Fürs Leben gezeichnet

Die Tätowierung der Menschheit begann vor etwa siebentausend Jahren, wie entsprechende Mumienfunde im nördlichen Chile belegen. War die dauerhafte Körperzeichnung bis vor einigen Jahren noch überwiegend Kennzeichen gewisser Randgruppen, etwa Knastbrüder, Seefahrer und zweifelhafter Damen, deren Hauptkunden Knastbrüder und Seefahrer waren, so bildet heute die nicht-tätowierte Minderheit eine immer geringer werdende Randgruppe. Nicht nur der Punk auf dem Bahnhofsvorplatz oder die Aushilfsuschi im Lidl, auch leitende Angestellte und Zahnarzt- wie Bundespräsidentengattinnen bekennen heute Farbe.

Meine erste Begegnung mit einer Tätowierung hatte ich in den Siebzigerjahren, als die Popgruppe Sailor auf dem Höhepunkt ihrer Zeit angekommen und regelmäßig in Ilja Richters Disco oder dem Musikladen mit Manfred Sexauer (ob der wohl wirklich so hieß? Der Name erinnert  ein wenig an ungeübten Analverkehr) zu sehen war, die älteren von Ihnen erinnern sich vielleicht: Girls, Girls, Girls, A Glas Of Champagne und The Old Nickelodeon Sound; die vier Jungs aus England, Erfinder und Nutzer des Nickelodeons, einem sperrigen, von zwei gegenüberstehenden Personen zu bedienenden Tasteninstrument, heute längst in den popmusikalischen Tiefen abgetaucht, sowohl die vier Jungs als auch ihr tönendes Sperrmöbel.

Disco und Musikladen, so was gibt es  heute leider gar nicht mehr, heute muss man Wetten, dass…? kucken, wenn man im Fernsehen internationale Popstars auf der Bühne sehen will, und wer will das schon, also Wetten, dass…? kucken, meine ich. In diesem Zusammenhang unbedingt erwähnenswert erscheint mir auch die Plattenküche mit Helga Feddersen, Gott habe sie selig, und Frank Zander, eine Mischung aus Musikladen und Klimbim, nur ohne die Titten von Ingrid Steeger.

In den Achtizigern gab es dann Formel Eins mit Peter Illmann, gefolgt von Ingolf Lück, Stefanie Tücking und Kai Böcking. Die Stars traten nun nicht mehr in Form von Bühnenpräsenz in Erscheinung, dafür aber in ihren Musikvideos, eine musikalische Darreichungsform, die kurz zuvor in Mode gekommen war. Formel Eins, ich habe es geliebt (während ich den gleichnamigen Autorennsport ungefähr so interessant fand und finde wie die Betrachtung eines Grashalmes beim Wachsen); leider musste es mit dem Aufkommen von MTV und VIVA bald sterben, sehr bedauerlich. Manchmal wird Formel Eins heute noch wiederholt, leider in unerträglicher Form, anstatt die damaligen Folgen einfach noch einmal zu senden, zeigen sie nur einzelne Ausschnitte, ständig unterbrochen von völlig überflüssigen Kommentaren nicht minder überflüssiger sogenannter B-Prominenter („Oh ja, bei dem Lied habe ich damals zum ersten Mal onaniert“ und so weiter).

Zurück zum Thema. Zu Zeiten von Formel Eins war das Schiff von Sailor längst gesunken oder bestenfalls im hintersten Winkel eines Hafenbeckens für alle Zeiten festgemacht als seeuntüchtiges Restaurantschiff. Ihr Sänger, George Kajanus, sang nicht nur sehr schön, während er auf seiner Gitarre spielte (übrigens eine sogenannte akustische Gitarre, was für ein Unfug in sich, das Gegenteil ist dann wohl eine optische oder olfaktorische oder was??), sondern er trug auf seiner Wange die Tätowierung eines kleinen Ankers. Also ich nehme nicht an, dass der wirklich tätowiert war, aber man weiß ja nie bei so einem richtigen Seebären. Ich gebe zu, es gab Zeiten, da vergötterte ich Sailor, konnte viele ihrer Lieder, frei von jeglichen Englischkenntnissen, mitsingen, und zu Karneval ging ich als – nein, nicht als Seemann – als George Kajanus, ohne Gitarre, aber mit Ringelpullover, Schiffermütze und Anker auf der Backe, also auf der Wange, meine ich. (Ich bin mir sicher, heute gibt es nicht wenige Menschen, die einen Anker oder andere Bildnisse auf der Backe, nicht auf der Wange tragen.)

Sah man früher Tätowierungen bei den oben genannten Randgruppen vor allem auf Unterarmen und im Falle von George Kajanus im Gesicht, auch die alten Nordchilenen beschränkten sich zunächst auf Hände und Füße, so ist heute nahezu keine Körperregion mehr davon ausgenommen. Während das in den Neunzigern vor allem bei Damen beliebte Arschgeweih aus gutem Grund aus der Mode gekommen ist (was bei einer Tätowierung ja eher eine Art langfristiges persönliches Pech bedeutet), sieht man zunehmend junge Männer mit tätowierten Waden. Ich finde das schlimm. Ein Jungsbein soll haarig sein, aber nicht tätowiert, so ist es meines Wissens in der päpstlichen Schöpfungsordnung vorgesehen, vielleicht irre ich mich aber auch. Vielleicht ist ja auch der Papst unterhalb seines wallenden Gewandes großflächig gefärbt, niemand wird es je erfahren, ist wohl auch besser so.

Proportional zur Anzahl der Tätowierwilligen wächst auch die Zahl der Tattoo-Studios, in der Nachbarschaft zum Beispiel erfolgt die piksende Färbung direkt hinter einem Schaufenster, der einzufärbende sitzt mit entblößtem Körper(teil) in einer Art Frauenarztstuhl, während der Künstler mit mächtigen, von oben bis unten tätowierten Armen für jedermann sichtbar seinem stechenden Werk nachgeht. Ich frage mich, tätowiert der sich eigentlich selbst, oder geht er dafür seinerseits in ein Tatoo-Studio seines Vertrauens? Sinngemäß dieselbe Frage stelle ich mir schon seit langem für Frisöre und Zahnärzte, ohne je eine verlässliche Antwort erhalten zu haben.

Ich gestehe: auch ich wollte nicht länger zur Randgruppe der Nichttätowierten gehören, deswegen ließ ich das bereits vor geraumer Zeit ändern, nur was ganz kleines aus dem Tätowiererkatalog, etwas größeres hätte auch nicht auf meinen spillerigen Oberarm gepasst; ein Ornament ohne jede symbolische Aussage, so hoffe ich jedenfalls, aber genau weiß ich es nicht, vielleicht ist es ja ein fremdländisches Schriftzeichen, welches mich in ein eher ungünstiges Licht rückt, etwa als Kinderhasser oder Paarhuferkopulierer. Wenn es so sein sollte, werde ich es hoffentlich niemals erfahren.

Tätow

Eine Bitte zum Schluss: keine Wort darüber an meine Eltern, auch mit Mitte vierzig bin ich kein Freund unnötiger Diskussionen. Vielen Dank!