Rischenkrug

Vorbemerkung: Im Folgenden die kürzlich angekündigten Kindheitserinnerungen. Es ist etwas länger geworden, insofern habe ich volles Verständnis, wenn Sie es nicht bis zum Ende lesen mögen. Gleichwohl war es mir ein Bedürfnis, es aufzuschreiben.

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Das portugiesische Wort „Saudade“ bezeichnet die melancholische Sehnsucht nach jemandem oder etwas, den/das man vermisst und der/das für immer verloren ist. Ein geliebter Mensch, der nicht mehr ist. Das gestohlene Fahrrad. Oder ein Ort, den es nicht mehr gibt, wobei ein Ort an sich ja selten verschwindet, vielmehr kann er sich im Laufe der Zeit so stark verändern, dass er mit dem vermissten nichts mehr gemein hat.

Ein solcher Ort war der Rischenkrug. So nannten wir das Haus unserer Großeltern bei Göttingen, auch wenn das nicht ganz korrekt war, denn der eigentliche Rischenkrug war ein Landgasthof in Sichtweite. Dazwischen das Schrankenwärterhaus „Posten 119“, früher „Blockstelle Rischenkrug“, der Bahnstrecke Göttingen – Dransfeld – Hannoversch Münden. Das Haus der Großeltern stand direkt am Bahngleis, es gehörte der Deutschen Bundesbahn und war früher das amtliche Wohnhaus des Bahnbeamten gewesen. Zu dem Haus gehörten ein Stallgebäude, wo früher Schweine gewohnt hatten, eine Garage, ein Backhaus aus Wellblech und ein hölzerner Hühnerstall. Die Eisenbahner auf dem Land waren einst Selbstversorger gewesen, deshalb gab es auch noch einen großen Gemüsegarten und Obstbäume.

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(Das Gesamtensemble im Überblick: Links das Schrankenwärterhaus, rechts das Wohnhaus mit der Linde daneben, davor links der Schweinestall und rechts die Garage, rechts davon schwach zu erkennen der Hühnerstall, im Vordergrund der Garten. Das Backhaus denken Sie sich bitte als rostige Wellblechbude links neben dem Hühnerstall, also von hier aus gesehen hinter der Garage.)

Ich liebte den Rischenkrug, auch wenn seine große Zeit längst vorüber war: Schweine, und Hühner gab es dort schon lange nicht mehr, nur noch eine Katze, die mittags die Reste vom Essen bekam; die Nebengebäude dienten der Aufbewahrung von Brennholz und allerlei Gerümpel, mein Großvater konnte sich schlecht von Sachen trennen, wer weiß, wozu man es noch gebrauchen konnte. Dadurch gab es für uns Kinder immer was zu entdecken.

Das Haus hatte weder Zentralheizung noch ein Bad mit fließend Warmwasser, wie es für uns heute selbstverständlich ist. Im unteren Geschoss wurde mit Holzöfen geheizt, im oberen gab es immerhin eine elektrische Nachtspeicherheizung. Die Öfen übten auf mich eine besondere Faszination aus. Im Winter wurde ich ungefähr im Halbstundentakt gemahnt: „Carsten, nicht so viel auflegen!“ In der Waschküche stand ein großer holzbefeuerter Waschkessel, der an Badetagen (also einmal in der Woche) angeheizt wurde. Dann wurde das warme Wasser mit dem Eimer in eine lange Zinkwanne gegossen, in der wir dann nacheinander badeten.

Besonders angetan war ich von der Bahnlinie und den Schranken, auch wenn nur noch sehr wenige Züge fuhren: einer morgens früh gegen sieben, zwei mittags und einer abends um fünf, sonntags gar keiner. Der Zug morgens war anfangs sogar noch mit einer Dampflok bespannt, daher kroch ich, wenn ich die Schrankenglocke hörte, aus dem Bett, ging ans Fenster und war beeindruckt, wenn die große schwarze Lok die Steigung aus Richtung Göttingen heraufgedonnert kam, und groß war die Enttäuschung, wenn es doch nur eine Diesellok war.

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(Dieses Bild entstand lange vor meiner Zeit, aber so ungefähr war es.)

Auch sonst lief ich immer vor das Haus, wenn die Schranken sich senkten, um den Zug zu sehen, zum Missfallen meines Großvaters, wenn wir gerade zu Mittag aßen. Ich bin mir sicher, daher kommt meine heute noch bestehende Begeisterung für die „alte“ Eisenbahn mit Dampfloks, gekurbelten, bimmelnden Schranken, Telegrafenleitungen und dem „Tacktack-tacktack“ verschraubter Schienenstöße.

Die Familie meiner Mutter war aus dem ostpreußischen Elbing geflüchtet, nach dem Krieg kamen sie mit neun Personen, also die Großeltern, meine Mutter und ihre sechs Geschwister in dem Bahnwärterhaus unter. Aus heutiger Sicht unvorstellbar, denn so groß war es nicht. Insgesamt drei Stockwerke: Ganz unten über den Hof die Waschküche, dahinter ein Gewölbekeller für Vorräte, ein weiterer diente in früheren Jahren als Ziegenstall. Den Wohnbereich erreichte man über zwei Außentreppen, eine vorne vom Hof aus, die andere neben der Waschküche zum Hintereingang. Die beiden Eingangstüren befanden sich in einem Vorbau, wo auch die Toilette war, für die die Bezeichnung „Bad“ völlig übertrieben gewesen wäre. Immerhin: Der Vorbau war erst später angebaut worden, zuvor musste man zur Verrichtung der Notwendigkeiten auf den „Donnerbalken“ im Stallgebäude gegenüber dem Hof, was wohl nicht nur nachts und im Winter wenig Anlass bot, dort bei guter Lektüre länger zu verweilen als unbedingt nötig. Das weiß ich nur vom Erzählen, ich selbst kenne das Haus nur mit dem Vorbau und integriertem Klo.

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Hinter dem Vorbau lag die Küche mit holzbefeuertem Herd. Durch die Küche gelangte man ins Esszimmer mit dem großen Tisch, dahinter war die „gute Stube“, wo auch der Fernseher stand. Wenn man dort aus dem Fenster schaute, blickte man direkt auf die Bahngleise.

Von der Küche aus führte eine mit Holzbrettern eingehauste Treppe ins Obergeschoss, wo sich drei weitere Räume befanden: das Zimmer meiner Tante B, in dem früher ein Räucherschrank gestanden hatte (auch das gehörte wohl zum bahnamtlichen Selbstversorgerprinzip), eine Art Gästezimmer, wo wir immer schliefen, wenn wir dort waren, und das Schlafzimmer der Großeltern. Da mein Großvater nicht mehr gut laufen konnte, stand unter seinem Bett ein Nachttopf. Den entleerte er morgens im hohen Bogen aus dem Fenster in den Garten, wo der Sandkasten für uns Kinder war. Offenbar habe ich dadurch keinen Schaden genommen, so früh wie Opa immer aufstand spielte ich noch nicht im Sand.

Einen Dachboden gab es auch, der weitgehend ungenutzt blieb, weil man nur auf recht abenteuerliche Weise durch eine kleine Luke dorthin gelangte, indem man auf die Treppe zum Obergeschoss eine lange Leiter stellte, besonders ängstlich durfte man dazu nicht sein.

Neben dem Haus, bei der Eingangstür vom Hof, stand eine große Linde mit einer hölzernen Sitzbank rund um den Stamm, dort saßen wir im Sommer oft bis in den späten Abend. Auf der Bundesstraße war dann nur wenig Verkehr, aus dem Wald hörte man manchmal ein Käuzchen rufen. „Dann stirbt bald einer“, raunte man. Zum Glück lebten am nächsten Tag alle noch.

Die Großeltern waren herzensgute Leute, fromm, sparsam, geduldig mit uns Kindern, ihre Herkunft am ostpreußischen Klang ihrer Sprache („was-chen?“ – „Lorbas!“) unverkennbar. Auch optisch wie aus dem Bilderbuch: Oma mit klassischem Dutt verbrachte wohl achtzig Prozent ihrer wachen Lebenszeit im geblümten Küchenkittel, Opa trug tagsüber einen grauen Arbeitsanzug, dazu eine alte Eisenbahnermütze, da er früher, lange vor meiner Zeit, bei der Bahn war, nebenan auf der Blockstelle. Ich kannte ihn nur an Krücken gehend, wegen kaputter Hüften. Trotzdem war er immer beschäftigt, im Garten, mit Brennholz sägen oder Ausbessern von irgendwas. „Es gibt immer was zu tun.“ Wenn er mit den Krücken ging, summte er vor sich hin.

Viele Wochenende und manche Schulferien verbrachten wir dort, die meiste Zeit draußen: im Wald und in den Feldern, wo sich die Lerche einige Meter über dem Acker zwitschernd nicht von der Stelle zu bewegen schien. Wir bauten Staudämme im Graben neben dem Bahndamm, der wegen der Gülle vom Bauernhof nebenan immer nach Jauche roch, was uns nicht störte. Ich fing Schmetterlinge und sammelte sie in einem Marmeladenglas mit Luftlöchern im Deckel, ließ sie bald wieder frei, versuchte, Mäuse zu fangen, indem ich nach Opas Anleitung einen Eimer eingrub und ein mit Mehl bestreutes Holzbrettchen über den Rand legte, auf dass sie vom Mehl angelockt mitsamt dem Brettchen hineinstürzten, es kam aber keine. Wir sammelten Kartoffelkäfer und ihre Larven, halfen bei der Kartoffelernte, beerdigten Vögel, die die Katze getötet hatte, machten Feuer, wanderten zum „kleinen Tunnel“, einem schmalen Durchlass durch den Bahndamm nicht weit vom Haus entfernt (es gab auch einen „großen Tunnel“, weiter entfernt und nur über einen fast zugewachsenen Weg neben dem Bahndamm zu erreichen), aßen im Garten Möhren direkt aus der Erde, kurz unter der Schwengelpumpe am Brunnen gereinigt, Pflaumen direkt vom Baum und Erbsen vom Strauch. Nichts lässt Lichter meiner Kindheit heller aufleuchten als das Geruchsgemisch aus Brennnesseln, Jauche und Bahnschwellen und der Geschmack von Erbsen direkt aus der Schote.

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(Mein Bruder und vermutlich Cousin F bei der Kartoffelernte, die Dame im Hintergrund könnte meine Mutter sein.)

 

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(Dieses Bild entstand einige Jahre später augenscheinlich an einem Sonntag. Soweit ich mich erinnere war die „Stoffhose“ äußerst kratzig an den Beinen, aber sonntags musste man derartiges Unbill ertragen.)

 

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(Dieses demnach auch. Der Holzschuppen hinter dem linken Stommast ist der ehemalige Hühnerstall, dahinter das ebenfalls ehemalige Backhaus. Ganz rechts der Bahndamm.)

Einmal, ich war nicht weit vom Haus entfernt, sah ich auf dem Weg neben dem Bahndamm einen großen Schäferhund auf mich zulaufen. So schnell ich konnte lief ich zum Haus und über die hintere Treppe hinein. Wie ich später erfuhr, hatte der Hund danach seinen Besitzer, den Bruder des Bauern nebenan, gebissen und schwer verletzt, woraufhin er getötet wurde, also der Hund, nicht der Bruder.

Besonders schön war immer Ostern, wenn die ganze Verwandtschaft am Rischenkrug zusammenkam. Am Samstagabend gabs ein großes Osterfeuer am Bahndamm, das meine Onkel die Wochen zuvor auftürmt hatten und meinem Großvater Gelegenheit verschaffte, diverse Abfälle zu entsorgen, selbst alte Blecheimer wurden von den Flammen verzehrt. Wenn das Feuer runtergebrannt war, rösteten wir an Stöcken in der Glut Kartoffeln. Am Sonntag wurden für uns Kinder im Wald oder im Garten Eier und Osternester versteckt. Das Suchen und Finden war immer ein großes Vergnügen, auch später noch, als ich der Existenz des Osterhasen schon mit gewisser Skepsis begegnete.

Meine Großeltern hatten hatten einen alten Bollerwagen aus Holz. Wenn man die vordere Stirnwand herausnahm, konnte man sich hineinsetzen und ihn mit den Beinen über die Deichsel lenken, wenn er bergab rollte. Der Hof war leicht abschüssig, wenn man den Wagen bis zur Einfahrt an der Straße zog, konnte man sich ungefähr bis zum Hühnerstall rollen lassen, wo er nach weniger als einer Minute zum Stehen kam.

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(Rechts mein Bruder, die beiden anderen müssten meine Cousins J (links) und F sein, ich bin mir nicht ganz sicher. Im Hintergrund das Schrankenwärterhaus.)

Das machte Spaß, genügte meinem Bruder und Cousin J (oder F) jedoch nicht, sie waren ja auch schon älter und mutiger. Daher zogen sie den Wagen auf dem Feldweg neben dem Schweinestall die Anhöhe Richtung Klein Wiershausen hoch, eine Strecke von mehreren hundert Metern mit einer beachtlichen Neigung. Dann gings los: der Cousin vorne, mein Bruder hinten, ich wurde in der Mitte platziert. Der Wagen nahm Fahrt auf, da er über keine Bremse verfügte immer schneller. Bald verlor der Cousin die Gewalt über die Lenkung und wir kamen vom Weg ab. Mein Bruder sprang ab, der Wagen neigte sich zur Seite und blieb schließlich, abgebremst durch Stachel- und Johannisbeersträucher, am Gemüsegarten stehen. Zum Glück war er nicht umgekippt, daher kamen Mensch und Material nicht zu größerem Schaden, nur die Sträucher büßten einige Zweige ein. Ob es deswegen später noch ein (groß-)elterliches Donnerwetter gab, weiß ich nicht mehr.

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Der Niedergang des Rischenkrugs begann mit der Ankündigung der Bundesbahn, sie beabsichtige, das Haus abzureißen, weil es für irgendwas im Weg war, was auch immer; weder wurde die Straße verbreitert noch erhielt die Bahnstrecke ein weiteres Gleis, im Gegenteil, dazu später mehr.

Die Großeltern und meine Tante kamen unter in einer großen Wohnung nebenan auf Obermanns Hof, in der ganz früher der Bruder des Bauern gewohnt hatte, der mit dem Schäferhund; danach war sie immer wieder an Studenten vermietet worden. Für Großeltern und Tante war das eine erhebliche Verbesserung, hatten sie nun ein richtiges Bad, wo warmes Wasser ohne aufwändiges Anheizen eines Waschkessels aus der Wand floss, und Zentralheizung.

Das alte Haus stand nach dem Umzug ein paar Wochen leer, einmal ging ich mit meinem Großvater durch die leeren Räume. Es war traurig, fast gespenstisch, sogar die beiden Öfen im Erdgeschoss, die ich im Winter so gerne gefüttert hatte, waren weg, nur jeweils ein rundes, dunkles Loch in der Wand darüber kennzeichnete ihre früheren Standplätze.

Den Abriss schilderte mein Großvater so: Zunächst wurden der Vorbau, der Schweinestall und das Backhaus konventionell mit dem Bagger abgeräumt. Für das Haus wählte man – warum auch immer, vielleicht wegen der Bahnstrecke daneben – eine ungewöhnliche Methode: Man fädelte ein langes Stahlseil hindurch, über alle Etagen, und befestigte es an einer Planierraupe. Die Raupe sollte das Seil vom Haus wegziehen und es so zum Einsturz bringen. Das klappte nicht auf Anhieb – beim ersten Anlauf riss das Seil und umherfliegende Teile verletzten einen Arbeiter, so dass der Krankenwagen kommen musste. Danach hatten sie offenbar alles richtig gemacht, das Haus gab nach über hundert Jahren seinen Widerstand auf und stürzte auf den Hof, den Rest erledigte der Bagger. So richtig glauben kann ich das bis heute nicht, das Haus war massiv mit sehr dicken Außenwänden gebaut gwesen, andererseits neigte mein Großvater im Allgemeinen nicht zu Lügenmärchen. Eins weiß ich indes sicher: Es hätte mir das Herz gebrochen, hätte ich es mit ansehen müssen.

Als wir danach das nächste Mal am Rischenkrug waren, bot sich ein trauriges Bild: Auf der Anhöhe, wo das Haus gestanden hatte, stand nur noch die große Linde, von der Sitzbank rund um den Stamm befreit. Nur die Garage und der Hühnerstall waren vom Bagger verschont geblieben, den Garten, der vorerst weiter genutzt wurde, gab es auch noch. Ich war immer noch gerne am Rischenkrug, wenngleich es nun nicht mehr derselbe war wie vorher. Auch auf Obermanns Hof gab es einiges zu entdecken, zusammen mit den beiden Töchtern des Hauses, C, einige Jahre jünger als ich, und D, ein Jahr älter, ein richtiger „Kumpel“. Der Hof hatte seine besten Jahre lange hinter sich, vieles wirkte verfallen, schmutzig, voller Gerümpel. Wobei er immer noch bewirtschaftet wurde, abends kam der Tanklastwagen von der Molkerei und holte die Milch-Tagesproduktion ab.

„Opa Rischenkrug ist gestorben“, sagte meine Mutter, als ich mittags aus der Schule kam, ziemlich plötzlich und unerwartet, wie es in Todesanzeigen heißt. Während die Eltern meiner Mutter bei uns „Oma und Opa Rischenkrug“ genannt wurden, mussten die beiden anderen ohne Namenszusatz auskommen, sie waren einfach „Oma und Opa“. Ich war sehr traurig, mit ihm verschwand ein wichtiger Mensch aus meinem Leben, zudem mein zweiter und letzter Großvater, nachdem der andere schon ein paar Jahre vorher gestorben war, was mich noch mehr berührt hatte, vielleicht weil er und Oma mit bei uns im Haus wohnten und ich ihn daher täglich sah, vielleicht auch, weil das meine erste direkte Konfrontation mit dem Tod gewesen war.

Das nächste, was verschwand, war die Bahnstrecke. Kurz vor der Stilllegung konnte ich meine Eltern nach längerem Quengeln dazu bewegen, einmal mit mir im Zug am Rischenkrug entlang zu fahren, das erste, einzige und letzte Mal. Mein Vater brachte meine Mutter und mich mit dem Auto zum Göttinger Bahnhof, in Dransfeld holte er uns wieder ab. Am Rischenkrug stand er an der Schranke und wir winkten uns bei der Durchfahrt zu, damals konnte man bei Eisenbahnwagen noch die Fenster öffnen.

Nach der Stilllegung wurden als erstes die beiden langen Schranken abgebaut mit der Glocke, die mich so oft vor das Haus gelockt hatte. Die Gleise blieben noch einige Zeit liegen, daneben die Telefonmasten mit den weißen Porzellanisolatoren und den grün oxidierten Kupferleitungen. Das Schrankenwärterhaus fiel bald Vandalismus zum Opfer, aufgebrochene Türen, eingeschlagene Scheiben, selbst hier auf dem Land, wo sonst niemand wohnte und im zufälligen Vorbeigehen seinen Aggressionen freien Lauf ließ; wenig später wurde es abgerissen. Kurz zuvor holte ich mir die große dienstliche Merktafel heraus, die unbeschädigt blieb und heute in unserer Küche hängt.

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Schließlich wurden auch die Gleise und Telefonleitungen entfernt, zurück blieben ein Streifen aus braunem Schotter und alle hundert Meter ein Kilometerstein.

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Nachdem meine Tante, die noch immer bei ihrer Mutter wohnte, ihren künftigen Ehemann kennengelernt hatte, zog sie zu ihm nach Göttingen. Meine Großmutter lebte nun alleine in der für sie zu großen Wohnung. Daher zog sie nach Dransfeld in eine kleinere, nicht weit entfernt von meiner anderen Tante. Als auch das nicht mehr ging, weil sie alleine nicht mehr zurecht kam, zog sie ins Altenheim in Göttingen. Als sie dort schließlich starb, vielleicht etwas plötzlich, aber nicht besonders unerwartet, gab es schon lange keinen Grund mehr, zum Rischenkrug zu fahren, oder was davon noch übrig war.

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Was ist davon geblieben? Laut Karte steht die Garage noch, auch die Linde ist offenbar bislang weder Sturm noch Säge zum Opfer gefallen. Der Garten ging spätestens nach Wegzug meiner Großmutter im angrenzenden Acker eines Bauern aus Klein Wiershausen auf. Auf dem ehemaligen Bahndamm Richtung Göttingen verläuft ein Radweg, die Bahntrasse Richtung Dransfeld, die in einem tiefen Geländeeinschnitt verlief, hat sich die Natur zurück geholt. Den Hof gibt es auch noch, so weit ich weiß nicht mehr als landwirtschaftlichen Betrieb. Die namensgebende Gaststätte ist schon lange geschlossen, schon damals, als wir noch regelmäßig dort waren, kamen nur noch selten Gäste. Nur der kurze Abschnitte der Bundesstraße 3 und die Bushaltestelle heißen noch immer „Rischenkrug“.

Und sonst? Zahlreiche Fotos in Familienalben, die Merktafel von „Posten 119“ in unserer Küche, und viele Erinnerungen an glückliche Kindheitstage, die hiermit notiert und festgehalten sind, mit allen Unzulänglichkeiten, die Erinnerungen nach bis zu fünfzig Jahren aufweisen.

Woche 21: Nicht weniger leiden die Büropflanzen

Montag: Das sogenannte Bundesbüdchen ist nach rund zwanzig Jahren am vergangenen Wochenende in die Nähe seines früheren Standplatzes am ehemaligen Bundestag zurückgekehrt, wo es bis zum Umzug der „Politik“ nach Berlin der Nahversorgung diverser Bonner Politiker diente.

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Bei Bedarf kann man darüber streiten, ob die für die Wiederherrichtung erforderlichen 400.000 Euro vielleicht sinnvoller auszugeben gewesen wären, darüber möchte ich gar nicht befinden. Interessanter dagegen die Frage, wie lange es dauern wird, bis Irre das Häuschen beschmiert und beschädigt haben.

Dienstag: „Damit unterstützt die Bundesrepublik seine Wirtschaft in der aktuellen Corona-Krise mit mehr Geld als alle anderen EU-Staaten zusammen“, steht im General-Anzeiger. Wessen Wirtschaft, geht aus dem Artikel nicht hervor.

Wesentlich besser, auch weil fehlerfrei, gefällt mir dieser Satz von Prof. Clemens Albrecht, Universität Bonn: „Moralisierung des eigenen Lebensstils ist der erste Grad der Verspießerung.“

Mittwoch: „Das war für uns so nicht visibel“ las ich in einer Mail und habe wieder eine neue Variante gelernt, mehr Silben als erforderlich zu verwenden, um gebildet zu erscheinen.

„Am meisten leiden die Kinder“, heißt es oft. Nicht weniger leiden im Moment wohl die Büropflanzen, weil die, die sie sonst gießen, zu Hause arbeiten. An die denkt mal wieder keiner.

Donnerstag: Die Christen feiern heute Himmelfahrt, die Väter sich selbst, oder auch nicht; testosteronlautes Bollerwagengeziehe erscheint ja im Moment unangebracht. Was feiern christliche Väter? Egal, verkomplizieren wir das ganze nicht unnötig.

Ich blieb lieber zu Hause, wo ich auf dem Balkon einen vor mehreren Tagen begonnenen Aufsatz über Kindheitserinnerungen an einen Glücksort zu Ende brachte. „Ich merke, meine ursprüngliche Absicht, [dem Thema] einen 10-Minuten-Aufsatz zu widmen, lässt sich nicht umsetzen, zu viel fällt mir dazu ein, das aufgeschrieben sein will, wobei das Glücksgefühl beim Aufschreiben fast so groß ist wie das, welches ich als Kind dort empfand.“ Den Rest gibts irgendwann demnächst hier zu lesen.

Freitag: „Audi – das sind doch die Sozenkarren von dem Schröder, das sieht man schon an den vier Ringen, für jede Ehe von dem einer. Eigentlich müssten es fünf sein, aber die wissen noch nicht, wohin mit dem fünften.“ Die Weltanschauungsideen des Geliebten müssen sich hinter den aktuellen Verschwörungstheorien keineswegs verstecken.

Samstag: »Die „Bussi-Bussi-Gesellschaft“ hat sich ausgeküsst, ein Umstand, den manche klammheimlich begrüßen, die überschwengliche Begrüßungsrituale von entfernteren Bekannten und sich gar nicht so Nahestehenden stets als übergriffig empfunden haben, aber ein Nein nicht auszusprechen wagten«, steht im General-Anzeiger. Ich fühle mich gemeint, wobei von „klammheimlich“ keine Rede sein kann, ich bekenne, dieses Getue überhaupt nicht zu vermissen. Sich für irgendetwas gegenseitig abzuklatschen ist im Übrigen auch so eine ebenso dümmliche wie überflüssige Geste, die bei der Gelegenheit gleich mit entsorgt gehört.

Dank rechtzeitiger Einschränkung der Einschränkungen verbrachten wir, wie schon länger geplant, das Wochenende an der Mosel mit Hotelübernachtung in Brauneberg, einem kleinen Ort, dessen pittoreske Anmutung einem Fotografen wohl die Motivklingel anschlagen und manchen Maler zum Pinsel greifen ließe.

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Wenn auch vielleicht nicht an allen Stellen, jedenfalls bliebe nachfolgendes Motiv in den Ansichtskartendrehständern einschlägiger Geschäfte vermutlich länger vorrätig.

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Abends im aus unserer Sicht ausgezeichneten Hotelrestaurant gewährten die Gäste am Nebentisch einen Blick auf die Schattenseite menschlichen Umgangs. Vorausschicken muss ich, da das Hotel erst am Montag zuvor seinen Betrieb wieder aufgenommen hat, war es personell schwach besetzt: das sehr freundliche Betreiber-Ehepaar und ein Koch. Nach dem Essen nun baten diese Gäste die Dame des Hauses an den Tisch, um ihr freundlich gemeinte „konstruktive Kritik“ zukommen zu lassen. Erstens: Man habe es versäumt, Brot zu bringen. Zweitens, beim Frühstück sei das doch bestellte Rührei nicht serviert worden. Unfreundlich waren sie dabei nicht, aber: Was ist so schwer daran, kurz nach dem Vermissten zu fragen, anstatt es hinterher für alle im Raum hörbar als „konstruktive Kritik“ anzubringen? Merke: Ratschläge sind auch Schläge.

Sonntag: Während der Rückfahrt nach Hause hörte ich zum ersten Mal nach Längerem wieder Bundesliga-Berichterstattung im Radio. Was habe ich das nicht vermisst.

Zum Schluss noch was mit Liebe, gelesen in der aktuellen Ausgabe der PSYCHOLOGIE HEUTE: „Ebenso wie zum Glauben gehört zur Liebe das Mysterium des Nichtverstehens.“ Und: „Sexualität ist ein Medium der Kommunikation.“ Stimmt schon, wir sollten mehr miteinander reden. In diesem Sinne wünsche Ihnen eine angenehme neue Woche mit viel Liebe und erbaulicher Kommunikation.

Woche 20: Kontaktpersonennachverfolgung

Montag: Es mag Zeichen einer gewissen Weicheiigkeit meinerseits sein, die ich gar nicht in Abrede zu stellen versuche, jedenfalls nutzte ich heute wegen Regens zum ersten Mal seit sieben Wochen statt Fahrrad wieder die immer noch ziemlich leere Stadtbahn, um ins Werk zu gelangen, selbstverständlich mit der vorgeschriebenen Schutzmaske.

Ziemlich leer blieben auch die Plätze der Außengastronomie, die seit heute wieder öffnen darf, was ich in erster Linie auf das unfreundliche Wetter zurückführe. Wie auch immer – schön, dass sie wieder geöffnet haben. (Ich erspare mir und Ihnen hier einen Satz, in dem „ein Schritt in Richtung Normalität“ vorkommt.)

Der normale Wahnsinn auch im Werk: „Ich schicke euch dazu noch Slides und Co.“, sagt der Projektleiter.

Dienstag: „Heute Abend hätte ich gerne überbackene Camembertspitzen mit Preißelbeeren“, sagte der Geliebte am Morgen. Anscheinend hatte er wieder was Komisches geträumt. Oder wir sollten ihn nicht immer so verwöhnen.

Dass die Österreicher einen sehr speziellen Humor haben, wissen wir spätestens seit der Krimiserie „Kottan ermittelt“. Ein weiterer Beleg geht aus Pressemeldungen (nicht im Postillon) hervor, demnach dürfen in Österreich Blasmusiker wieder spielen – mit Mundschutz. Vielleicht sind unter derselben Voraussetzung bald auch Pornoproduktionen wieder erlaubt.

„Bleib stark – kauf vor Ort“, las ich abends in den Schaufenstern mehrer Geschäfte in der Innenstadt. Während ich überlegte, was das eine mit dem anderen zu tun hat, ob es sich nicht vielmehr gegenseitig ausschließt, erfordert es doch für viele Menschen eine gewisse Stärke, gerade nichts zu kaufen, sah ich vor der Filiale einer großen Textilkette junge Menschen in einer langen Schlange stehen. Da verstand ich.

Irritierende Bildunterschrift in der Zeitung: „Die Villa am Kurpark in Bad Godesberg blickt auf fast 50 Jahre erfolgreiches Lernen zurück.“ Was mag sie in der Zeit gelernt haben?

Mittwoch: Immer wieder möchte ich aus der Haut fahren, wenn in einer Besprechung für Zuspätkommer alles bisher Gesagte nochmal wiederholt wird.

Aus der Haut fahren wollte auch eine Kollegin, nur drückte sie es etwas anders aus: „Da kriege ich Schnappgeräusche!“, sagte sie. Eine Kostprobe ersparte sie uns freundlicherweise, auch wenn das bestimmt einen gewissen Unterhaltungswert gehabt hätte.

Wer glaubt, das Attribut „atmungsaktiv“ sei bestimmten Kleidungsstücken vorbehalten, irrt. Laut Mitteilung des Chorverbandes sind Proben in „atmungsaktiven Fächern“, insbesondere Gesang und – im Gegensatz zu Österreich – Blasinstrumente, bis auf weiteres nicht erlaubt. Somit sind meine freien Abende mittwochs und donnerstags erstmal gesichert, was zu beklagen mir fernliegt.

Donnerstag: Seit einigen Wochen bietet die Kantine nur Essen zum Mitnehmen in eingeschränkter Auswahl an, ich berichtete. Hatte man sonst die Wahl zwischen sechs oder sieben Gerichten plus Pizza, großer Salatbar und Dessertbuffet, gibt es nun neben Pizza und fertig portioniertem Salat genau ein täglich wechselndes Tagesgericht, das ich konsequent nehme. So esse ich ab und zu Sachen, die ich früher wohl eher nicht gewählt hätte, und stelle fest: Vor allem die vegetarischen Gerichte schneiden geschmacklich sehr gut ab. Nur die Dessertauswahl vermisse ich etwas.

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Vor der Kantine begegnete mir einer, der in Anzug und mit Krawatte völlig aus der Zeit gefallen schien.

Freitag: Die gute Nachricht des Tages verkündet, ab kommender Woche kann man wieder in der Kantine essen, wenn auch mit eingeschränktem Angebot und unter den bekannten Abstandsregelungen.

Zufällig entdeckt: Die Mutter aller Imagefilme.

Samstag: Seit einiger Zeit fühle ich mich beim Duschen irgendwie beobachtet.

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Abends aßen wir erstmals seit Wochen wieder in einem Restaurant in der Innenstadt, was hatte ich mich darauf gefreut! In der Annahme, andere freuten sich ebenso, hatte ich tagsüber extra für uns reserviert und erwartete abends ein im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten volles Haus. Jedoch war erstaunlich wenig los, was mich etwas irritierte. Trauen sich die Leute noch nicht?

Sonntag: Das erste Weizenbier unter freiem Himmel, auf das ich mich nicht minder gefreut hatte, nahm ich heute im Rahmen des Sonntagsspaziergangs auf dem Münsterplatz zu mir.

Zuvor muss man zur „Kontaktpersonennachverfolgung“, ein wunderbares Wort, einen Zettel ausfüllen mit Name und Telefonnummer. Die Richtigkeit der Angaben wird nicht geprüft, man könnte also irgendwas schreiben, mache ich natürlich nicht. Schräg hinter mir saßen zwei an einem Tisch. Als ein dritter dazukam, fragte die Bedienung: „Wohnen Sie zusammen?“ Vor kurzem hätte das zur Gegenfrage „Was geht Sie das denn an?“ geführt, heute ist es selbstverständlich.

Mit einer neuen Selbstverständlichkeit gab ich dem Bettler, der an meinen Tisch trat, einen Euro, weil ich annehme, die haben es jetzt besonders schwer. Vielleicht ist das Unsinn, leicht hatten die es vorher auch nicht.

Skurril: Ein Mann lief in Socken über den Platz, seine Schuhe trug er materialschonend an den Schnürsenkeln baumelnd in der Hand. Vielleicht ein Leisetreter.

 

Woche 19: Schädliche Zurückhaltung und zweifelhafte Charaktere

Montag: Die Vorsitzende des Verbandes der Deutschen Automobilindustrie heißt Hildegard Müller, womit widerlegt ist, man benötige einen ungewöhnlichen Namen, um es im Leben zu was zu bringen. Laut Zeitungsbericht findet Frau Müller, wir müssten mehr Autos kaufen, dazu fordert sie staatliche Kaufprämien für Kraftfahrzeuge. Andernfalls drohe „eine für die Industrie schädliche Zurückhaltung der Konsumenten“. Schöner kann man die Perversion unserer Konsumkultur kaum auf den Punkt bringen.

Die Bestellbestätigungsmail der Kantine endet mit „Bleiben Sie gesund“. Einen Zusammenhang mit der Qualität der Speisen unterstelle ich nicht, kann ihn aber nicht völlig ausschließen.

Lockerungen auch im Bundesviertel: Der Altkanzler kann wieder unmaskiert das Brausen der Bundesstraße betrachten, vgl. Eintrag vom vergangenen Montag.

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Dienstag: Schädliche Zurückhaltung der Konsumenten muss die Rüstungsindustrie nicht beklagen, irgendwo ist schließlich immer Krieg – die deutschen Kriegswaffenexporte sind um vierzig Prozent gestiegen, vermutlich ohne staatliche Kaufprämien. Da staunen die armen Autohersteller. Vielleicht sollten sie Panzer und Kampfflugzeuge ins Programm aufnehmen, am besten mit umweltschonenden Elektroantrieben.

Vorschlag für das Unwort des Jahres: „Nukleare Teilhabe“.

Abends war ich beim Friseur, der mich abwechselnd siezte und duzte, was mich nicht störte, das Ergebnis ist trotz Maskenpflicht zufriedenstellend ausgefallen. Neben mir wurden einem kleinen Jungen die Haare geschnitten. Ich nehme an, er saß nur deshalb still, weil Mami währenddessen vor seinen Augen einen Film vom Telefon abspielte.

Mittwoch: Seit geraumer Zeit fahre ich mit dem Fahrrad ins Werk, dabei führt mich der Weg morgens am Hofgarten vorbei durch die Stockenstraße zur Adenauerallee/B9, die Einmündung ist ampelbewehrt. Bislang wechselte die Ampel jeden Morgen genau in dem Moment auf grün und ermöglichte so ein haltloses Einbiegen in die B9, wenn ich mich ihr auf wenige Meter genähert hatte; kurz nachdem ich die in den Asphalt eingelassene Kontaktschleife passierte, wechselte das Licht mit großer Verlässlichkeit zu meinen Gunsten. Wechselte, Präteritum, Vergangenheit: Seit zwei Tagen bleibt die Ampel rot und zwingt mich zum Halten (im Gegensatz zu den meisten anderen Radfahrern, die derartiges Leuchten ignorieren beziehungsweise als nicht ernst zu nehmenden Vorschlag auffassen, halte ich wirklich vor roten Ampeln, auch wenn mir dadurch verständnislose Blicke und manchmal Verwünschungen sicher sind). Ich beklage das nicht, nehme Momente des Wartens dankbar an, man wird ja nicht jünger. Außerdem wird sie ihre Gründe haben.

„Gerade jetzt ist Mundhygiene besonders wichtig“, sagt der Mann in der Reklame. Warum gerade jetzt und sonst nicht so, sagt er nicht.

Donnerstag: „Florian Schneider ist tot“, lässt mich der Geliebte am frühen Morgen kurz nach dem Zähneputzen (Mundhygiene ist wichtig) wissen. In vorübergehender Unkenntnis darüber, wer das ist beziehungsweise war, zumal die Glut meiner Verehrung für die Gruppe Kraftwerk allenfalls ein fernes, schwaches Glimmen ist, und der unzutreffenden Annahme, es handelte sich hierbei aufgrund des Namens um einen jüngeren Mann, gab ich zur Antwort: „Ja ja, die Guten gehen immer zuerst.“ – „Na dann haben wir an dir ja noch länger was“, so der Geliebte. Das kommt alles auf die Lorbas-Liste, die ich irgendwann anlegen werden.

Freitag: Hochzeitstag – seit nunmehr achtzehn Jahren bin ich glücklich verheiratet. Von Herzen danke ich dem Liebsten, dass er es immer noch mit mir aushält und mich nicht längst vom Hof gejagt hat; rückblickend, ohne ins Detail zu gehen, hätte er vielleicht den einen oder anderen Grund dazu gehabt. (Bitte denken Sie sich hier eine geigenschwangere Kussszene.) Der achtzehnte Hochzeitstag heißt übrigens Türkishochzeit. „Der Halbedelstein gilt als Schutzstein und soll Verführungen von der Ehe fernhalten“, lese ich dazu. Möge er dabei weiterhin erfolgreich sein.

In der Mittagspause sah ich einen, der in sommerlicher Freizeitkleidung einen Kinderwagen schob und in sein Kabeldings sagte: „Die Agenda habe ich noch nicht erhalten, aber die IT macht langsam Druck.“ Das nennt man wohl Parkoffice.

Fünfundsiebzig Jahre Kriegsende (oder Kapitulation, Befreiung; zweifelhafte Charaktere sprechen auch von Niederlage). Immer das gleiche Bild bei den zu solchen Anlässen üblichen Kranzniederlegungen: Politiker schreiten zu dem bereits niedergelegten Kranz, bücken sich und zupfen an den Schleifen herum, jedesmal, immer. Ist das eine Art Übersprungshandlung, oder legen die Helfer die Kränze zuvor bewusst unordentlich aus, damit die Politiker während des Gedenkens Beschäftigung vorweisen können?

Samstag: Eine echte und sinnvolle Innovation, nicht nur in viruslastigen Zeiten, wären Mundschutzmasken in schalldichter Ausführung, vor allem in Verbindung mit einer gesetzlichen Tragepflicht für bestimmte Personen. Um juristische Imponderabilien zu vermeiden verzichte ich darauf, Namen zu nennen, obschon mir spontan einige einfielen.

Sonntag: Da mich der Geliebte einer gewissen Geschwätzigkeit hier im Blog bezichtigt, verzichte ich für heute auf weitere Ausführungen.

 

Woche 18: Detonierende Detraktoren und Humus auf die Faust

Montag: Nach langem, verstörendem Traum mit mehreren Fortsetzungen und ständig sich wandelnden Fakten, dessen Inhalt ich nicht wiedergegeben könnte (so weit ich mich erinnere ging es um viel Geld und die Suche nach einem Schuldigen), bin ich fast froh, dass die Nacht vorüber ist und eine neue Woche grüßt. Aber eben nur fast, geht es doch im Werk oft auch um viel Geld und Fingerpointing, auch wenn letzteres gerne und regelmäßig bestritten wird.

„Normalerweise sind wir Experten darin, unsere Kunden auf allen Ebenen zu verwöhnen“, schreibt der Friseursalon meines Vertrauens. Bislang nahm ich seine Dienste vornehmlich zum Haarschnitt in Anspruch, bin allerdings gerne bereit für neue Erfahrungen auf anderen Ebenen.

In einem Zeitungsbericht über Brandanschläge auf Funkmasten lese ich „Täter mit mobilfunkkritischem Hintergrund“, welch wunderbares Wort. Ich frage mich, was an den Dingern brennen kann und wie man die bei entsprechender Entzündungsabsicht in Brand setzt, also wirklich nur interessehalber, nicht dass sie denken, ich würde aufgrund meines nicht zu leugnenden mobilfunkkritischen Hintergrundes derartiges erwägen oder auch nur gutheißen.

Auf der Rückfahrt vom Werk sah ich den maskierten Altbundeskanzler, fuhr zunächst mit dem Fahrrad daran vorbei, kehrte um und machte ein Foto, das ich Ihnen hiermit zur Kenntnis gebe.

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Augenscheinlich vermuten übrigens viele den Hauptzweck solcher Masken darin, das Kinn zu schützen.

Seit nun genau einem Jahr rauche ich nicht mehr, das sollte auch mal Erwähnung finden. Ansonsten ist dazu bereits alles geschrieben, daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert.

Dienstag: „Dieser 30. April kommt zu früh“, wird Regierungssprecher Seibert in der Zeitung zitiert. Wann käme ihm der 30. April denn gelegener, vielleicht Mitte Juli?

Mittwoch: Es ist wohl ein Merkmal beneidenswerter Gemütsruhe, wenn jemand dreiundzwanzig Minuten nach dem geplanten Ende einer für eine halbe Stunde angesetzten Besprechung sagt: „Wir haben schon ein wenig überzogen.“

Donnerstag: So langsam wird es Zeit, dass die Friseure wieder öffnen, zunehmend verweigern sich die Haare jeglicher Infrisurnahme.

Im Fernsehen äußert sich die Sprecherin der FDP für Verteidigungs- und Kommunalpolitik mit dem wundervollen Doppel-Doppelnamen Marie-Agnes Strack-Zimmermann zu irgendwas, das mir schon wieder entfallen ist. Ebenfalls entfallen ist mir, wo ich kürzlich den nicht minder interessanten Namen Kai Kreisköther las, soweit ich mich erinnere, ist er Sprecher oder Vorsitzender oder beides irgendeines Verbandes, natürlich könnte ich das jetzt recherchieren. Womöglich war der Weg seiner Kindheit aufgrund des Namens von zahlreichen Despektierlichkeiten gesäumt, andererseits ist es wohl der Sprecher- oder Vorsitzenderwerdung nicht abträglich, wenn man in der Jugend das Stahlbad der Schulhof-Schmähungen durchschwommen und zudem einen ungewöhnlichen Namen im Ausweis und an der Bürotür stehen hat.

Es gibt übrigens Wörter, die ich nicht schreiben kann, ohne mich mindestens einmal zu vertippen: Wochenende, Packstation. Und mindestens eins, das ich nicht sagen kann, ohne mich zu versprechen: unmittelbar.

Außerdem habe ich in einer Präsentation ein mir neues Wort gelesen: Detraktor. Im aktuellen Duden steht es nicht, dafür weiß ich nun, dass detonieren nicht nur die Bedeutung von „explodieren“ haben kann, sondern auch „unrein singen/spielen“. Wenn ich also detoniere, kann das also heißen, ich tobe ob der Frechheiten des Geliebten, oder ich übe Trompete. Und was heißt nun Detraktor? Vielleicht ein in Deutschland hergestelltes landwirtschaftliches Nutzfahrzeug? Man kann es nur erahnen, denn eine Definition habe ich bei meiner zugegeben nicht übertriebenen Recherche auch im Netz nicht gefunden. Das englische Wort „detractor“ bezeichnet eine Person, die kritisiert, lästert, schlechtredet, verleumdet. Ein Detraktor kann demnach sowohl detonieren als auch jemanden des Detonierens bezichtigen.

Freitag: Die während des Spaziergangs gesehenen Maibäume für Sven, Lukas, Leslie, Max, Mats, Mattis, Yara, Fredi und Felix fallen in diesem Jahr auffallend klein aus, da sie behördlicher Weisung folgend nur mit maximal zwei Personen aufgestellt werden durften. Noch vor wenigen Monaten hätte sich wohl niemand vorstellen können, dass so etwas mal der behördlichen Regelung bedarf.

Weiterhin kam ich an einem Café vorbei, das laut Tafel Humus zum Mitnehmen anbietet, oder „auf die Faust“, wie man früher sagte, heute heißt das nur noch „to go“. Humus also. Warum auch nicht, es ist Pflanzzeit.

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Einen gewissen Hang zur Albernheit lässt #Wolfi in der Inneren Nordstadt erkennen:

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Samstag: Trotz mobilfunkkritischem Hintergrund lässt es sich nicht ganz vermeiden, Mitglied mehrerer WhatsApp-Gruppen zu sein. Noch weniger lässt es sich dann vermeiden, ungefragt „lustige“ Filmchen und Sprüche zugesandt zu bekommen, letztere zumeist in Form einer zweifelhaften Grafik. Ich weiß nicht woran es liegt – mich deprimieren derartige Zusendungen zumeist mehr, als dass sie mich erheitern. Beliebt ist zurzeit ein Gedicht, das Heinz Erhardt zugeschrieben wird, es beginnt mit „Weil wir doch am Leben kleben / muss man abends einen heben / So ein Virus ist geschockt / wenn man ihn mit Whiskey block …“, so witzig geht es weiter, ich erspare Ihnen den Rest, vielleicht haben sie es auch schon erhalten. Nun bin ich seit Jugendjahren ein großer Verehrer von Heinz Erhardt, kann einige seiner Gedichte auswendig deklamieren und habe sehr viele gelesen. Vielleicht irre ich mich, aber ich bin mir ziemlich sicher, diese Virusverse stammen nicht aus seiner Feder, sie passen einfach nicht zu ihm. In den Weiten des Netzes habe ich auch keinen überzeugenden Beleg gefunden. Sollte ich mich irren, wäre ich für einen Hinweis dankbar.

Sonntag: Queen hat mit Adam Lambert eine neue Version von „We Are The Champions“ herausgebracht, schauen und hören Sie hier. Indes: Warum verzichteten die Herren May und Taylor beim Einspielen auf das Tragen einer Hose, und hat Roger Taylor wirklich derart hässlich tätowierte Beine, oder trägt er nur eine unvorteilhafte Strumpfhose?