Tagebuch

In seinem Blog schmerzwach forderte Jannis Ende November dazu auf, in unseren alten Tagebüchern zu stöbern, Fotos davon zu machen und daraus zu zitieren. Ich halte das für eine wunderbare Idee, daher folge ich seinem Aufruf gerne. Seit 1986 schreibe ich mehr oder weniger regelmäßig Tagebücher, bis heute, ich erwähnte es schon. Im Gegensatz zu heute, wo man gar nicht genug Leser haben kann für seine Blogs, Tweets und so weiter, hatte ich damals eine geradezu panische Angst, jemand könnte mein Tagebuch lesen. Daher schrieb ich in deutscher Sütterlin-Schreibschrift, die ich mir kurz zuvor selbst beigebracht hatte. Die Schrift habe ich bis heute beibehalten, denn auch heute noch möchte ich nicht alles, was den Weg in mein Tagebuch findet, von anderen gelesen wissen, zumal das meiste eh höchst uninteressant sein dürfte.

Zur Sache nun: Der nachfolgende Eintrag ist vom 29.11.1992. Ich war mal wieder verliebt (das waren immer die Zeiten, wo meine Tagebücher Hochkonjunktur hatten); leider währte die Gegenliebe nur kurz und erodierte bald zu „Wir können ja Freunde bleiben“. Im Abklingbecken meiner Gefühle entstanden die beiden folgenden Gedichte. Ich neige sonst nicht zu Lyrik, aber hier passte es ganz gut:

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Chaos
Ich sage dir, daß alles in Ordnung ist zwischen uns.
Ich sage dir, daß ich darüber hinweg bin.
Ich erzähle dir sogar alles von dem anderen.
Ich bemühe mich, das alles selbst zu glauben.
Ich versuche zu vergessen, was war.
Doch wie die Sonne an einem bewölkten Tag
kommt die Wahrheit immer wieder durch
und wirft mich zu Boden.
Dann tut es noch so weh wie am Anfang.
Aber ich weiß, daß die Zeit für mich arbeitet…
Und das gibt mir wieder Hoffnung!

Am selben Tag schrieb ich:

Cognitive Dissonanz
Du sagst, wir passen nicht zusammen.
Mein Verstand sagt das auch.
Nur mein Herz will das einfach nicht begreifen.
Und du wunderst dich, daß ich unausgeglichen bis?

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KraftPunkt

Früher bemalten Menschen die Wände ihrer Höhlen mit Blut, Holzkohle und Metalloxiden, später beschrifteten oder bedruckten sie Folien und legten sie auf einen sogenannten Tageslichtprojektor; heute gibt es Powerpoint, ein echter Segen moderner Bürokommunikation: mit wenig Aufwand kann man Informationen an die Wand projizieren, ohne hinterher vor Fragen zu stehen wie „In welchen Müll gehören die blöden Folien?“ oder „Wie kriege ich meine Höhlenwand wieder sauber?“

Was mit wenig Aufwand funktioniert, lässt sich mit viel Aufwand perfektionieren. So sind manche Kollegen wahre Meister darin, banalste Vorgänge wie etwa das Wechseln einer Kugelschreibermine mit reichlich klein geschriebenem Text, Grafiken, Animationen und Bildern auf vierzig Seiten und mehr aufzublasen, getreu der Regel „weniger ist weniger“. Auch ist es mittlerweile verpönt, Führungskräfte mit einem einfachen, knapp gehaltenen und auf die wesentlichen Punkte reduzierten Word-Dokument abzuspeisen, nein, es muss eine grafisch ausgefeilte Powerpoint-Präsentation sein, selbst wenn sie dem Chef nur schwarz-weiß ausgedruckt verabreicht wird. Vielleicht versteht er den Inhalt sonst nicht. Vielleicht haben die Kollegen auch nur Langeweile.

Doch die wahre Powerpoint-Hölle eröffnet sich alljährlich in diesen Tagen: je bunter und animierter Tannenbäume, Rentierschlitten, Weihnachts- und Schneemänner über den Bildschirm tanzen, desto schneller reagiert mein Löschfinger. Aber ich will mich nicht beklagen, das ist immer noch besser und wesentlich einfacher zu entsorgen als Jingle-Bells singende Postkarten.

Sicher scheint indes: dereinst wird das Ende der Welt nicht angekündigt werden durch missgedeutete Schriften vergangener Völker, sondern irgendwann durch eine riesige Powerpoint-Präsentation am Firmament. Animiert und bebildert.

Über Schulschwänze, Erdbeben und andere Wetterphänomene

Auch im Internet-Zeitalter ist das gedruckte Wort nach wie vor ein unverzichtbares Mittel zur Befriedigung des menschlichen Informationsbedürfnisses. Hier ein paar besonders eindrucksvolle Beispiele journalistischer Schreibkunst:

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(Quelle nicht mehr nachvollziehbar, vermutlich Welt Kompakt. Oder General Anzeiger Bonn. Auf jeden Falls eins von beiden.)

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(General Anzeiger Bonn)

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(General Anzeiger Bonn)

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(General Anzeiger Bonn)

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(Welt Kompakt)

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(General Anzeiger Bonn)

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(General Anzeiger Bonn)

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(Psychologie Heute)

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(Psychologie Heute)

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(General Anzeiger Bonn)

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(General Anzeiger Bonn)

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(General Anzeiger Bonn)

Homer Simpson meets Alle-mal-malen-Mann

Jede Berufsgruppe hat ihre Schattenseite: der Bauarbeiter den Eisregen, der Briefträger den Bullterrier, der Landwirt die Dürre, außerdem hat er überhaupt immer was zu meckern, der Eisenbahner die Jahreszeit an sich, der Lehrer den Elternsprechtag. Auch Büromenschen wie ich haben ihre regelmäßige Plage: die Besprechung, oder wie es zeitgemäß heißt: das Meeting.

Die im folgenden beschriebene Besprechung hat so nie stattgefunden, jedoch rechne ich täglich damit.

Dienstag, 11:32 Uhr
Über Outlook erhalte ich eine Besprechungsanfrage für Donnerstag, 13:00 bis 14:30 Uhr. Der Einladende sowie die weiteren eingeladenen Personen sind mir unbekannt, das Thema sagt mir nicht viel, könnte aber entfernt meinen Kompetenzbereich berühren. Da ich dann nichts besseres vorhabe, sage ich zu.

Donnerstag, 12:59 Uhr
Mit vollem Bauch und angenehmer Müdigkeit komme ich aus der Kantine und betrete den Besprechungsraum. Keiner da. Immerhin stehen Kaffee und Kekse auf dem Tisch. Ein bis drei Kekse gehen immer noch rein. Ich bediene mich und warte.

13:04 Uhr
Immer noch alleine. Dafür sind die Kaffeekanne halb und der Keksteller ganz geleert.

13:07 Uhr
Drei mir unbekannte Personen betreten den Raum, zwei Herren und eine Dame. Sie stellen sich mir vor, beim dritten Namen habe ich den ersten schon wieder vergessen. Hohler Phrasenaustausch, ich verhalte mich rezeptiv, tippe mit feuchter Fingerkuppe die letzten Kekskrümel auf, schenke mir Kaffee nach.

13:11 Uhr
Ein junger Mann, dessen Physiognomie entfernt an ein Frettchen erinnert, stürzt in den Raum, Laptop unter dem Arm, sagt „Sorry, die TelKo hat länger gedauert.“ Die drei anderen scherzen verständnisvoll, ich schaue vorwurfsvoll auf meine Uhr.

13:12 Uhr
Das Frettchen klappt sein Laptop auf, steckt das Kabel vom Projektor hinein. Die Projektionsfläche an der Wand schimmert blau, unten links steht „Kein Signal“. Nervöses Tippen auf der Tastatur, die Farbe der Projektionsfläche changiert zwischen dunkelgrau und altweiß, um schließlich wieder nach blau zu wechseln. Kein Signal.

13:13 Uhr
Vier vermutlich gut bezahlte Personen operieren an Laptop und Projektor, drücken Knöpfe, rufen sich hektisch Tastenkombinationen zu. Kein Signal. Ich schenke mir den Rest Kaffee ein. Male knollennasige Männchen in mein Notizbuch, eins ähnelt einem Frettchen.

13:16 Uhr
Ein allgemeines „Aaah!“ schreckt mich hoch: Die Verbindung Laptop – Projektor ist endlich hergestellt. Das Desktop-Foto eines kitschigen Sonnenuntergangs füllt die Projektionsfläche, das Frettchen erläutert auf Anfrage (nicht von mir) stolz, wann und wo es das Foto gemacht hat, so viel Zeit muss sein. Dann geht eine Powerpoint-Präsentation auf.

13:17 Uhr
Das Frettchen begrüßt die Anwesenden, dankt wortreich für das Erscheinen und dass es so kurzfristig geklappt hat, dann folgt eine Vorstellungsrunde. Ich darf anfangen, nenne westfälisch-knapp meinen Namen und meine Abteilung. Dann folgt die Dame neben mir, die auffallend an Lisa Simpson erinnert, die Stimme, die Frisur, alles, nur nicht so gelb. Dann der erste Herr, der mich spontan an Paulchen Panter denken lässt, nur nicht so rosa, eher blass die allgemeine Ausstrahlung. Schließlich der andere Herr, schwere Hornbrille, streng zurückgegeltes Haar, so könnte Herr von und zu Guttenberg in jungen Jahren ausgesehen haben, lange bevor er seine Doktorarbeit kopierte. Jeder nennt nicht nur seinen Namen, sondern auch seine genaue Funktion und ergeht sich in langen Wortgirlanden darüber, warum er sich auf dieses ,Meeting‘ gefreut hat und welche Erwartungen er daran knüpft. Zuletzt das Frettchen, das etwa genau so lange braucht wie die drei anderen zusammen.

13:22 Uhr
Die Begrüßungsrunde ist zu Ende, ich habe alle Namen, Funktionen und Erwartungen vergessen. Das Frettchen powerpointet zum Programm, der ,Agenda‘. Zehn zu besprechende Punkte liegen vor uns.

13:24 Uhr
Die Vorstellung der ,Agenda‘ ist abgeschlossen, es folgt Seite 1 der Präsentation. Vor meinem müden Auge flimmert ein Gemenge aus viel kleingeschriebenem Text und wirren Grafiken, welches in keinem akzeptablem Verhältnis zur Banalität des Inhalts steht.

13:26 Uhr
Das Thema ist sterbenslangweilig und betrifft meinen Arbeitsbereich nur marginal, doch bin ich zu höflich und zu müde, um aufzustehen und zu gehen. Die Kaffeekanne ist so trocken wie die Sahara und diese Besprechung.

13:34 Uhr
Ich kann nicht mehr folgen, ertrinke in einem Gelaber-Meer aus geschriebenen und gesprochenen Worten, auf dessen Wellen wirr Floskeln wie ,sportliche Timeline‘, ,Workaround‘, ,lessons learned‘, ,auf Kante genäht‘, ,Forecast‘, ,Storyline‘, ,gelebte Prozesse‘, ,Zeitfenster‘, ,Da sind wir fine‘ und ähnlicher Verbalunrat als kleine Gischtkronen tanzen.

13:41 Uhr
Die Tür geht auf, herein kommt ein voluminöser, glatzköpfiger Herr mit unfrohem Gesicht. Anscheinend kennt man sich, deshalb sieht er auch keine Notwendigkeit, sich vorzustellen.

13:42 Uhr
Das Frettchen bringt überschwänglich seine Freude zum Ausdruck, dass die Glatze es noch geschafft hat, und fasst das bisher besprochene noch einmal zusammen. Zurück zu Seite 1 der Präsentation. Spätestens hier klinke ich mich völlig aus, denke darüber nach, was ich dem Liebsten zu Weihnachten schenken soll, jedes Jahr dieselbe schwierige Frage. Ich male die O‘s auf der ausgedruckten Einladungs-E-Mail aus; da sie nur wenige O‘s enthält, anschließend die A‘s und U‘s, bei den I‘s wird es schwieriger. Vielleicht würde es sich über ein Frettchen freuen. Was fressen Frettchen eigentlich? Wie hält man die? Und: sind die zu irgendwas nütze, vielleicht das Fell, kann man die im Zweifel essen, wenn ja, wie bereitet man die zu? Und warum zum Teufel ist kein Kaffee mehr da?

14:14 Uhr
Ich kämpfe heftig gegen die Schwerkraft meiner Augenlider. Wir sind bei Punkt zwei der ,Agenda‘ angekommen, ein buntes Tortendiagramm wird heftig diskutiert. Während Guttenberg die Zahlen erläutert, bückt er sich halb unter den Tisch und zieht die Socken hoch, erst links, dann rechts. Schon immer frage ich mich, was erwachsene Männer dazu treibt, sich in Besprechungen die Socken hochzuziehen. Klar, eine Übersprungshandlung, aber für was?

14:36 Uhr
Schwanke zwischen einer Armbanduhr und einer Essenseinladung ins Edelrestaurant. Die Konzertkarten im letzten Jahr kamen nicht so gut an, auch wenn er es nicht gezeigt hat, aber ich spüre so etwas. Wozu braucht man eigentlich Weihnachtsgeschenke? Vielleicht sollte ich ihm einfach den Vorschlag machen, wir schenken uns dieses Jahr nichts. Während ich das 82. Haus-vom-Nikolaus in mein Notizbuch male, fallen mir die Augen endgültig zu.

14:38 Uhr
Homer Simpson betritt den Raum, setzt sich neben Paulchen Panter, blickt auf den leeren Keksteller und fragt nach Donuts. Lisa ruft ihren Vater zur Ordnung. Als das Frettchen versucht, die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf die Präsentation zu lenken, ruft Homer „Laaaangweilig!“

14:40 Uhr
Die Tür geht langsam auf, der Alle-mal-malen-Mann* kommt rein und stellt seine typische Frage: „Soll ich euch alle mal malen hier? Nur zwei Euro pro Nase!“ Da keiner Widerspruch erhebt, kramt er seinen Zeichenblock aus der abgewetzten Aktentasche und beginnt zu malen.

14:43 Uhr
Plötzliche Stille, nur noch das Rauschen des Projektors im Raum. Ich öffne die Augen und merke, dass alle Blicke auf mich gerichtet sind, offenbar erwartet man, dass ich was sage. Homer und der Alle-mal-malen-Mann sind verschwunden. „Wie schätzen Sie das Vorgehen fachlich ein?“, fragt mich das Frettchen. Wenn ich nur wüsste, was der Gegenstand der Frage war. „Nun“, setzte ich an und räuspere mich bedeutungsvoll, „grundsätzlich kann man das so machen, aber ich würde mich gerne innerhalb meiner Abteilung dazu abstimmen.“ Merke erst jetzt, dass die Besprechung schon fast eine Viertelstunde über der Zeit ist. Die Rettung. „Oh“, rufe ich mit bedeutungsvollem Blick auf meine Uhr, „ich muss weg, Folgetermin. Sie bekommen von mir so schnell wie möglich eine Rückmeldung, ja?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, eile ich zur Tür raus. Im Flur stolpere ich über ein altertümliches Fahrrad. Während ich mich auf die Fresse lege, sehe ich aus den Augenwinkeln durch eine offene Bürotür, wie der Alle-mal-malen-Mann Homer Simpson porträtiert.

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Für Nicht-Bonner: Hierbei handelt es sich um den stadtbekannten und -beliebten Rentner Jan Loh, der seit Jahr und Tag Bonner Kneipen, Cafés und Biergärten aufsucht und den anwesenden Gästen anbietet, sie gegen ein geringes Entgelt (Zitat Loh: „Woanders zahlt ihr dafür tausend Euro!“) zu malen. Dass die so porträtierten hinterher allesamt eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, unterstreicht nur seinen künstlerischen Strich. Gegen Aufpreis deutet er auch Träume und Handschriften, angeblich bespricht er auch Warzen. Sein übliches Fortbewegungsmittel ist ein altes klappriges Fahrrad, an dessen Lenker die Aktentasche mit den Malutensilien hängt. 

Hier eine Kostprobe seines Könnens. Der rechts in der Mitte bin unschwer zu erkennen ich. Vielleicht war es auch unten links.

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Weitere Beweise seines Könnens hier: http://www.alle-mal-malen.de

Frühwerke: Das Auto – unser bestes Stück

Meine ersten Erfahrungen in der Bedienung eines Kraftfahrzeuges machte ich im Alter von elf oder zwölf Jahren mit dem VW-Käfer meines Cousins, auf dem Land bei den Großeltern, hundert Meter einen Feldweg runter und wieder rauf, neben mir mein großer Bruder und auf der Rückbank der Wagenbesitzer. Nachdem sie mir das Prinzip mit den drei Pedalen und dem Lenkrad grob erklärt hatten, käferte ich nach zweimal Motor abwürgen aufgrund unsensibler Kupplungsführung los, ja das machte Spaß. Nachdem ich den Käfer dann fast in den Acker gelenkt hatte, musste ich aussteigen. Blöde Spielverderber.

Ernst wurde es mit siebzehn, als ich meinen Führerschein machte. Spätestens während der ersten Fahrstunde im Berufsverkehr auf vierspuriger innerstädtischer Straße merkte ich: nein, das ist nichts für mich, Freunde werden das Auto und ich wohl nie. Daran hat sich bis heute nichts geändert, für mich ist das Auto ein Fortbewegungsmittel ohne jeden Statuswert, weder fahre ich gerne, noch würde ich mich als einen guten Fahrer bezeichnen.

Der nachfolgende Text entstand 1985 kurz nach der – immerhin auf Anhieb bestandenen – Führerscheinprüfung. Auch nach all den Jahren hat er an Aktualität wenig eingebüßt.

(Zum Lesen bitte groß klicken.)

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Immer zu kalt

Irgendetwas muss bei meiner persönlichen Temperatureinstellung gründlich schief gelaufen sein. Schon als Kind fror ich beim leisesten Lufthauch, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Vielleicht lag es daran, dass ich ein sehr dünnes Kind war – den Satz „Du musst mal was auf die Rippen kriegen“ hörte ich mindestens so oft wie „Du bist aber groß geworden“ und „Iss wenigstens das Fleisch auf“ zusammengenommen; wenn ich in den Park ging, kamen die Enten angewatschelt und wollten mich füttern.

Während die anderen Kinder in des Frühlings erster Wärme schon in kurzen Hosen (meistens Modell Seppel-Lederhose) und T-Shirts herumliefen, trug ich noch lange Hose und Pulli. Besonders extrem waren die Kinder in der Engländer-Siedlung: schon wenn im Februar mal die Sonne raus kam und normal temperierte Menschen sich noch in dicke Winterjacken hüllten, liefen sie herum wie ich maximal im Hochsommer, hier und da blaue Frostbäulchen an Armen und Beinen schienen sie nicht zu stören.

Wenn das Thermometer dann doch endlich die dreißig Grad erreichte, konnte auch ich Mamas Drängen „Nun lass doch mal Luft an deinen Körper“ nicht widerstehen und stieg widerwillig in dieses sperrige Lederteil mit dem beeindrucken Hosenstalltor und den albernen Hosenträgern. Das ging auch gut. Bis es Abend wurde und die Sonne sich langsam senkte. Ein leichter Abendhauch, der selbst den Rauch meiner Zigarette kaum ablenkte, schon zierte eine Gänsehaut meine dürren Spillerärmchen und die kleinen Härchen darauf stellten sich senkrecht.

Als besonders leidvoll sind mir die Familienurlaube in Büsum an der Nordsee in Erinnerung geblieben. Nicht nur, weil dort permanent ein mehr oder weniger kühler Wind weht, vor allem das Meer war mein Feind. Bei Ebbe war alles gut, vor unserem Strandkorb erstreckte sich das Watt, wo ich nach Muscheln und Würmern buddeln konnte, während das Wasser in sicherer Entfernung am Horizont vor sich hin plätscherte und Krabbenfischer malerisch darauf kutterten. Doch aufkommende Flut beendete den Frieden, bald schwappte die grau-kalte Brühe gegen den Deich. Während mein großer Bruder es kaum erwarten konnte, sich todesmutig in die Fluten zu stürzen (er war schon immer der härtere von uns), musste ich unter Geschrei meinerseits an Armen und Beinen ins Wasser gezerrt werden, wo Kälte, Quallen, Krebse und anderes Getier nur darauf warteten, mich zu quälen.

Erst wenn die Blaufärbung meiner Lippen ins Violette schlug, hatte meine liebe Familie ein Einsehen, dass es nun genug war und ich wieder zum Auftauen, in Tücher gewickelt, in den Strandkorb durfte. Nordsee ist Mordsee, nicht nur der Titel eines Films, sondern die pure Wahrheit.

Doch zwischen Eismeer und Strandkorb gab es noch eine Folterstation: An den Treppenaufgängen vom Watt standen Holzkübel mit Süßwasserduschen, wo man nach der Badequal das Meerwasser abzuspülen konnte. Ich weiß nicht, wie die Büsumer Kurverwaltung das hinbekam, aber dieses Süßwasser war noch einmal mindestens zehn Grad kälter als das Meer. Schon damals war Waterboarding ein probates Mittel, um jeden kindlichen Willen zu brechen.

Ortswechsel. Ich werde nie verstehen, warum auf Kneipentoiletten zu jeder Jahreszeit das Fenster auf Kipp stehen muss. Gewiss, rein olfaktorisch mag einiges dafür sprechen, aber was, wenn man mal muss? Beim kleinen Geschäft ist das ja noch nicht so schlimm, jedenfalls für uns Männer; güldene Eiskristalle im Pinkelbecken entbehren ja nicht einer gewissen Ästhetik, vorausgesetzt, man trifft es mit den wenigen Zentimetern, die ob der Kälte noch zur Verfügung stehen. Doch was, wenn man eine Frau ist und/oder mal ,groߑ muss? Kaum sitzt man, schon ist man an der Klobrille festgefroren.

Ich benötige eine warme Umgebung zum Überleben. Daher habe ich für Skiurlaube etwa so viel Verständnis wie für Menschen, die Löcher in einen zugefrorenen See hacken, um darin zu baden. Der einzige Ort, an dem ich Kälte akzeptiere, ja fordere, ist mein Bierglas.