Woche 44: Griesgram und Muckertum

Montag: „Ich sage ausdrücklich: Es ist schade“, sagt Horst Seehofer nach Angela Merkels Ankündigung, künftig nicht mehr als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin anzutreten. Das glauben wir ihm ohne Zweifel, also jedenfalls mit dem von ihm wahrscheinlich gedachten Zusatz „… dass sie nicht sofort in den Sack haut“.

Dienstag: Nun also Brasilien. Bei Betrachtung der weltpolitischen Entwicklungen liegt die Befürchtung nahe, dass die Zeiten für pazifistische Agnostiker in polyamorph-gleichgeschlechtlichem Beziehungsgefüge nicht besser werden.

Mittwoch: Noch einmal, weil es so schön ist, aus Bullshit-Jobs von David Graeber:

Wo früher […] Unternehmen […] durch eine Kombination aus relativ einfachen Befehlsketten […] gelenkt wurden, haben wir heute eine Welt mit Finanzierungsanträgen, Dokumenten über strategische Visionen und den Verkaufsgesprächen von Entwicklungsteams – was die endlose Verfeinerung neuer, immer sinnloserer Ebenen in der Managerhierarchie möglich macht. Sie alle sind mit Männern und Frauen besetzt, die beeindruckende Titel tragen und fließend den Unternehmensjargon sprechen, aber entweder von vornherein keine Erfahrung mit der eigentlichen Arbeit besitzen, die sie angeblich verwalten sollen, oder alles in ihrer Macht stehende getan haben, um sie zu vergessen.

Halloween. Die Stadt wird von albern geschminkten Menschen unsicher gemacht.

Donnerstag: Wenn ich es richtig verstanden habe, ist Allerheiligen eine Art religiöses Resteessen, welches die Katholiken ihren Heiligen der zweiten Garnitur widmen, die keines eigenen Feiertages würdig sind. Mir, dem wenig heilig ist, soll es recht sein, immerhin muss ich dadurch heute nicht ins Werk. Wobei auch dort reichlich Irre Menschen herumlaufen, die sich selbst im Glanze einer gewissen Göttlichkeit sehen, wenn auch ohne Anspruch auf einen Feiertag. Dabei wäre ich durchaus bereit, zum jährlichen Gedenken des Tages, an dem eine bestimmte, hier nicht näher benannte Person im gegenseitigen Einvernehmen aus dem Turm gejagt wurde, eine Kerze zu entzünden. Darf ich aber nicht, da Kerzenentzündungen im Büro unzulässig sind. Dann eben nicht.

Statt ins Werk machten wir einen Ausflug ins Ahrtal, wo es erst regnete und dann Wein zu verkosten gab. Der Profi benetzt bei einer Weinverkostung mit kleinen Schlucken seine Geschmackszellen und spuckt danach aus. Da ich kein Profi bin und mir zudem das Ausspeien als eine Respektlosigkeit gegenüber des Winzers Mühen erscheint, halte ich es lieber mit Wilhelm Busch:

Er hebt das Glas und schlürft den Rest / weil er nicht gern was übrig lässt.

KW44 - 1

KW44 - 1 (1)

Freitag: Brückentag, neben „Doppelhaushälfte“ und „Auslegeware“ eines der schönsten deutschen Wörter. Schön ist auch „Blümeranz“, wenn auch nur das Wort, weniger der Zustand, den es beschreibt. Durch letztere ausgelöst stellt sich mir die Frage, ob die spuckenden Profis vielleicht doch recht haben.

Samstag: Nicht David Graeber, sondern Christian Wüst schreibt im SPIEGEL:

„Auf je­den jun­gen Klemp­ner kom­men mitt­ler­wei­le ein Dut­zend smar­te Busi­ness-Con­sul­tants, die ih­ren Lap­top auf­klap­pen, lan­ge Vor­trä­ge über den Fach­kräf­te­man­gel hal­ten und auf dem di­gi­ta­len Post­weg flugs die Rech­nung hin­ter­her­schi­cken.“

Wenngleich mir alles Militärische zutiefst zuwider ist, so nehme ich doch mit Stolz meine Beförderung der Karnevalsgesellschaft Fidele Burggrafen Bad Godesberg e. V. zum Leutnant „in Anerkennung seines aktiven Kampfes gegen Griesgram und Muckertum“ zur Kenntnis. Gerade in Zeiten wie diesen, da schon der Tweet eines Präsidenten oder ein halb aufgegessenes Käse-Laugen-Gebäck zu ernsthaften Spannungen führen kann. Alaaf!

Sonntag: Das neue Lied von Herbert Grönemeyer erscheint typisch für ihn: keine erkennbare Melodie und man versteht kein Wort, weder akustisch noch inhaltlich.

Ebenfalls nicht zu verstehen ist, warum ein verkaufsoffener Sonntag massenweise Menschen in die Stadt zu locken vermag, bevorzugt natürlich mit dem Auto.

Erkenntnis des Tages: Im Rewe am Friedensplatz gibt es keine Nougat-Marzipan-Baumstämme, jedenfalls nicht für mich auffindbar. Sehr schwach.

Reisewarnung

Wir leben in unsicheren Zeiten. Neulich nahm ich an einer dienstlichen Busreise nach Aachen teil. Da ich es bei Reisen aller Art bevorzuge, meinen Blick aus dem Fenster zu richten anstatt auf ein Gerät in meiner Hand, und da unser Busfahrer nicht zu den Schleichern zählte und deswegen die meiste Zeit die mittlere Fahrspur der A4 nutzte, schaute ich, was die von uns überholten LKW-Fahrer so machten. Nämlich dieses:

Sie telefonierten,
sie lasen mein Blog oder wasweißichwas auf dem Datengerät,
sie lasen Zeitung,
sie aßen und tranken,
einer wischte Staub,
einer rasierte sich,
einer onanierte,
einer machte seine seine Steuererklärung.

Na gut, die letzten vier sind Nektar aus der Blüte meiner Phantasie, ich habe sie freihändig hinzugefügt. Gewundert hätte es mich indes nicht. Ein paar wenige fuhren auch einfach, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet. Aber wahrscheinlich dachten sie dabei an Sex mit ihrer Steuerberaterin oder, je nach Präferenz, dem Finanzminister.

In Anbetracht dieser beunruhigen Beobachtungen erscheint es nicht mehr ratsam, sich zum Zwecke des Reisens auf die Straße zu begeben. Aber wie sollen wir uns sonst fortbewegen? Mit der Bahn? Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft war der Frontalzusammenstoß zweier Regionalzüge im Februar in der Nähe von Bad Aibling darauf zurückzuführen, dass ein Fahrdienstleiter seine Aufmerksamkeit nicht der Regelung des Zugverkehrs widmete, sondern einem Spiel auf seinem Smartphone.*

Also nur noch mit dem Fahrrad oder zu Fuß? Bloß nicht! Schauen Sie sich die Digitalsklaven in Ihrer Umgebung an: Mindestens achtzig Prozent aller Radfahrer lassen sich freihändig fahrend von ihren Kopfhörern beschallen, derweil sie die neuesten Facebook-Nachrichten lesen.

Am besten bleibt man einfach zu Hause im Bett. Für alles andere außerhalb der eigenen Räumlichkeiten, das man dadurch verpassen könnte, gibt es Apps.

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* Das ist nicht lustig. Und bei allem Respekt gegenüber der Staatsgewalt: Es fällt mir schwer, das zu glauben. Wer sich ein bisschen mit der Eisenbahn beschäftigt, weiß, dass bei der heutigen Sicherheitstechnik der Bahn schon einige sehr gezielte, vom Regelablauf abweichende Tätigkeiten erforderlich sind, um es zu schaffen, zwei Züge gleichzeitig auf eine eingleisige Strecke zu schicken. Reine Unaufmerksamkeit durch ein Ballerspiel reicht dazu nicht aus. Der Respekt vor den zwölf Toten und über achtzig Verletzten verbietet es, Mutmaßungen darüber anzustellen, ob es sich bei dem Spiel um eines mit Zügen handelte.