später nach dem Duschen um ein halbes Kilo verringerte; soviel Dreck wird da wohl nicht weggebraust worden sein. Heute früh spannten die Knöpfe der Strickjacke deutlich, die vor einem Jahr noch tadellos saß. Sicher ist das auf unsachgemäße Wäsche zurückzuführen. Kann ja nur.

Der Feuilleton-Teil der Tageszeitung enthält an Montagen mittlerweile als festen Bestandteil eine Tatort-Kritik. Mord und Totschlag als Kultur zu betrachten finde ich reichlich unangemessen. Dann bitte auch eine regelmäßige Rezession der neuesten Filme auf XHamster. Ich kann das gerne übernehmen.

Dienstag: Der Rhein hat Hochwasser. Die Anlegestege der Ausflugsschiffe und Rudervereine, üblicherweise Richtung Flussmitte abwärts geneigt, stehen waagerecht oder neigen sich nach oben. Frachtschiffe, auf die man sonst vom Ufer aus herabschaut, fahren auf Augenhöhe. Und es ist kalt, was erstaunlich viele Läufer nicht davon abhält, in kurzen Hosen das noch morgenmüde Auge zu reizen.

Das Leben überrascht manchmal durch erstaunliche Zufälle. Gestern beim Abendessen noch beklagte ich im Kreise der Lieben, dass der neue Kantinenbetreiber keinen Wackelpudding mehr anbietet. Raten Sie mal, was es heute Mittag zum Dessert gab. Vielleicht durch die heimischen Lausch- und Laberdosen, in denen die dämliche Frau Siri wohnt?

Vergangene Woche beklagte ich das jahreszeitlich durchaus begründete Verschwinden der Glühweinbude am Rheinpavillon. Hierbei handelt es sich um eine Gaststätte am Rheinufer im typischen Baustil der Fünfzigerjahre, vermutlich und wenn dann zu recht denkmalgeschützt. Im Obergeschoss befindet sich ein Café, dort hielt ich auf dem Rückweg spontan Einkehr und bestellte einen Pfefferminztee, jaha, ich kann auch ohne Alkohol. Es war voller als es von außen schien, ich fand noch einen Platz mit Blick auf den Fluss. Statt der erwarteten Tasse wurde eine ganze Kanne serviert, daher saß ich etwas länger als geplant, was überhaupt nicht schlimm war; da zu sitzen ist sehr angenehm, man kann während des Verzehrs vorüberfahrende Schiffe und gegenüber am anderen Ufer die Lichter von Beuel betrachten. Hier war ich sicher nicht zum letzten Mal.

Archivbild aus Dezember 2021

»Thee und Bier stellten mich aus der Erschöpfung wieder her«, schrieb passend Thomas Mann heute vor vierundachtzig Jahren ins Tagebuch.

Eine Bierlieferung wurde mir vom Lieblingspaketdienstleister per Mail angekündigt. Die anfängliche Vermutung, da ich nichts bestellt hatte, es könnte sich um eine der üblichen Spam-Mails handeln, bewahrheitete sich nicht. Wer mag die Lieferung veranlasst haben? Ich habe einen vagen Verdacht.

Mittwoch: Warum eigentlich glauben Menschen, sich im Straßenverkehr wie Irre verhalten zu dürfen, denen alle anderen Verkehrsteilnehmer zu weichen haben, sobald sie ein Lastenfahrrad führen?

Auf dem Weg zur Kantine begegnete mir ein ehemaliger Abteilungskollege, der vor geraumer Zeit zum Leiter einer anderen Abteilung ernannt wurde, von der ich nie hörte; seitdem sehe ich ihn nur selten, weil er in einem anderen Gebäudeteil seinem leitenden Wirken nachgeht. Da er den Blick auf sein Datengerät gerichtet hatte und auch zum Zeitpunkt unserer Begegnung nicht davon abließ sah ich davon ab, ihn anzusprechen und auf die Briefe hinzuweisen, die noch in seinem Postfach auf unserem Flur liegen. Man will ja nicht stören.

Nach Rückkehr am Abend war das Bier geliefert, fünf Halbe aus bayrischer Klosterherstellung und ein Glas. Meine Vermutung die Bestellerin betreffend traf zu. Herzlichen Dank, liebe N.!

Donnerstag: Morgens schneite es überraschend heftig, was mich nicht davon abhielt, zu Fuß ins Werk zu gehen. Flockenumtost genoss ich den Gang am allmählich wieder abschwellenden Fluss, gelegentlich begegnet und überholt von Läufern, die der Schnee ebenfalls nicht von ihrem Morgenlauf abhielt und deren Fußspuren schon bald wieder weggeschneit waren. Erst nach Ankunft im Büro bemerkte ich, wie nass die Jacke geworden war.

»Was hast du in deinem Leben über die Liebe gelernt?« lautet die WordPress-Tagesfrage. Nämliches: 1) Wer suchet, der findet nicht; am ehesten findet, in einem unerwarteten Moment, wer nicht sucht. 2) Liebe und Lust sind trennbar, Monogamie wird völlig überbewertet. 3) Aller guten Dinge sind drei. Mindestens.

Freitag: Die Arbeitswoche endete angenehm mit Schnee am Nachmittag, der nur kurz liegenblieb, und einer karnevalistischen Großveranstaltung mit zehn Karnevalsgesellschaften und Musik in der der Bonner Innenstadt, an der ich mangels Uniform nur in begleitender Funktion teilnahm und die in alkoholischer Hinsicht glimpflich endete.

Das Musik-Corps der Fidelen Burggrafen Bad Godesberg, Rück(en)ansicht

Samstag: In Bonn ist laut Zeitungsbericht ein Obdachloser zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er im vergangenen Jahr einen menschlichen Kopf vor dem Bonner Landgericht ablegte, den er zuvor seinem Kumpel abgetrennt hatte, ich erzählte es, Sie erinnern sich vielleicht. Was ihn zu der Tat bewogen hatte, verschweigt er nach wie vor. Dem ursprünglichen Kopfinhaber wird es egal gewesen sein, da er bereits vor dem Kopfverlust infolge einer Krankheit gestorben war. Die Anklage lautet deshalb nur auf „Störung der Totenruhe“. Der hier einschlägige Paragraph 168 des Strafgesetzbuches lautet im Absatz eins: »Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Klingt wie aus einer anderen Zeit. Am besten gefällt mir das mit dem beschimpfenden Unfug.

Nach samstäglichen Besorgungen hielt ich kurze Einkehr in der Lieblingsweinbar, direkt an einer Straßenbahnhaltestelle gelegen. Während des Rieslings sah ich einen Straßenbahnfahrer mit Krawatte, ein sehr seltener Anblick. Die Bus- und Straßenbahnfahrer früherer Zeiten trugen blaue Uniformjacke, Schirmmütze und selbstverständlich Krawatte. Das ist lange her. Heute muss man fast froh sein, wenn sie überhaupt einigermaßen bekleidet sind.

Es ist ein durchaus angenehmes Merkmal fortschreitenden Alters, wenn man am Samstagabend statt aushäusigen Fetenrausches auf ARTE eine Dokumentation über Moose anschaut, eine faszinierende Lebensform, die selbst unter widrigsten klimatischen Unbequemlichkeiten noch gedeiht. Vielleicht sind es Moose, die bald die Weltherrschaft erlangen, nachdem wir uns erfolgreich ausgelöscht haben. Eine noch faszinierendere, geradezu unheimliche Lebensform ist Physarum polycephalum, auch Blob genannt, über den anschließend berichtet wurde. Er verfügt über erstaunliche Intelligenz, obwohl er kein Hirn hat, im Gegensatz zu vielen Menschen, die trotz Hirn nennenswerte Intelligenz vermissen lassen.

Sonntag: Während des Spazierens sah ich am Rhein einen Mann, der mit Flusswasser seinen kleinen Hund hinten reinigte. Der Hund ließ es über sich ergehen, begeistert wirkte er nicht, was bei der Wassertemperatur und überhaupt nachvollziehbar ist.

Auf dem weiteren Weg durch den trüben, sich scheinbar endlos ziehenden Januar sah ich die erste Schneeglöckchenblüte und einen Kleinbus mit der Aufschrift »Es gibt Hoffnung«, was wie ich finde ganz gut zusammenpasst. Außerdem sah ich jede Menge Moos, die Dokumentation gestern Abend hat mir diesbezüglich die Augen geöffnet. Es ist kaum möglich, auch nur wenige Meter durch die Gegend zu gehen, ohne irgendwo die grünen Polster zu erblicken.

Es gibt Menschen, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, über Moose zu forschen. Das muss wunderbar sein.

Ganz wunderbar muss es auch sein, sein Moos zu verdienen mit Schreiben, wenn man es kann wie Max Goldt, der sich ausnahmsweise interviewen ließ, anzuschauen hier:

Ach ja, dies noch:

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche, möglichst ohne Mord, Totschlag und anderen Unannehmlichkeiten.

Woche 29/2022: Ächz!

Montag: Es gab schon montäglichere Montage. Ab Mittag wurde es ziemlich warm, morgen wird es heiß.

Abends auf dem Weg zum Supermarkt gingen zwei Herren vor mir her, die ihr Polohemd als Angehörige eines regionalen Sicherheitsdienstes auswies. Der eine hatte die Haare an den Seiten kurz geschoren, dazu trug er einen langen Zopf. Der andere, augenscheinlich etwas älter, war von hagerer Gestalt, mit einem großen Ohrring und großflächig tätowiertem Unterarm. Im Dunklen möchte man denen mit Sicherheit nicht begegnen.

Laut Zeitung hat heute Namenstag, wer Answer heißt. Noch Fragen?

Dienstag: Warmsinn. Angeblich der heißeste Tag des Jahres, ist zu lesen. Mit Blick auf den Kalender hätte ich keine Hemmungen, dagegen zu wetten. Eine Wetterwette. (Verzeihung.)

Ansonsten war der Werktag dank heruntergelassener Jalousien und Ventilator durchaus erträglich, wobei die Mittagsrunde durch den Park nicht allzu lang ausfiel. Notiz an mich: Demnächst für die Rückfahrt mit dem Rad eine kurze Sporthose einpacken. Wobei mittlerweile niemand mehr Anstoß daran nimmt, wenn an heißen Tagen auch männliche Kollegen mit kurzer Hose ins Werk kommen, sogar im Mutterhaus, wo man vor einigen Jahren noch schief angekuckt wurde, wenn man ohne Krawatte erschien. So ändert sich manches auch zum Guten, auch wenn ich selbst noch nicht so weit bin, beruflich Bein zu zeigen.

„Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer?“ sang Rudi Carell in den Siebzigern. Vermutlich kommt das auch bald auf irgendeinen Index.

Mittwoch: In einem Artikel über den heißen Sommer 2003 schreibt die Zeitung „die Gletscher ächzten“. Dazu stelle ich mir ein Donald-Duck-Comic vor, wo ein Gletscher zu sehen ist, an den die legendäre Erika Fuchs eine Sprechblase „Ächz!“ geschrieben hat.

Ächzanlass haben auch die Wasservögel im Rheinauenpark, weil ihr See noch immer einer Sandwüste gleicht.

Blick auf das Mutterhaus

Da es auch heute warm werden sollte, packte ich morgens die gestern vermisste Sporthose ein und zog sie vor der Rückfahrt an. Merke: Trägt man als Mann eine Sporthose ohne Innenhose und darunter Boxershorts, muss man beim Radfahren ein wenig acht geben, dass nichts heraus hängt.

Einen anderen Weg der Abkühlung wählte abends der Geliebte, indem er „All I Want For Christmas“ von Mariah Carey spielte und im Rahmen seiner Möglichkeiten mitsang.

Donnerstag: Den donnerstäglichen Fußmarsch ins Werk brach ich ab wegen Regens und stieg nach etwa einem Kilometer in die erstaunlich leere Stadtbahn. Nach dem Aussteigen an der Zielhaltestelle überholten mich erst ein junger Mann in Daunenjacke, dafür knöchelfrei, dann eine Frau ohne Jacke, die sich als Regenschutz eine zusammengefaltete FFP2-Maske auf die Kopfoberseite hielt.

Vormittags brachte eine Brandschutzübung Abwechslung in den Arbeitstag, immerhin bei Sonnenschein und allgemein guter Stimmung. Man weiß nicht, was im Ernstfall schlimmer wäre: die Rauchentwicklung oder der ohrenschmerzende Alarmton in den Fluren.

Zurück ging ich zu Fuß, den leichten Niesel ignorierend. Auf halber Strecke begegnete mir einer sprechend, ohne erkennbare Kopfhörer oder sonstige Telekommunikationsmittel. Entweder hielt er ein ausführliches Selbstgespräch, oder irgendeine technische Innovation habe ich mal wieder versäumt.

Auf dem Rückweg. Heller wurde es nicht mehr.

In einer internen Mitteilung ist von „weiblichen Mitarbeitenden“ zu lesen. Gender-Gaga.

Gelesen:

Biologisch gibt es zwei Geschlechter, wobei das soziale Geschlecht, also das Gender, natürlich facettenreicher sein kann. Aber was weiß ich schon? Auf die uralte Frage „Ist es ein Mädchen oder ein Junge?“ werden die Ärzte im Kreißsaal bald antworten: „Keine Ahnung, das müssen Sie es schon selbst fragen.“

Jochen-Martin Gutsch im SPIEGEL

Freitag: In der Kantine gab es Fisch, wie jeden Freitag. Auch so etwas, das ich bislang nicht hinterfragte und was deswegen unbeantwortet blieb. Das ist nicht schlimm, Hauptsache es schmeckt, wie Oma immer sagte.

Samstag: Da ich im vergangenen Jahr an entscheidender Stelle nicht Nein gesagt habe, erforderten ehrenamtliche Verpflichtungen, mit deren Inhalt ich Sie nicht unnötig langweilen möchte, eine erneute Reise nach Ostwestfalen, dieses Mal mit dem Auto. Wie auf der Hinfahrt im Radio zu hören war, fand im nordostwesfälischen Hille ein Kaninchenhochsprungwettbewerb statt, unter strenger veterinärischer Aufsicht zur Wahrung des Tierwohles. Andere Menschen haben auch komische Hobbys.

Von den Lieben hatte ich den Auftrag erhalten, mehrere Kästen einer speziellen Limonade mitzubringen, die nur in Ostwestfalen erhältlich ist. Leider war sie bis auf einen Kasten ausverkauft und sie wird aus dem Programm genommen. Dafür gab es im Getränkemarkt noch Restbestände an Herforder Maibock, der unmöglich ungekauft bleiben konnte, auch wenn schon bald der August naht.

Sonntag: Ein weiterer warmer Tag. Auf Frühstück und Durchsicht der Sonntagszeitung folgte der übliche Spaziergang mit kurzer Einkehr.

Verstehe ich nicht
Alkoporn
Die Bonner Südstadt ist bekannt für ihre Gründerzeit-Bebauung und schattigen Alleen.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche ohne Grund zum Ächzen.

Woche 24/2021: Schonung und Regeneration

Montag: Erster Urlaubstag. „Ich mööch zo Fooß noh Kölle jonn“, für Nicht-Rheinländer: „Ich möchte zu Fuß nach Köln gehen“, sang Willi Ostermann bereits vor fünfundsiebzig Jahren. Eine ähnliche Idee kam mir vergangene Woche, als ich meinen Urlaub plante. Und also tat ich heute, wobei ich nur bis Rodenkirchen ging, von wo aus man den Dom schon deutlich sieht. Ich startete in Bonn linksrheinisch, setzte mit der Mondorfer Fähre rüber ans andere Ufer, von dort ging es bis zur Rodenkirchener Autobahnbrücke, wo ich wieder die Rheinseite wechselte und nach einer Einkehr, der ersten nach wasweißichwieviel Monaten, mit der Stadtbahn die Rückfahrt nach Bonn antrat. Auch wenn Gehen glücklich macht, was zu betonen ich nicht müde werden: Heute war es sehr anstrengend, genug des Glücks, vor allem die letzte Stunde etwa ab Köln Porz, wo ich mehrfach dachte: Porz Blitz*, wann kommt denn diese Brücke endlich? Auch das Wetter war mit Sommerhitze vielleicht nicht der ideale Wanderbegleiter. Aber die Aussicht auf den Dom ein kühles Getränk mit Hopfenanteil gab den erforderlichen Antrieb. Als nach fast siebenstündigem Marsch das erste Kölsch endlich vor mir stand, war es schön, wobei das erwartete Glücksgefühl nach entbehrungsreichen Monaten noch nicht so richtig aufkam. Das kommt bestimmt noch. Hier einige Eindrücke:

Die Mondorfer Fähre nach Ankunft ebendort
Seitenarm bei Reidt
Im Auenwald bei Niederkassel
Ein Relikt aus einer fragwürdigen Verkehrsdesign-Epoche in Niederkassel-Lülsdorf
Hinter Lülsdorf
Bei Langel
Endlich: die Brücke in Sicht
Gleich geschafft
Sie haben Ihr Ziel erreicht.

* Bitte verzeihen Sie mir, ich konnte nicht anders.

Dienstag: Die erste Hälfte des zweiten Urlaubstags diente vornehmlich der Schonung und Regeneration müder Knochen und einer Blase am Fuß.

Währenddessen gelesen: „Die einmalige Gelegenheit, das Konrad‘s sowie mich selbst neu zu erfinden, stellt eine großartige Herausforderung dar, der ich mich unbedingt stellen möchte“, sagte nicht ein Business-Kasper, sondern der Bonner Koch Felix Kaspar gegenüber der Zeitung, der demnächst die Leitung eines Hotelrestaurants übernehmen wird. Anscheinend reden Köche mittlerweile auch so. Sollen sie – Hauptsache es schmeckt.

Gegen Mittag kam ich meinen Verpflichtungen als Importeursgattin nach, indem ich die Lieferung des Drogenkuriers entgegennahm. Etwas weniger dramatisch formuliert: Ein Spediteur brachte eine Palette Wein von der südlichen Côte du Rhône für des Liebsten Geschäft. In Hoffnung auf einen kühlen Rosé am Abend machte ich mich am Nachmittag daran, die Palette aufzulösen, wie man unter uns Logistikern sagt, und die Kartons anhand der Kundenbestellungen zu kommissionieren. Zum Glück hat er wieder genug bestellt, daher schien die Hoffnung auf ein Abendglas begründet.

Nachtrag am Abend: War sie.

Mittwoch: Am dritten Urlaubstag machte ich mich auf, meine Mutter in Bielefeld zu besuchen, und zwar mit dem von mir bevorzugten Verkehrsmittel, der Bahn. Aus gleichsam bahntouristischen Gründen wählte ich für die Hinfahrt einen kleinen Umweg über Paderborn. Kurz vor Hamm diese Durchsage: „Der vordere Zugteil endet in Hamm. Der hintere fährt weiter nach Paderborn oder Kassel.“ Ein wenig irritierend die Konjunktion „oder“. Als ob sie das Ziel der Fahrt noch nicht so genau wüssten und es erst unterwegs von der Oberzugleitung mitgeteilt bekämen. Eine Art Schienenlotto. Doch ich hatte Glück, ohne weitere Verzögerung kam ich pünktlich in Paderborn an.

Donnerstag: Vierter Urlaubstag. Für die Rückfahrt von Bielefeld wählte ich, wiederum aus Gründen, die dem normalen Bahnreisenden schwer zu vermitteln sind, weshalb ich Ihnen und mir den Versuch erspare, den Umweg über Osnabrück. Der ICE, der mich von dort weiter nach Bonn brachte, fuhr mit geringer Verspätung ab, schaffte es dann, diese mit den üblichen Begründungen (technische Probleme, Signalstörung) bis Köln auf eine halbe Stunde auszudehnen. In Köln die Durchsage, die Weiterfahrt verzögere sich, weil wir auf einen frischen Lokführer warteten, der mit einem Zug anreise, der sich leider verspäte. Mir sollte es recht sein – ich hatte einen angenehmen Platz, genug Lektüre und die Klimaanlage funktionierte, was an solch heißen Tagen bei der Bahn nicht selbstverständlich ist. Mit dreiviertelstündiger Verspätung ging es schließlich weiter. – Angenommen, in jedem verspäteten Zug sitzen durchschnittlich zwei Lokführer, die irgendwo einen anderen Zug übernehmen sollen. Wie lange dauert es, bis der Bahnverkehr zum Erliegen kommt?

Freitag: Den fünften Urlaubstag verbrachte ich lesend und schreibend im Liegestuhl auf dem Balkon. Gelesen in einem Zeitungsartikel über die aktuellen chinesischen Raumfahrtaktivitäten: „Mittelfristig will China auch Menschen auf den Mond schicken.“ Regimekritiker und Oppositionelle?

Außerdem habe ich das Wagenknecht-Buch zu Ende gelesen, das so endet:

„Wenn auch die linksliberalen Akademiker unserer Zeit einsehen würden, dass sie kein Recht haben, ihren Lebensentwurf zum Maßstab progressiven Lebens zu machen und auf alle herabzuschauen, die anderen Werten folgen und eine andere Sicht auf die Welt haben, wäre viel gewonnen.“

Sarah Wagenknecht: „Die Selbstgerechten“

Das Buch hat mir sehr gut gefallen, daher kommt es nicht in den öffentlichen Bücherschrank.

Samstag: Sechster Urlaubstag, wobei die Frage erlaubt sei, ob ein Samstag überhaupt als Urlaubstag zählt, wenn man nicht verreist ist und auch sonst nichts unternimmt, was den Tag von einem gewöhnlichen Samstag unterscheidet. Aber es ist zu warm, um etwas zu unternehmen, außerdem sind mir überall viel zu viele Menschen. Daher ein weiterer Balkon-Liegestuhl-Tag, jedenfalls so lange, bis die Sonne ums Haus kam und mich in die kühlere Stube trieb.

Alles Gute zum Namenstag (laut Zeitung) an Analogika, Hildegrim, Rasso, Romuald. (Einen davon habe ich mir ausgedacht, Sie dürfen gerne raten.) Wieder stelle ich mir entsprechende Heckscheibenaufkleber vor.

Ich habe dann auch mal dieses Voila-Dings ausprobiert. Voila:

(Nächstes Mal rasiere ich mich vorher, wobei ich das linke Bild schon ziemlich scharf finde.)

Ansonsten habe ich nebenan die Chronik des Wahnsinns fortgeschrieben.

Sonntag: Die schweren Gewitter der vergangenen Nacht sind abgezogen, ohne größere Schäden zu hinterlassen. Das gilt für die meteorologischen wie ein zwischenmenschliches.

Der siebte Urlaubstag konnte bedenkenlos als solcher bezeichnet werden, siehe die Eingangsfrage gestern. Von einem gewöhnlichen Sonntag unterschied ihn das Ausbleiben der Unlust auf die dräuende Arbeitswoche ab dem späteren Nachmittag.

Weitgehend unlustig auch das Büchlein „Wer schreibt denn sowas?!“ von Joshua Clausnitzer, auf das ich vor längerem in der Zeitung aufmerksam wurde. Dort klang es interessant, Wort- und Sprachspiele waren in Aussicht gestellt, daher beschaffte ich es über den Buchhändler des Vertrauens. Der Klappentext bezeichnet es als „Humorvoll, skurril, banal und satirisch!“ Eines dieser Attribute trifft unwidersprochen zu; kleine Kostprobe: „Frauen attestieren mir immer wieder: Aufreißen kann ich! Besonders gut Chipstüten, Gummibärchen- und Kekspackungen!“ Augenscheinlich ist der Autor ein großer Freund des Ausrufezeichens. – Nun könnten Sie zu recht einwenden: „Na hör mal, was du hier so absonderst, ist auch nicht gerade hohe Literatur.“ Das stimmt, dafür ist es umsonst, sowohl im Sinne von vergeblich als auch kostenlos. Wer 12,90 Euro statt für dieses schmale Bändchen lieber für eine Flasche Rosé ausgibt, tut sich jedenfalls einen größeren Gefallen.