Woche 52: Geschenkerausch und Schluchzprinzessinnen

Montag: Ich bringe mal eben die Flaschen zum Altglascontainer“, sagte C und verließ am Mittag die gemeinsame Wohnung, wo bereits die Vorbereitungen zum Heiligen Abend im vollen Gange waren. Danach verlor sich seine Spur. — Das wäre mal ein schöner Anfang für eine Weihnachtsgeschichte. Ich entschied mich dann aber doch, nach einem kurzen Spaziergang am Rhein, zur Rückkehr zu meinen Lieben.

Glücklicherweise kann heute jeder selbst entscheiden, wie er das Fest der Liebe verbringen möchte. Wobei die Wahrheit oft nicht mehr in der Bibel, sondern an einem Laternenpfahl steht:

Eine geradezu religiöse Verehrung und Unantastbarkeit genießt ja auch die „freie Fahrt für freie Bürger“ auf deutschen Autobahnen. Zum kürzlich von der Deutschen Umwelthilfe geforderten Tempolimit auf hundertzwanzig, welches ich ohne Vorbehalte befürworte, schreibt Leserbriefschreiber Karl P. aus Bad Neuenahr an den Bonner General-Anzeiger:

„Natürlich würde etwas Energie eingespart, aber mit Tempo 120 auf völlig freier Autobahn zu fahren, ist äußerst ermüdend und jeglicher Fahrfreude abträglich. Dann müssten auch Volksfeste und Reisen verboten werden. Beides bedeutet Lebensqualität, ist aber nicht zwingend notwendig. Generell tragen immer mehr Einschränkungen zum Verdruss auf Politik und öffentliche Ordnung bei.“

Wie schön, dass man auch hier geteilter Meinung sein darf.

Dienstag: Dem ganzen weihnachtlichen Geschenkerausch stehe ich ja eher kritisch gegenüber, und ein gegenseitiges Nichtschenkungsabkommen in meinem persönlichen Umfeld fände mit mir einen eifrigen Fürsprecher. Dennoch habe ich mich wieder sehr über die Gaben meiner Lieben gefreut, hierüber ganz besonders:

KW52 - 1 (1)

Für mich ist Weihnachten übrigens erst dann, wenn Klein-Röschen mit dem Prinzen die Hebefigur vollzogen hat.

Mittwoch: Bald ist es geschafft. Schon verrückt: Die Menschen feiern mit riesigem Aufwand die Geburt von Gottes Sohn vor etwas mehr als zweitausend Jahren, obwohl mindestens achtzig* Prozent es für ein erdachtes Märchen halten oder nicht die geringste Ahnung haben, was sie da feiern. Wenn man in einigen Jahren Menschen auf der Straße dazu befragt, wird man vielleicht zur Antwort bekommen: „Die Geburt von Jeff Bezos“ oder „Irgendwas mit Amazon“.

———

* Gänzlich unrecherchierte Behauptung meinerseits. Wenn Sie es besser oder überhaupt wissen, oder Ihnen etwas anderes auf dem Herzen liegt, schreiben Sie gerne einen Kommentar.

Donnerstag: In der Nacht sehr schlecht geschlafen. Vielleicht ist der Körper schlafsatt, weil ich die Tage zuvor kaum vor elf das Bett verließ. Das ist natürlich kein Grund, ohne Not zur Unzeit aufzustehen und gar ins Büro zu gehen. Ohnehin ist mehr als fraglich, welche Not gelindert werden könnte durch Anwesenheit im Büro. Außer vielleicht die, in welche mein Bankkonto geriete, entschlösse ich mich zu dauerhaftem Fernbleiben. Das wäre ein triftiger Grund für schlechten Schlaf, womit sich der Kreis schließt.

Freitag: Nachfesttäglicher Familienbesuch in Ostwestfalen. Die Forderung (nicht nur) der Umwelthilfe nach einem Tempolimit auf Autobahnen erscheint mir immer dringlicher. Andererseits glaube ich, nichts verursacht einen Stau so zuverlässig wie ein Schild „Achtung Staugefahr“. Vielleicht ein Ausdruck unserer Obrigkeitshörigkeit.

Nicht so die notleidende Rüstungsindustrie. Laut Radiomeldung erwägt sie, die Obrigkeit zu verklagen, weil sie 2018 nicht genug Waffen nach Ägypten verkaufen durfte. Wegen Kashoggi, nicht wegen Feinstaub.

Aus der Radiowerbung für ein Buch: „Schonungslos lesenswert“. Brutalst blöd.

Samstag: Ich weiß nicht, ab welcher Menge Weinkonsum als bedenklich gilt. Der zweite schwer bepackte Gang zum Altglascontainer innerhalb einer Woche könnte jedoch ein Signal sein.

Ein Signal wünschen sich auch die Bewohner des Neubaugebietes im Kottenforst, und zwar ein „Halt“ zeigendes: In der Zeitung beklagen sie sich darüber, dass die Bahn am gleichnamigen Bahnhof nicht hält. Darum müssen sie ihre Brut mit dem Auto zur Schule fahren. Der Weg zur achthundert Meter entfernten Bushaltestelle sei „viel zu gefährlich“, so Anwohner Peter N, deshalb erfährt auch seine Tochter den Genuss elterlicher Droschkendienste. Mit sechzehn.

Weiterhin steht in der Zeitung: „Kommunikation bleibt wichtig, sie ist ein menschliches Urbedürfnis“, so eine Telekom-Sprecherin. Mag sein, aber mal in Ruhe gelassen zu werden, ohne kommunizieren zu müssen, ist ein mindestens genauso starkes Bedürfnis. Jedenfalls für mich.

Legen wir die Zeitung beiseite und begeben uns ins Netz. Bei Franz Firla lese ich:

„… obwohl es zum Repertoire dieser Schluchzprinzessinnen gehört,

die jeden dritten Ton aufgeregt modulieren

und damit jedes noch so schlichte Lied als Jammerarie

an einer Klagemauer zerschellen lassen.“

Wunderbar, und ohne weiteres übertragbar auf Max Giesinger, Revolverheld und wie die Weltschmerzbarden alle heißen, denen im Radio wieder mehr Raum zuteil wird, jetzt, wo wir vor den ganzen Songs voller „Christmas“ und künstlichen Glocken wieder elf Monate lang Ruhe haben.

Als das von Weltschmerz und ungünstigen Verwandtschaftsverhältnissen geplagte Aschenbrödel ungehorsam war, musste es auf Anordnung der bösen Stiefmutter ein Gemenge aus Erbsen, Linsen und Asche auseinander sortieren, Sie erinnern sich vielleicht. Obwohl ich nur selten zu Widerspruch neige und stets aufs Wort gehorche, wird mir am Abend auf Geheiß des Geliebten eine ähnliche Aufgabe zuteil, welche auch ohne Hilfe von Tauben in erstaunlich kurzer Zeit erledigt ist.

Sonntag: Erstaunlich schnell erledigt war auch wieder dieses Jahr, und viel zu schnell diese arbeitsfreie Woche. Hieß es nicht vor einigen Monaten, ABBA habe ein neues Lied aufgenommen, welches im Dezember veröffentlicht werden solle? Kommt das noch, oder habe ich mal wieder was nicht mitbekommen?

***

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, mit einem Kaffeebecher durch die Gegend zu laufen.

***

Ich wünsche Ihnen einen guten Start ins neue Jahr und alles Gute für 2019! Wenn Sie hier auch weiterhin ab und an reinschauten, würde ich mich sehr freuen.

Übergebäck

Friede, Freude, Weihnachtszeit,

Lichterglanz, Besinnlichkeit.

Ruhe, Muße –

Doch stattdessen:

Keine Zeit, wir müssen essen.

.

Gebrannte Mandel oder Nuss,

Nougat, Spekulatius,

Dazu Punsch, geglühter Wein,

Bratwurst und Dominostein.

Schokolade als Figürchen

Hinter dem Kalendertürchen.

.

Gänsekeule, Rotkohl, Obstbrand,

Bis zum akuten Magenstillstand.

Kartoffeln, Brot aus Marzipan

Ich langsam nicht mehr sehen kann.

Kekse, Plätzchen allerorten,

Danke, Nein! – Mit andren Worten:

.

Tochter Zion, freue dich –

Mir reichts, drum bitte ohne mich.

Der bunte Teller wird nicht leer.

Sei es drum: Ich kann nicht mehr!

Woche 51: Frauentausch und Feinstaub

Montag: Am Morgen höre ich beim Zähneputzen im Radio von einer Familie, die ihren Weihnachtsbaum „Annegret“ nennt. Seitdem bekomme ich nicht mehr das Bild aus dem Kopf von einer Tanne mit kurzen, dunklen Nadeln und markanter Brille, die ununterbrochen „Can’t You Feel It“ singt. (Nur noch eine Woche und zwei Tage, dann ist es erstmal wieder überstanden. Und nein – ich habe heute Morgen noch keinen Alkohol zu mir genommen.)

Hier was Lesenswertes: Paul Kaufmann über „Sucht“.

Dienstag: Um die Pflanzen in unseren Büros kümmert sich ein externer Gieß- und Pflegedienstleister, regelmäßig kommen eine junge Dame und ein junger Mann, um den Wasserstandsanzeiger abzulesen, zu gießen, vertrocknete Blätter abzuzupfen und nach Schädlingsbefall zu schauen. Der einst attraktive junge Pflanzenpfleger trägt seit einiger Zeit eine sehr unvorteilhafte Frisur, ich weiß nicht wie man die nennt, auf beiden Seiten ein Scheitel, das Deckhaar hochgebunden, anfangs zu einem Dutt, mittlerweile Pferdeschwanz. Jeder wie er mag, keine Frage. Bei Männern mit Pferdeschwanzfrisur ist für mich indes eine rote Linie der Toleranz überschritten.

Bleiben wir noch etwas beim Thema Haare: Am Abend lese ich in der Zeitung die Artikelüberschrift „Blick auf 500 stachelige Schönheiten“. Meine Hoffnung auf einen Bericht über den Wettbewerb „Mister Bodyhair 2018“ wurde enttäuscht, es ging nur um Seeigel.

„Bestattungen werden günstiger“, so eine andere Überschrift. Und jetzt? Soll ich jetzt sterben oder was?

Mittwoch: Ich möchte abwechselnd schreien und in die Tischkante beißen, weil einigen hohen Herrschaften tausend Dinge einfallen, die noch in diesem Jahr erledigt werden müssen, weil sonst die Welt untergeht oder Schlimmeres passiert. Dann begegne ich Kollegen S in der Kaffeeküche, dessen wesentliche Aufgabe darin besteht, von morgens bis abends mit Kunden A zu telefonieren, und ein Lächeln ziert mein Antlitz. Wenn es mal nicht so gut läuft, nützt es nichts, sich am noch größeren Unglück anderer zu orientieren. Andererseits ist es besser als nichts.

Donnerstag: „Ich mag kein Marzipan“, sagt die Kollegin. Meine Verwunderung wäre nicht größer, hätte sie bekanntgegeben, nicht zu atmen.

Was mich auch wundert: Alle Welt klagt und lästert über „Last Christmas“, ob zu recht oder nicht, mag jeder für sich entscheiden. Aber was ist mit „Thank God It’s Christmas“ von Queen? Das ist doch mindestens genauso furchtbar.

Was Freddy Mercury für Queen, ist Beethoven für Bonn. Letzteren als „Klangtitan“ zu bezeichnen, wie es die Zeitung heute tut, erscheint mir indes albern. Um Beethoven machen die Bonner schon gerne viel Buhei. Viel mehr freuen können Sie sich meiner Meinung nach über den Rhein, der durch die Stadt fließt. (Oder an ihr entlang, je nach Sichtweise, je nachdem, ob man Beuel als Teil von Bonn betrachtet oder noch immer lieber in den Grenzen von vor 1969 denkt, was mehr Bad Godesberger, Beueler und andere tun als man als Zugezogener für möglich hält.) Weil es am Rhein so schön ist, und weil Gehen glücklich macht, jedenfalls mich, ging ich am Nachmittag zu Fuß vom Werk nach Hause. Vor mir ging langsam eine Dame, immer wieder blieb sie mit angewinkelten Armen und gesenktem Blick stehen. Schnell war mein Urteil gefällt: Wieder so eine dusselige Digital-Sklavin, die vor Displaystarren das Gehen vergisst. Als ich sie überholte, sah ich sie nicht mit einem Datengerät beschäftigt, sondern etwas in ein Notizbuch schreiben. Prompt wurde sie mir sympathisch. Menschen sind schon komisch, davon nehme ich mich selbst nicht aus.

Komisch und bezeichnend für den menschlichen Wahnsinn ist auch die Sendung „Frauentausch“, besonders wenn eine der zu tauschenden Frauen Thomas heißt.

KW51 - 1

Freitag: „Dann will ich es auch nicht unnötig in die Länge ziehen“, sagt der Initiator einer vorzeitig zum Schluss gekommenen Skype-Besprechung. Ein schöner Satz, den man viel öfter hören möchte. Gilt er nicht für alle Lebensbereiche, letztlich gar für das Leben an sich?

Samstag: Die Deutsche Umwelthilfe fordert ein Verbot von Silvesterfeuerwerken und Böllern, um die Feinstaubbelastung in den Städten zu senken. Wer Herrn Resch und seinen Leuten zurufen möchte, nun aber mal die Luft anzuhalten, liefert bereits das richtige Stichwort: Warum nicht auch das Armen verbieten? Werden dadurch doch erhebliche Mengen Kohlendioxid freigesetzt. Und alle anderen Probleme wie Dieseldunst und Fahrverbote würden sich dadurch in kürzester Zeit von selbst lösen.

Nicht mehr verboten ist hingegen auf Mallorca das Töten von Stieren durch Toreros, wie das spanische Verfassungsgericht entschieden hat. Eine zweifelhafte Organisation namens „Stiftung Kampfstier“ (was es alles gibt) sah in dem aufgehobenen Verbot gar eine „Barbarei“ (wohlgemerkt nicht in der Tötung, sondern ihrem Verbot), hierdurch werde „der Stierkampfkunst ihre Essenz genommen, nämlich der Tod“. Das muss man sich ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen.

Sonntag: Sonntägliches Kirchengeglocke wird ja zunehmend als Belästigung und Ruhestörung empfunden. Es sei denn, es klingt so – die Höllenglocken einmal anders:

***

Ich wünsche allen Leserinnen, Lesern und Lesexen schöne Feiertage! Falls Ihnen irgendwo die in diesen Tagen viel gepriesene Besinnlichkeit begegnet: Greifen Sie zu, sie ist ein sehr seltenes Gut, gerade zur Weihnachtszeit!

 

Woche 50: Diverses

Montag: Ich liebe es, wenn Menschen mit wenigen Worten direkt auf den Punkt kommen. Insofern rücken viereinhalb Stunden Skype-Konferenz den Teilnehmer nicht gerade in den Verdacht der Vergnügungssteuerpflicht. Andererseits gibt es wesentlich unangenehmere Möglichkeiten des Lohnerwerbs, zum Beispiel Möbel zu schleppen oder Schweinebabys kastrieren.

Manchmal breitet sich in Besprechungen ein Wort oder eine Phrase epidemieartig unter den Teilnehmern aus: Einer fängt an, und alle anderen übernehmen es, scheinbar einer unausgesprochenen Übereinkunft folgend, in ihre wörtliche Rede (der Schreiber dieser Zeilen selbstverständlich ausgenommen). Beliebt sind „quasi“ und „irgendwie“; heute war es „im Endeffekt“. Sätze mit „ich meine ja nur“ sind hingegen zu über achtzig Prozent im Ganzen überflüssig.

Auch gängig: „Das ist ergebnisoffen“, wie die Kollegin sagt. Gilt das nicht im Endeffekt für alles?

Dienstag: Warum rupfen manche Leute in der Kantine fünf und mehr Papierservietten aus dem Spender? Haben die zu Hause kein Klopapier?

In der Zeitung lese ich, nach den Protesten in Frankreich sei in Ägypten aus Angst vor Unruhen nun der Verkauf gelber Warnwesten an Einzelpersonen verboten. Sicher ist sicher. Übrigens fühle ich mich gerade im Umfeld von Menschen, die „Security“ auf ihrer Warnweste stehen haben, selten besonders sicher.

Mittwoch: Ein weiterer freier Tag zum Zwecke des Urlaubsabbaus und natürlich der mentalen Ertüchtigung. Nach Aufbruch des Liebsten ins Werk  liege ich längere Zeit wach und erwäge, aufzustehen im Sinne des Carpe-Diem-Gedankens. Doch dann falle ich in einen interessanten Zustand sich in kurzen Abständen abwechselnder Schlaf- und Wachphasen, jeweils von Träumen begleitet, deren Inhalt sich nach dem Erwachen sofort in die Erinnerungslosigkeit verflüchtigte. Im übrigen gibt es keinen vernünftigen Grund, ohne Not vor zehn Uhr das Bett zu verlassen (dann aber schon, weil ab zehn Gabi, unsere Staubsauger-Roboterin, ihr randalierendes Werk beginnt), zudem ist Träumen von den zahlreichen Möglichkeiten, den Tag zu nutzen, sicher nicht die schlechteste.

Nach meinem unmaßgeblichen Empfinden jedenfalls besser als die Teilnahme an einer Schneeballschlacht-Weltmeisterschaft. Das gibt es wirklich, wie ich aus der Zeitung erfahre. Wodurch mag man dort gewinnen?

„Solange ich von solchen Organisationen erpressbar bin, werde ich ausschließlich Auto fahren“, schreibt Peter F. aus Engelskirchen in einem Leserbrief an die Zeitung zu den Streiks bei der Bahn. Als ob das, was die Auto- und Mineralölkonzerne betreiben, keine Erpressung wäre.

„Wegen einer Weichenstörung verzögert sich unsere Abfahrt um etwa dreißig Minuten“, so die Durchsage im Regionalexpress, der mich am Abend nach Köln bringen soll. Kurz darauf höre ich einen Mitreisenden telefonieren: „Ich sitze noch im Zug, er fährt irgendwie nicht ab, die Gleise sind irgendwie explodiert oder sowas.“ So entstehen wohl die heutzutage allgegenwärtigen Aufschäumungen geringster Nichtigkeiten.

Donnerstag: In der Kantine sehe ich einen jungen Mann mit aufgekrempelten Hosenbeinen. Nun bin ich dem Anblick wohlgeratener Jungswaden nicht grundsätzlich abgeneigt, auch die hier gezeigten schienen der Erzeugung warmer Gedanken grundsätzlich förderlich. Doch in Anbetracht der derzeitigen Außentemperaturen ließen sie mich frösteln.

Freitag: Der Bundestag hat das Gesetz zur Anerkennung eines drittes Geschlecht „divers“ beschlossen. Nun werden wieder zahlreiche Trottel ihr Unverständnis und ihren Hass darüber in Leserbriefen und digitalen Hetzwerken absondern. Als ob ihnen dadurch irgendetwas weggenommen würde. Aber nur, weil neunzig Prozent aller Menschen sich etwas nicht vorstellen können, heißt das ja nicht, dass es das nicht gibt.

Weiterhin hat sich die Bundesregierung über das „Werbeverbot für Abtreibungen“ geeinigt. Werbung für Abtreibung – was soll das sein? Vielleicht so: „Fötex – we take it out“? Dabei gäbe es viel dringlicher zu verbietende Werbungen, etwa die nervzehrenden Radioreklamen für Möbelhäuser oder einen bekannten Müslimischer. Oder die eines überregional tätigen Fischbrötchenverkäufers, die ungefähr so geht:

Er: „Liebling, ich gehe Angeln, soll ich was mitbringen?“ – Sie: „Vielleicht einen Fisch?“ – (beiderseitiges peinliches Lachen wie nach einem wegen erektiler Dysfunktion abgebrochenen Geschlechtsakt) – Er (mit betretener Stimme): „Wir wissen beide, dass das nicht klappt …“ – Sie: „Macht doch nichts …“ Ist das nicht auch eine – gewissermaßen vorbeugende – Abtreibungswerbung, somit eindeutig zu verbieten?

Laut einer Zeitungsmeldung weilt ein Viertel der Arbeitnehmer gedanklich bereits im Weihnachtsurlaub. Das würde bedeuten, drei Viertel wären noch voll bei der Sache. Das erscheint mir sehr hoch.

Samstag: Auf der nächtlichen Rückfahrt von einem Besinnlichkeitsbeisammensein in Köln sehe ich in der Bahn erneut einen jungen Mann in kurzer Hose (dazu farbenfrohe Kniestrümpfe); das bereits am Donnerstag hierzu Notierte gilt weiterhin, denn es ist nach wie vor a…kalt. Ist das vielleicht ein neuer Trend, von dem ich mal wieder noch nichts mitbekommen habe, gleichsam die konsequente Fortsetzung beziehungsweise Ablösung der beliebten Knöchelfrei-Mode?

Tagsüber habe ich Gelegenheit zur Teilnahme an einem wahren Besinnlichkeitsmarathon, der unsere Reisegruppe mit dem Bus ins niederländische Valkenburg führt. Dort wird uns nach etwa einstündigem, eisigen Schlangestehen Einlass gewährt in eine Höhle, wo in früheren Zeiten offenbar Sandstein oder ähnliches abgebaut wurde, heute hingegen an zahlreichen „weihnachtlichen“ Verkaufsständen arglosen Touristen das Geld zu lockern versucht wird.

KW50 - 1 (2)

KW50 - 1 (1)

„Abgezapft und originalverkorkt …“

KW50 - 1

Das „Intelligent“ macht es nicht besser, siehe auch Dienstag

Fazit: Es ist immer wieder bemerkenswert, für was Menschen bereit sind, sich eine Stunde lang bei Eiseskälte in eine Warteschlange zu stellen. Man muss dieses ganze Weihnachtsbrimborium schon sehr mögen, wenn man dort ein zweites Mal hinfährt. Aber ich will es nicht schlechtschreiben, der Glühwein in der Höhle schmeckte ausgezeichnet.

Sonntag: „Bonn ist Beethoven, weil Freude hier am schönsten klingt“, verkünden die Reklame- und Informationsbildschirme in der U-Bahnhaltestelle am Hauptbahnhof. Ein sehr schöner Satz, wenngleich sich mir auch nach mehrfachem Lesen und Nachdenken nicht erschließt, was er bedeutet.

„Man muss nicht immer über alles sprechen“, antwortet der Fraktionsvorsitzende der CDU, Ralph Brinkhaus, in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf die Frage, was uns Ostwestfalen ausmacht. Genau so ist es, dem ist nichts hinzuzufügen.

Woche 49: Mir doch egal

Montag: In Kattowitz beginnt der Klimagipfel und ich recherchiere den Begriff „Fatalismus“.

„Ist die Erde noch zu retten?“, lese ich irgendwo. Die Frage erscheint mir reichlich vermessen. Auch wenn wir uns seit einigen Jahrtausenden die größte Mühe geben, wird es uns nicht gelingen, die Erde auszulöschen, höchstens verändern wir sie vorübergehend ein wenig, für einen aus erdgeschichtlicher Sicht winzigen Zeitraum. So wie ein Schnupfen uns für gewöhnlich nicht umbringt, jedoch eine Zeit lang sehr lästig sein kann. Die Frage muss daher lauten: „Sind die Menschen noch zu retten?“ Da habe ich indes wenig Hoffnung.

Es ist wohl eine Ironie der Weltgeschichte, dass sich ausgerechnet diese hochgradig bescheuerte Spezies selbst als „Homo sapiens“ bezeichnet.

sapiens - 1

(Quelle: PONS)

Dienstag: Über menschlichen Irrsinn, Macht und Manipulation hier ein lesenswerter Aufsatz von Paul Kaufmann.

„Besinnlichkeitsbooster“ nennt Herr Buddenbohm die jetzt wieder allgegenwärtigen Weihnachtsfeiern. Trotz Englisch-Anteil ein schönes Wort.

Mittwoch: Bleiben wir noch etwas beim Thema „menschlicher Irrsinn“. Bei Yuval Noah Harari lese ich dazu: „In den kommenden anderthalb Jahrtausenden schlachteten sich die Christen gegenseitig zu Millionen ab, weil sie die Lehre der Nächstenliebe in einigen Detailfragen unterschiedlich interpretierten.“ Na dann schöne Adventszeit.

Donnerstag: Widmen wir uns schönen Dingen. Augenscheinlich tritt die bei jungen Männern beliebte Knöchelfrei-Mode zurzeit – vielleicht jahreszeitlich bedingt – etwas zurück zugunsten besonders bunter Socken.

Freitag: In der Zeitung lese ich einen interessanten Artikel über JOMO – Joy of missing out – zu deutsch: mir doch egal. Es geht darum, sich nicht zum Sklaven der (digitalen) Medien machen zu lassen, nicht jeden Quatsch in den einschlägigen Hetzwerken zu verfolgen. Zitat: „Vieles, was wir am Smartphone tun, frisst Lebenszeit. Die sich nicht gut verbraucht anfühlt.“ Demnach bin ich, ohne es zu wissen, schon lange ein Vorreiter dieses Trends. Auf Whatsapp zugesandte Filmchen und Sprüche-Bildchen ignoriere ich konsequent, mein Facebook-Konto löschte ich bereits vor Jahren, und das Lesen der Twitter-Timeline bereitet mir schon seit geraumer Zeit keine Freude mehr. Die Tage meines Twitter-Kontos sind ohnehin gezählt.

„Das Äußerste ist da, wo nichts mehr kommt“, sagt der Geliebte. Da hat er wohl recht.

Samstag: Auf der Jagd nach Besinnlichkeit fahren die Homo sapiens heute zu tausenden mit ihren Autos in die Stadt, um sich gegenseitig anzuhupen, zu beschimpfen und unfreundlich zu Verkaufspersonal zu sein. Es fällt manchmal schwer, Menschen zu mögen.

Nicht so am Abend auf der Adventsfeier des Karnevalsvereins, wo unter anderem ehemännliche Unarten der Badbenutzung erörtert wurden wie Zähneputzen abseits des Waschbeckens, was zu folgendem Dialog führte: „Putzt du dir auch beim Kacken die Zähne?“ – „Nein, ich mache das umgekehrt. Aber ich mache es hinterher weg!“ Das wäre einen Tusch wert gewesen, diese Menschen mag ich sehr.

Sonntag: Schöner Regenspaziergang am Nachmittag. Danach Lektüre der Sonntagszeitung bei einer Tasse Tee. Dort lese ich vom App-gesteuerten Hochtechnologie-Teekocher eines bekannten Wuppertaler Haushaltsgeräteherstellers für sechshundert Euro, welcher wegen „Auffälligkeiten an der Software vereinzelter Geräte“ zurzeit nicht lieferbar ist. Meinen Tee bereitete ich hingegen mit einem klappbaren, rein mechanischen Teesieb für 3,95 Euro und einem herkömmlichen Wasserkocher mit simplem Einschaltknopf zu. Geht notfalls auch.

KW49 - 1 (4)

Am Abend treibt uns Bratwurst-Appetit noch einmal raus auf den Weihnachtsmarkt. An einer Glühweinbude „singen“ zwei elektrisch bewegte Hirschköpfe „Last Christmas“, davor eine Anzahl Menschen, die das mit dem Telefon filmen. Ich bin unschlüssig, welches von beiden ich bekloppter finde.

Aufgewärmt: Von einem anderen Stern

Aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, einen älteren Aufsatz behutsam aufzuwärmen und ihn Ihnen erneut zur Lektüre zu geben. Ich bitte um Verständnis.

***

KW49 - 1 (2)

Bald feiern wir wieder das Fest des Kindes. Der Legende nach wurde es vor etwa zweitausend Jahren in Bethlehem geboren, nachdem es auf rätselhafte Weise in den Bauch einer gewissen Maria geraten war. Mit Vaterschaftstests und Unterhaltsklagen waren sie damals noch nicht so weit, daher kam Josef mit seiner War-ich-nicht-Nummer nicht durch, stattdessen musste er die Dame auf ihrem Weg durch Nacht und Kälte begleiten. In Bethlehem hatten sie Pech: Wegen einer Verbrauchermesse waren alle Hotels und Pensionen belegt oder überteuert, daher rasteten sie in einem zugigen Stall, wo das Kind schließlich unter den desinteressierten Blicken eines Ochsen und eines Esels zur Welt kam.

Drei Messeteilnehmer aus dem Morgenland waren spät dran, weil sie sich uneins waren über den Weg nach Bethlehem, bis einer von ihnen das Laserlicht entdeckte, das seit Tagen von der Messehalle aus in die Wolken strahlte. Als sie endlich ankamen, entdeckten sie den Stall, irrtümlich hielten sie das ganze für die sehr gelungene Warenpräsentation eines innovativen Leuchtmittelherstellers, dessen Produkte offenbar ganz ohne Flamme auskamen, die Kopfbeleuchtung des Babys strahlte besonders hell. Daher überreichten sie ihre Karten und einigen Kram von geringem Gebrauchswert, den sie in ihren Jackentaschen gefunden hatten. Josefs Frage nach einem wärmenden Schluck beschieden sie hingegen abschlägig, da ihre Cognacvorräte auf der langen Anreise schon draufgegangen waren.

Aus dieser mündlich überlieferten Begebenheit sind schließlich Weihnachten, Lichterketten und Glühweinbuden entstanden. Seitdem hat sich viel getan. Heute glauben die Kinder nicht mehr an drei nette Herren aus dem Osten, sondern an einen dicken Mann in rotem Gewand mit weißem Rauschebart und das Christkind, die unter Absingen von ‚“Last Christmas“‘ die Geschenke bringen, bevor sie wieder durch den Schornstein verschwinden – im Zeitalter der feinstauboptimierten Zentralheizung schon schwer vorstellbar, selbst für das gutgläubigste Kind. Apropos kindlicher Glaube: Früher, so mit vier oder fünf, glaubte ich, es hieße ‚Kristkind‘, weil es, während es die Geschenke verteilt, sagt: „Du krist (= ostwestfälisch für ‚kriegst‘) dieses Geschenk, du krist das und du das.“

Längst vorbei sind auch die Zeiten, da Neugeborene in Windeln gewickelt in einer Futterstelle für Nutztiere aufbewahrt werden, außer vielleicht in besonders ökoideologisch-traditionellen Haushalten. Dafür gibt es heute technologisch hochentwickelte Tragegefäße, welche sich mit wenigen Handgriffen in eine Babybox für Brust-, Auto- oder Fahrradbefestigung verwandeln lassen, um den Nachwuchs zum Geschenkeempfang oder zur Niedlichfindeaufforderung in die Verwandtschaft oder die Firma zu verbringen. Vielleicht wissen Sie, was ich meine: Des Kollegen Frau liegt in freudiger Erwartung. Wenige Tage später hört man auf dem Büroflur das hochfrequente Juchzen der Kolleginnen, mindestens eine Oktave über ihrer üblichen Sprechstimme. Ein vorsichtiger Blick aus der Bürotür verrät den Grund: Der junge Vater steht mit dem Tragekörbchen auf dem Flur, umringt von vor Entzückung entrückten Menschen.

Ein paar Minuten später steht der vaterstolze Kollege dann mit seinem Ableger in meiner Bürotür und sagt so etwas wie „“Sieh mal, Paul-Luca, und das ist Carsten,… sag mal hallo zu Carsten!““ Während ich mich mit gequältem Lächeln von meinem Platz erhebe und mir ein „Ganz der Papa““ abringe, sagt Paul-Luca weder Hallo, noch nimmt er überhaupt Notiz von mir. Das Desinteresse ist beiderseitiger Natur, mit Hunden und neu erworbenen Autos geht mir das übrigens genau so.

Ich gebe zu: meine Begeisterung für Neugeborene, Kinder generell, ist begrenzt, für mich sind sie so etwas wie Wesen von einem anderen Stern, mit denen ich nicht so recht etwas anzufangen weiß. Das war schon immer so, auch als ich selbst noch ein Kind war. Wenn in der Verwandt- oder Nachbarschaft ein neuer Mensch die Bühne betrat, hielt ich mich stets in sicherer Entfernung, und das Gewese, welches um diesen Neuankömmling gemacht wurde, fand ich unangemessen, schließlich hatte er bislang noch nichts geleistet außer schreien und kacken. Na ja, viel mehr konnte ich auch nicht vorweisen.

Meine Kinderlosigkeit empfand und empfinde ich eher als Segen denn als Mangel, ich vermisse diesbezüglich absolut nichts. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht habe ich Angst, meine Kinder könnten so werden wie ich. Wobei, die Geschichte mit dem Töpfchen, der A-A und der mit der Zahnbürste braun angemalten Tapete haben sich meine Eltern bestimmt nur ausgedacht, um mich gelegentlich in schlechtes Licht zu rücken. Oder um von der Nichtexistenz des Weihnachtsmannes abzulenken.

Trotzdem, oder gerade deshalb: Liebe Kinder, ich wünsche euch ein schönes Weihnachtsfest mit vielen pädagogisch wertvollen Geschenken! Und wie das Kind in Marias Bauch kam, fragt euren Papa.

KW49 - 1 (3)

(Ursprünglich veröffentlicht hier.)

Woche 48: Über Merkel und Ferkel

Montag: „Besonders feierte die Garde seine Artillerie, die in diesem Jahr seit 60 Jahren besteht“, schreibt die Zeitung zum Sessionsauftakt der Bonner Ehrengarde. Wessen Artillerie genau, bleibt dabei offen. Oder: Eine spontane Geschlechtsumwandlung als missglücktes Stilmittel.

Apropos Geschlechtsgedöns: Während ich abends weiter an meinem Bestseller arbeite, höre ich alte Kassetten mit Radio-Aufnahmen. Für die Jüngeren unter Ihnen muss ich hierzu etwas ausholen: Liebe Kinder, es gab mal Zeiten ohne Internet, Streaming und Spotify. Wenn uns ein Lied gefiel, so mussten wir unser Taschengeld in einen Laden tragen und eine Schallplatte oder, später, CD erwerben. Die waren teuer. Daher kauften wir für unser knappes Geld lieber Kassetten, das waren vorzeitliche, etwa smartphonegroße Ton-Speichermedien, welche vermittels eines aufgespulten Magnetbandes die Konservierung von in der Regel neunzig Minuten Musik ermöglichten, fragt mal eure Eltern, die kennen die vielleicht noch. (Dann könnt ihr auch gleich fragen, was „vermittels“ heißt.) Die legten wir in unseren Radiorekorder, hörten mit Aufnahmetaste im Anschlag die Schlagerralley oder Mal Sandocks Hitparade und hofften, dass unser Lied kam. Und wehe, der Moderator quatschte am Anfang oder Ende des Liedes hinein (was er vermutlich musste, weil die Schallplattenindustrie das verlangte), oder mitten im Lied kam ein Verkehrshinweis – dann wurden wir ziemlich sauer.

Ich habe das recht lange gemacht, auch als ich mir CD’s problemlos leisten konnte (Schallplatten waren zwischendurch mal fast ausgestorben), die letzte Radio-Kassette ist von 1998. Die meisten Kassetten habe ich noch, auch beim letzten Umzug brachte ich es nicht übers Herz, mich von ihnen zu trennen. So schlummerten sie jahrelang vor sich hin, bis ich kürzlich auf die Idee kam, mal wieder eine einzulegen, zumal ich noch eine Stereoanlage besitze, die über diese antiquierte Technik verfügt. Und siehe (beziehungsweise höre) da: Die funktionieren noch. Man entdeckt sogar das eine oder andere vergessene Lied wieder und denkt: Gar nicht so schlecht. Zum Beispiel dieses:

Dienstag: Morgens Shakira im Radio. Fragte man mich, was ich von Shakira halte – man wird ja andauernd nach seiner Meinung zu irgendwas gefragt, etwa achtzig Prozent aller Anrufe auf unser Festnetztelefon sind von Leuten, die meine Meinung wissen wollen zu Fernsehen, Politik, Musikgeschmack, Glück, Suchtverhalten, Funktionsunterwäsche, lauter solche Sachen, die ich nie beantworte, weil ich vorher den Anrufer beschimpfe und dann auflege – fragte man mich also nach meiner Meinung zu Shakira, antwortete ich mit dieser Gegenfrage: Kennen Sie diese angenehme Stille, welche nach Ausschalten des Radios eintritt, vergleichbar mit dem Gefühl, wenn sich ein Wadenkrampf langsam löst?

Am Mittagstisch erzählt die Kollegin, sie sein im Film Bohemien Rapsody gewesen, Sie wissen schon, über Freddy Mercury. Seitdem singt mein Ohrwurm „Radio Gaga“. Etwas anstrengend, aber wesentlich besser als Shakira.

Mittwoch: Manchmal, ganz selten, überrascht die Bahn positiv: Der Regionalexpress von Köln nach Bonn fuhr am Abend auf die Minute pünktlich, während die Anzeige am Bahnsteig (sowie die Bahn-App) eine Verspätung von fünf Minuten in Aussicht stellten. Der Pessimist würde sagen: Auf nichts ist mehr Verlass.

Donnerstag: „Dringend“ schreibt der Kollege im Betreff einer Mail. Durch einen unerklärlichen Reflex rutschen derartige Nachrichten bei mir in der Priorität der Bearbeitung stets ziemlich weit nach unten.

Alles ist nur noch von Zahlen getrieben. Gibt es etwas langweiligeres als Zahlen? Zahlen mögende Menschen, die klug klingen möchten, sagen gerne „Delta“, wenn sie Differenz meinen. Heute sagte jemand: „Ich sehe da erhebliche Delten“. Das klang nicht besonders klug.

„Keine Schnecke macht für die globale Schneckengemeinschaft auch nur ein Hörnchen krumm“, schreibt Yuval Noah Harari in seinem lesenswerten Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, meiner derzeitigen Stadtbahn- und Bettlektüre.

Freitag: Die Radio-Nachrichten am Morgen berichten erst über Merkel (defektes Flugzeug), direkt danach über Ferkel (beteubungslose Kastration). Das ist zwar nicht besonders lustig, dennoch ließ es mich bereits vor Verlassen des Betts kurz lächeln, was kein schlechter Start in den Tag ist.

Aus einem Zeitungsbericht über Bram Schot, den neuen Audi- Chef: „Bei einem Audi-internen Innovationsgipfel schlug er vor wenigen Tagen vor, dass das Personal nur noch vier Fünftel der Zeit arbeiten und ein Fünftel darauf verwenden soll, zu träumen, nachzudenken und nachzufragen.“ Während der Arbeit mal Zeit zum Nachdenken haben. Das wäre schön.

Auf der Rückfahrt mit dem Zug von Köln nach Bonn kann ich es nicht vermeiden, den Gesprächen einer Mädchengruppe zu lauschen. Jeder zweite Satz in einem gespielt weinerlichen Ton mit extrem langgezogener letzter Silbe. Einmal mehr frage ich mich: Warum sprechen so viele junge Menschen, unabhängig vom Geschlecht, wie debile Idioten?

Samstag: Wegen der Flugzeugpanne der Bundeskanzlerin vom Donnerstag sieht sich die Zeitung heute genötigt, ihre Leser mit einer Chronik „Die größten Pannen deutscher Regierungsflieger“ zu beglücken. Es ist allerhöchste Zeit für eine Chronik „Die überflüssigsten Chroniken in Tageszeitungen“.

Sonntag: Ein gutes Beispiel für „typisch deutsch“ lässt sich hundertfach im Bonner Stadtgebiet besichtigen:

KW48 - 1

Aufgrund der Änderung irgendeiner Rechtsvorschrift mussten vor mehreren Jahren Anwohner- in Bewohnerparkplätze umbenannt werden, warum auch immer. Vermutlich um Kosten zu sparen, wurden keine neuen Schilder beschafft, sondern – im Sinne des Steuerzahlers zu loben – alle „An“s mit „Be“s überklebt. Warum dafür, entgegen deutscher Gründlichkeit, Aufkleber mit einer kleineren Schriftgröße beschafft wurden, bleibt offen. Vielleicht waren die noch etwas günstiger, oder der zuständige Städtling hat sich vermessen. Lange dürfte es indes nicht dauern, bis die Schilder erneut überklebt oder ausgetauscht werden müssen durch eine gendergerechte Aufschrift „BewohnerInnen“, „Bewohner*innen“, „Bewohner_innen“, „Bewohnende“ oder „Bewohnx“.