Vom Reisen und Ankommen

Aufgeschrieben am 18. April 2012 in Malaucène, Frankreich; mangels Gelegenheit und WLAN erst heute veröffentlicht

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Ich habe mich sehr auf diesen Urlaub gefreut und freue mich jetzt, da er endlich gekommen ist, noch immer. Als ich am vergangenen Freitagnachmittag den Rechner im Büro herunterfuhr und das dienstliche Mobiltelefon ausschaltete und in die Schreibtischschublade legte, war von Urlaubsstimmung noch nicht viel zu spüren; immerhin war da das angenehme Gefühl, nun eine Woche ohne Termindruck der Projekte, E-Mail-Terror, unzählige Besprechungen und Telefonkonferenzen vor mir zu haben. Der E-Mail-Eingang war leer gearbeitet und die dringendsten Aufgaben meiner Liste abgehakt. Einem Büroarbeiter wie mir muss das genügen für ein Erfolgserlebnis, im Gegensatz zu einem Schreiner, der abends vor sich sieht, was er tagsüber geschafft hat, einen Schrank, Tisch oder eine Holzvertäfelung.

So verließ ich also das Büro mit gutem Gewissen, und die Gedanken an die Arbeit verflüchtigten sich spätestens in dem Moment, als mich die Drehtür des Gebäudes ausspuckte. Die Trennung von Arbeit und Freizeit ist mir heilig, deshalb blieben Laptop und Diensthandy im Büro. Das ist keineswegs selbstverständlich, viele meiner Kollegen sind der Verlockung erlegen, ihr Blackberry auch privat nutzen zu dürfen, was den Nebeneffekt hat, dass sie ihre dienstlichen E-Mails auch am Wochenende bei sich haben und sie lesen und bearbeiten, manche nehmen ihr Laptop gar mit in den Urlaub. Früher war die Eisenkette Merkmal der Leibeigenschaft, heute ist es die Laptoptasche. Egal, muss ja jeder selbst wissen, sind ja alt genug, die lieben Kollegen. Ich werde diese Trennung jedenfalls weiterhin strikt einhalten, so lange nichts anderes ausdrücklich verlangt wird. Und sollte sich hier die Erwartung meines Arbeitgebers eines Tages ändern, muss ich mir Gedanken machen, ob ich noch den richtigen Job habe.

Nun sind wir also wieder hier, in unserer geliebten Provence, Sonntagnachmittag sind wir angekommen. Es könnte etwas wärmer sein, letzte Ausläufer des Mistrals wehen noch kühle Luft über das Land und um die Häuser, ansonsten ist es schön wie immer, wenn auch nicht so grün wie im Sommer: die Weinreben ragen noch knorrig und nackt aus dem Boden, nur hier und da knospt das erste Grün an ihnen, und die Kirschblüten machen Platz für die ersten Blätter.

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Auch die Reize zweibeiniger Art sind sowohl von ihrer Anzahl als auch von ihrer Intensität her noch vergleichsweise gering, was meinem Streben nach Erholung eher förderlich ist.

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Die Sonne scheint, und der blaue Himmel über den Bergen, Dörfern und Feldern rückt den Büroalltag sowohl räumlich als auch gedanklich in weite Ferne. Wie essen (und trinken) gut, schlafen lange, ich habe endlich Zeit zum Lesen und – wie man sieht – Schreiben.

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Und doch habe ich das Gefühl, noch nicht richtig angekommen zu sein. Alles hier ist schön und vertraut, das Haus, die Stadt, die Leute, die Umgebung, dennoch fühle ich mich müde, und es fehlt das Gefühl, im Hier und Jetzt zu sein, als ob mein Körper hier wäre, meine Gedanken jedoch woanders. Wo, kann ich nicht sagen: weder sind sie im Büro – was das denkbar ungünstigste wäre – noch zu Hause in Bonn. Anscheinend machen sie getrennt von mir Urlaub, unbekannt verreist.

Sollen sie, schließlich sind die Gedanken frei. Dennoch: Falls Sie sie irgendwo antreffen, sagen Sie ihnen bitte, sie mögen unverzüglich herkommen, es bleiben nur noch drei Tage und der Rest von heute, um den Urlaub gemeinsam zu genießen. Vielen Dank!

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Nachtrag: Einen Tag später trafen auch die Gedanken in Südfrankreich ein, so dass es doch noch ein ganz schöner gemeinsamer Urlaub wurde.

K wie Karfreitag und Karlsruhe

Karfreitag ist ein stiller Feiertag mit gesetzlich verordnetem Vergnügungsverbot, welches insbesondere öffentliche Musik- und Tanzveranstaltungen ausschließt, während Kirchenglocken uneingeschränkt lärmen dürfen im Namen des Herrn. Zunehmend wird darüber diskutiert, ob dieses Verbot noch zeitgemäß ist, im Radio, im Internet, und die Piraten-Partei hat sogar das Bundesverfassungsgericht angerufen, darüber zu entscheiden, ob das Verbot von Demonstrationen gegen das karfreitägliche Spaßverbot eine unzulässige Einschränkung der Versammlungsfreiheit darstellt.

Ich kann sehr gut an einem Tag im Jahr auf laute Musik und Tanz verzichten, zumal ich das an mindestens 350 weiteren Tagen ebenfalls tue, schließlich bin ich keine zwanzig mehr und schätze einen ruhigen Abend zu Hause mehr als eine durchtanzte Partynacht. Aber das ist hier nicht die Frage. Es ist ein Unterschied, ob ich freiwillig auf etwas verzichte oder ob ich es muss, weil bestimmte Institutionen das so wollen und es Jahrhunderte alte Tradition ist. Warum also können die Kirchen, deren Anhängerschaft schrumpft, per Gesetz in die Freizeitgestaltung aller Menschen eingreifen, insbesondere der Nichtgläubigen? Umgekehrt käme wohl keiner auf die Idee, einen gläubigen Christen heute daran zu hindern, den Tag in Andacht und Stille zu verbringen, schließlich wird niemand gezwungen, auf eine Party zu gehen.

„Aber den Feiertag nehmt ihr gerne mit. Dann könnt ihr heute auch arbeiten gehen.“ – Dieses Argument höre ich immer wieder. Was, bitte schön, hat das eine mit dem anderen zu tun? An Christi Himmelfahrt verbietet es auch niemand, dass die „Ungläubigen“ mit Bierkasten und Bollerwagen ihren „Vatertag“ begehen, ohne darüber nachzudenken, welchen Ursprung dieser Feiertag hat. Und tausende von Krankenschwestern, Busfahrern, Polizisten und Zugbegleitern – ob gläubig oder nicht – können darüber ohnehin nur lachen.

Als Christ bezeichne ich mich nicht mehr, bin aber ausdrücklich auch kein Atheist, behaupte nicht, dass es keinen Gott gibt. Allerdings behaupte ich auch nicht das Gegenteil, vielmehr bin ich der Meinung, jeder muss es mit sich selbst ausmachen, an was er glaubt oder nicht; Bekehrungsversuche aller Art widerstreben mir zutiefst, nicht nur in Bezug auf Religion, sondern generell: niemand soll mir vorschreiben, dass ich kein Fleisch essen, nicht rauchen, keinen Alkohol trinken darf – so lange ich damit andere nicht gefährde oder beeinträchtige. Jedenfalls bin ich mir sicher: Der Gott, an den ich glaube, hat nichts dagegen, wenn Menschen auch heute feiern und fröhlich sind.

Soeben wird gemeldet, dass sich das Bundesverfassungsgericht für nicht zuständig hält. Schade, ich war sehr gespannt auf die Entscheidung.

Aufgeklärt

Meine Aufklärung erfolgte im Alter von etwa neun Jahren in einem Sandkasten. Also jedenfalls der erste Schritt dazu. Der Sandkasten befand sich in unserer Siedlung hinter den Wohnblocks der örtlichen Wohnungsbaugenossenschaft, zwischen Teppichstangen und Klettergerüst. Dort verbrachte ich die Nachmittage zusammen mit meinem Schulkameraden Jens Kowitzki (Name von der Redaktion geändert), der mit seiner Familie in einem der Blocks wohnte, während wir, also meine Eltern, mein großer Bruder und ich, über die Straße in einem Reihenhaus mit eigenem Garten, dafür aber ohne Sandkasten, residierten.

Während ich von Hause aus schüchtern, vorsichtig und schrecklich anständig war, galt Jens als Rabauke der Siedlung: Im Winter stopfte er gerne mal Schnee in anderer Leute Briefkästen (in den siebziger Jahren gab es noch richtige Winter mit Schnee in Bielefeld), ab und zu war er in harmlosen Prügeleien verstrickt, die Dichte von luftlosen Fahrradreifen war in der Umgebung überdurchschnittlich hoch, und eines Tages kam er die Straße herauf mit einem Briefkasten im Schlepp, denn er kurz zuvor mitsamt Pfahl auf einem nahegelegenen Grundstück gefällt hatte. Die Postboten hatten es schwer, in die Häuser hinein zu kommen, weil aufgrund andauernder Klingeljagden (ostwestfälisch für Klingelstreiche) sich niemand mehr die Mühe machte, die Tür zu öffnen.

Sie sehen, alles völlig harmlos, in den Augen des langweiligen Spießerkindes, also in meinen, war er jedoch ein Teufelskerl, eine Art Bart Simpson, nur ohne Skateboard, wobei es damals natürlich weder die Simpsons noch Skateboards gab, jedenfalls nicht in Ostwestfalen. Ich mochte Jens. Eines unserer Lieblingsspiele war das Bauen von Fallgruben in besagtem Sandkasten, wobei wir sehr sorgfältig vorgingen: ein Loch ausheben, Zweige drauf, darüber große Blätter, zuletzt mit einer dünnen Sandschicht abgedeckt; dank meiner anerzogenen Bravheit konnte ich Jens davon abbringen, die Grube zuvor mit Brennesseln, Glasscherben und Hundekot zu füllen. Dann folgte der wichtigste Teil des Spieles: ein Opfer musste her. Dieses fanden wir in Jörn Drombecker (Name verfälscht), zwei bis drei Jahre jünger als wir, der ebenfalls in den Blocks wohnte. Wir riefen ihn heran, lockten ihn in den Sandkasten, und zack, gab der Boden unter ihm nach, begleitet von unserem fiesen Gelächter. Ich weiß nicht wie oft, aber mindestens einmal in der Woche fiel der arme Kerl im wahrsten Sinne des Wortes darauf herein.

Eines Nachmittags, während unserer geliebten Tiefbautätigkeit, fragte mich Jens:
„Weißt du eigentlich, was ficken ist?“
Ich wusste es nicht, dachte als erstes an die bunten Blumen, die im Sommer an Omas Gartenzaun rankten, die hießen so ähnlich, aber nein, die Bedeutung des Wortes „ficken“ war mir gänzlich unbekannt, weder meine Mitschüler noch meine Eltern oder mein Bruder hatten es je erwähnt.
Jens erklärte: „Da steckt der Mann seinen Pillermann in die Scheide von der Frau, und dann pinkelt er da rein.“ Pillermann und Scheide waren, immerhin, zwei Begriffe, die mir nicht gänzlich fremd waren, ersterer aus eigener Anschauung, zweitere hatte ich auch schon mal gesehen, beide dienten für mich dazu, überschüssige Körperflüssigkeit abzulassen; warum die bei Jungs und Mädchen unterschiedlich angelegt waren, darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht, es erschien mir auch nur wenig interessant, das war halt so, wie der Schnee im Winter und die Hitze im Sommer.

Und doch: Der Gedanke, dass ein Mann seine Notdurft anstatt auf dem Klo im Unterleib einer Frau verrichtete, war so absurd, dass ich minutenlang nicht aus dem Lachen heraus kam, ebenso Jens; „ficken, ficken“ riefen wir, eine ältere Frau aus dem dritten Stock rief irgendwas zu uns herunter und schloss wütend das Fenster. Dann kam Jörn um die Ecke, versank in der Grube, alles war gut, es hatte sich erstmal ausgefickt, das schöne neue Wort war zunächst vergessen.

Erst beim Abendessen im trauten Kreise der Familie fiel es mir wieder ein, prompt bekam ich wieder einer einen Lachanfall.
„Wisst ihr, was Jens mir heute erzählt hat?“, prustete ich los. Kurz darauf wussten sie es. Schweigen. Mein Bruder wurde knallrot, Papa warf Mama einen bösen Blick zu, Mama stand vom Tisch auf und ging zum Backofen, nach dem Braten schauen. Komisch, sie fanden es nicht halb so lustig wie ich.

Erst viel später begann ich langsam zu begreifen, warum.