Reisewarnung

Wir leben in unsicheren Zeiten. Neulich nahm ich an einer dienstlichen Busreise nach Aachen teil. Da ich es bei Reisen aller Art bevorzuge, meinen Blick aus dem Fenster zu richten anstatt auf ein Gerät in meiner Hand, und da unser Busfahrer nicht zu den Schleichern zählte und deswegen die meiste Zeit die mittlere Fahrspur der A4 nutzte, schaute ich, was die von uns überholten LKW-Fahrer so machten. Nämlich dieses:

Sie telefonierten,
sie lasen mein Blog oder wasweißichwas auf dem Datengerät,
sie lasen Zeitung,
sie aßen und tranken,
einer wischte Staub,
einer rasierte sich,
einer onanierte,
einer machte seine seine Steuererklärung.

Na gut, die letzten vier sind Nektar aus der Blüte meiner Phantasie, ich habe sie freihändig hinzugefügt. Gewundert hätte es mich indes nicht. Ein paar wenige fuhren auch einfach, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet. Aber wahrscheinlich dachten sie dabei an Sex mit ihrer Steuerberaterin oder, je nach Präferenz, dem Finanzminister.

In Anbetracht dieser beunruhigen Beobachtungen erscheint es nicht mehr ratsam, sich zum Zwecke des Reisens auf die Straße zu begeben. Aber wie sollen wir uns sonst fortbewegen? Mit der Bahn? Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft war der Frontalzusammenstoß zweier Regionalzüge im Februar in der Nähe von Bad Aibling darauf zurückzuführen, dass ein Fahrdienstleiter seine Aufmerksamkeit nicht der Regelung des Zugverkehrs widmete, sondern einem Spiel auf seinem Smartphone.*

Also nur noch mit dem Fahrrad oder zu Fuß? Bloß nicht! Schauen Sie sich die Digitalsklaven in Ihrer Umgebung an: Mindestens achtzig Prozent aller Radfahrer lassen sich freihändig fahrend von ihren Kopfhörern beschallen, derweil sie die neuesten Facebook-Nachrichten lesen.

Am besten bleibt man einfach zu Hause im Bett. Für alles andere außerhalb der eigenen Räumlichkeiten, das man dadurch verpassen könnte, gibt es Apps.

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* Das ist nicht lustig. Und bei allem Respekt gegenüber der Staatsgewalt: Es fällt mir schwer, das zu glauben. Wer sich ein bisschen mit der Eisenbahn beschäftigt, weiß, dass bei der heutigen Sicherheitstechnik der Bahn schon einige sehr gezielte, vom Regelablauf abweichende Tätigkeiten erforderlich sind, um es zu schaffen, zwei Züge gleichzeitig auf eine eingleisige Strecke zu schicken. Reine Unaufmerksamkeit durch ein Ballerspiel reicht dazu nicht aus. Der Respekt vor den zwölf Toten und über achtzig Verletzten verbietet es, Mutmaßungen darüber anzustellen, ob es sich bei dem Spiel um eines mit Zügen handelte.

Nicht nur in Bonn blühen die Kirschen

Wie jedes Jahr blühen in der Bonner „Altstadt“ die Zierkirschen und ziehen mit ihrer rosafarbenen Pracht immer mehr Menschen aus nah und fern an, das Blütenwunder zu bestaunen, zu fotografieren und zu feiern; erstmals wurden in diesem Jahr zeitweise gar die Hauptblühstraßen für den Autoverkehr gesperrt, um die im Staunen und Fotografieren versunkenen nicht zu gefährden.

Doch nicht nur in Bonn blühen Kirschen, sondern auch in der französischen Provence, wo wir sie in der zurückliegenden Woche bewundern konnten. Die provencalischen Blüten sind zwar nicht so schön rot, dafür wachsen aus ihnen in einigen Wochen wunderbare, wohlschmeckende Früchte, während die Bonner Blüten in ein paar Tagen von Bonnorange aufgekehrt werden.

Provence-Kirschen - 1

Provence-Kirschen - 1 (1)

Provence-Kirschen - 1 (2)

Provence-Kirschen - 2

Kein Schmähgedicht

Werter Präsident der Türken,

betrachte ich so all dein Wirken,

fällt es mir schon ziemlich schwer,

dich zu mögen – nein vielmehr

möchte ich, wie Böhmermann

dich verschmähen irgendwann:

Bezichtigen dich vieler Leichen,

mit einem Nazi dich vergleichen.

Dich Drecksack schimpfen, Kurdentöter,

Schwerverbrecher, Volksverräter,

einen Teufel und Despoten.

Doch lasse ich es, da verboten.

Womöglich schickst du uns sonst Panzer,

das möchte ich nicht.

Grüße

Stancer

Ode an den Montag

Montagmorgen, sieben Uhr. Bevor der Nachrichtensprecher im Radiowecker einen Satz zu Ende sprechen kann, bringe ich ihn mit einem blind beherrschten Knopfdruck zum Schweigen. Nicht die Schlummertaste – eine in meinen Augen höchst unsinnige Erfindung, sie verlängert das morgendliche Leiden nur unnötig. Ich bin wach, oder – na ja – ich schlafe jedenfalls nicht mehr. Eine neue Woche beginnt, fünf neue Arbeitstage, fünfmal früh aufstehen. Eine grausame Erkenntnis, jede Woche erneut. Noch ein paar Minuten bleibe ich liegen, beklage stumm das Dasein, dann aktiviere ich alle verfügbaren Kräfte, raus aus dem Bett, ins Bad, wo mich zwei müde Augen aus dem Spiegel bedauernd anschauen.

Später lustlos eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser am Küchentisch, mehr bekomme ich um diese Zeit nicht runter, an essen nicht zu denken. Es soll Menschen geben, denen es mühelos gelingt, schon frühmorgens ein ausgiebiges Frühstück im fröhlichen Kreise der Lieben zu genießen. Wie machen die das nur? Stattdessen Trübsal am Küchentisch. Wenn sich die Menschen aufteilen in Eulen und Lerchen, dann bin ich eine Miesmuschel. Montagmorgen ist Mist.

Es hilft nichts, um kurz vor acht muss ich mich unter Menschen begeben, verlasse den Küchentisch und schleppe mich zur Haltestelle der Bahn. Da ist wieder dieser komische Vogel mit dem Käppi, der den Fahrscheinautomaten mit Münzgeld aus einem Blechdöschen füttert und sich einen Einzelfahrschein zieht, jeden Morgen. Warum macht er das? Warum kauft er sich keine Mehrfahrten- oder Monatskarte? Vielleicht sieht er darin ja einen unangemessenen Vorschuss an die Verkehrsbetriebe, dessen Einlösung er sich nicht sicher sein kann, könnte ihn doch noch heute der Schlag treffen. Es gibt solche Menschen.

Im Büro ringe ich mir ein „Guten Morgen“ ab, wissend, dass nichts an diesem Morgen gut ist. Meine um diese Zeit schon gut gelaunten Kolleginnen und Kollegen, allesamt Lerchen, wissen, dass Sprechen für mich um diese Zeit höchste Qual bedeutet, und nehmen Rücksicht darauf, meistens jedenfalls. Nicht nur deshalb mag ich sie, trotz ihrer guten Morgenlaune.

Während der Rechner hoch fährt, gönne ich mir einen Kaffee und einen Biss ins mitgebrachte Bütterchen, so langsam gelingt es mit fester Nahrung. Das Telefon klingelt, Unverschämtheit. Da ich die angezeigte Nummer nicht kenne, ignoriere ich es, soll später noch mal anrufen, oder eine Mail schreiben – oder am besten mich in Ruhe lassen. Mit Desinteresse schaue ich die seit Freitag aufgelaufenen Mails an. Mein Körper sitzt am Schreibtisch, der Geist ist noch nicht angekommen, befindet sich noch im Wochenend-Modus; es fühlt sich an, als sei das Hirn in Bleiwatte gepackt. Verständnislos nehme ich zwei Mails zur Kenntnis, die am Sonntagnachmittag geschrieben wurden. Warum glauben manche Menschen, das tun zu müssen, wissen die am Wochenende nichts mit sich anzufangen?

Neun Uhr dreißig. Die Woche zieht sich. Telefonkonferenz. Man redet gegen die üblichen Störgeräusche an (wobei schon mancher Wortbeitrag quasi ein Störgeräusch ist), mir gelingt es nicht, mich am Gespräch zu beteiligen, dem besprochenen Thema Interesse entgegen zu bringen. Ich nehme eine bequeme Sitzposition auf dem Schreibtischstuhl ein, popele ausgiebig und ziehe Grimassen, ein echter Vorteil der Telefonkonferenz gegenüber einer Besprechung am Tisch. In jeder Hinsicht abwesend, lasse ich meinen Blick schweifen nach draußen, über den Rhein, und wünschte, jetzt dort unten zu sein, am Rheinufer, wo ich mit einem kühlen Getränk den Schiffen zuschauen könnte. Ob so ein Rheinschiffer wohl seinen Beruf liebt? Oder schaut er neidisch zu uns herauf, denkt sich „Die haben es gut in ihren klimatisierten Büros, mit geregelter Arbeitszeit, Fünftagewoche, Kantine und Bonuszahlung“? In der Tat, tauschen möchte ich nicht mit ihm, oder jedenfalls nur ganz selten.

Doch ab etwa sechzehn Uhr wird es besser. Die Aussicht auf den mehr nicht allzu fernen Feierabend lässt die Bleiwatte aufreißen wie ein Sonnenstrahl die Wolkendecke nach einem trüben Regentag. Auf dem Flur ist es ruhiger geworden, die ersten Lerchen sind schon abgezwitschert. Eine gute Stunde später fahre auch ich den Rechner runter mit halbwegs passabler Laune und der Gewissheit, dass es morgen besser wird.

Zu Hause tausche ich den Anzug gegen Laufklamotten, gleich wieder raus, runter zum Rhein, laufe bis zur Nordbrücke und auf der anderen Seite zurück. An manchen Tagen eine Qual, an anderen läuft es richtig gut, fast wie von selbst. Spätestens nach dem anschließenden Brausebad ist die Bleiwatte vollständig aufgelöst. Die Wetterkarte im Fernsehen zeigt die Vorhersage für Freitag an, ein erster Ausblick auf das nun schon etwas näher gerückte Wochenende. Während der Verlesung der Sportnachrichten lese ich, was die Ironblogger in der letzten Woche geschrieben haben. Später ein Glas Rotwein mit dem Liebsten, der Rest vom Wochenende. Dazu ein Abendzigarettchen. Zeitig ins Bett. Glücksgefühl.

Montagabend ist schön.

Zugewachsen

Wir leben in einer Zeit des Jugendwahns: Gesichtsfalten werden mit Cremes glattgespachtelt, Männer oberhalb der Fünfzig tragen T-Shirts mit tiefem V-Ausschnitt, Kapuzenshirts und aufgekrempelte oder per se etwas zu kurze, nach unten verengte Röhrenhosen, dabei zu jeder Jahreszeit Sneakersöckchen, welche einen Blick auf ihre runzligen Fesseln gewähren, in Sneakers mit heller Sohle oder Chucks; zudem transportieren sie ihre Pillen gegen nächtlichen Harndrang in trendigen Umhängetaschen oder Rucksäcken (schlimmstenfalls mit niedlichen Stoffbärchen daran baumelnd), anstatt dafür altersangemessene Herrenhandtaschen zu benutzen. Das ist nicht schlimm und auch nicht neu.

Doch gibt es seit einiger Zeit einen gegenläufigen Trend, den ich mit zunehmender Sorge wahrnehme: die Vergreisung der Jugend. Damit meine ich nicht diese seltsam-gruselige Krankheit, deren Namen zu recherchieren ich gerade zu faul bin, welche bereits Kleinkindern das Antlitz von Helmut Schmidt oder Inge Meysel im Spätherbst ihrer Jahre zuteil werden lässt. Vielmehr meine ich die freiwillige Verunstaltung junger Männer, die immer mehr um sich greift: Bärte. Nicht Drei- oder Mehrtagesbärte, denen eine gewisse Ästhetik abzusprechen mir fern liegt, zumal ich selbst seit längerem – allein schon aus Gründen der morgendlichen Zeitersparnis – auf die tägliche Rasur verzichte. Ich meine diese Rauschebärte, welche in früheren Zeiten Karl Marx, Rübezahl, der Nikolaus oder Vader Abraham trugen, allesamt Herren im gesetzteren Alter.

Heute hingegen lassen sich bereits Zwanzig- bis Dreißigjährige mit großer Begeisterung die Physiognomie zuwuchern. Zum Beispiel Philipp, der Student von gegenüber*. Seine das Äußere bestimmenden Gene meinen es gut mit ihm; als er vor zwei Jahren einzog, war er ein Jüngling von ausnehmender Schönheit, mit jungenhaften Gesichtszüge von auffallender Symmetrie wie eine antike Marmorstatue, nur nicht so nackt. Ihn mit einer aschenbachschen Bewunderung zu beschwärmen drängte sich mir geradezu auf. Doch dann beschloss Philipp, sich nicht mehr zu rasieren. Anfangs sah das richtig gut aus, siehe oben; diese Mischung aus Jungenhaftig- und Männlichkeit entbehrte nicht ihres Reizes. Doch leider ließ Philipp es weiter wachsen, heute sieht er aus wie der Almöhi auf Stadtbesuch.

Bis vor einiger Zeit las ich regelmäßig ein Blog, dessen Verfasser Mitte dreißig und ebenfalls stolzer Träger eines papaschlumpfartigen Rauschebartes ist. Da er ungefähr in jedem zweiten Eintrag sein Gesichtsgewächs thematisierte, stets mit dem Hinweis darauf, dass seine Mitbewohnerin nur mäßig angetan von dem Gestrüpp war, verzichte ich irgendwann auf die weitere Lektüre, es wurde mir einfach zu haarig. Warum wollte er auch nicht auf seine Freundin hören?

Doch damit nicht genug: Auch die Kopfbehaarung wird zunehmend Gegenstand gewollter jungmännlicher Verunstaltung. Früher waren es Pferdeschwänze, die manche Männer aus mir unerfindlichen Gründen zum Zwecke der Selbstverhässlichung trugen. (Hier könnte ich darauf hinweisen, dass ich darauf verzichte, den reichlich ausgefransten Scherz anzubringen, mit Pferdeschwanz selbstverständlich nur die Frisur zu meinen und nicht tieferliegende Körperregionen; doch erspare ich uns diesen nur mäßig originellen Hinweis, daher betrachten Sie diesen Klammervermerk bitte als ungeschrieben.) Der heutige Jungmann trägt stattdessen eine Art Dutt am oberen Hinterkopf wie früher meine Großmutter mütterlicherseits; es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis entsprechende Wollmützen angeboten werden mit einer kleinen Ausstülpung ähnlich einem Kondom. Was indes junge Männer dazu treibt, auch im Hochsommer Wollmützen über ihr Haupt zu stülpen, ist ein weiteres Rätsel dieser modisch fragwürdigen Zeiten.

Jungs, ich weiß nicht, welchem Wahn ihr verfallen seid, anzunehmen, hotzenplotzeske Rauschebärte seien eine Zierde. Angeblich sollen ja irgendwelche Berliner Hipster damit angefangen haben. Bitte glaubt mir, beim Barte des Proleten, es sieht einfach nur scheiße aus. Und wenn nicht mir, so wenigstens eurer Freundin oder Oma. Oder schaut einfach mal wieder in den Spiegel.

Der ostwestfälische Heimatdichter Heinrich Heidland brachte es einst auf den Punkt:

Vollbärte
Einst trug ihn Rübezahl, Karl Marx,
Der Öhi und der Nikolaus.
Heut’ junge Männer in den Parks.
Doch scheiße siehts noch immer aus.

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* Eine Kunstfigur, gegenüber ist das Landgericht, da wohnt kein Student und auch sonst niemand, jedenfalls nicht dauerhaft. Aber aus Gründen der Dramaturgie habe ich Philipp soeben erfunden; er steht stellvertretend für tausende junge Männer, auf die das Beschriebene haargenau** zutrifft.

** Ich hoffe, Sie erkennen das Wortspiel.