Zwischen den Jahren

Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester wird gerne „zwischen den Jahren“ genannt. Das ist natürlich Unsinn: Wie ein Blick in den nur noch dünnen Kalender zeigt, befinden wir uns noch immer im alten Jahr, das in letzten Zuckungen dem Ende entgegen siecht.

Und doch haben diese Tage etwas Zwischenzeitliches, jedenfalls wenn man keinen Urlaub hat: Die wesentlichen Aufgaben des Jahres sind erledigt, alles andere kann bis zum nächsten Jahr warten. Nächstes Jahr – wie fern das klingt, dabei ist es schon nächste Woche, übermorgen bereits. Man fängt nichts Neues mehr an, dafür macht man früh Feierabend, wenn man die Möglichkeit hat. Für das wenige, was noch zu tun ist, nimmt man sich Zeit, auch für Dinge, zu denen man sonst nicht kommt. Hektisch wird es erst wieder im neuen Jahr, wenn sie alle zurück sind aus dem Weihnachtsurlaub und die anderen mit Mails, Anrufen, Powerpoint und Besprechungen behelligen; alles dringend, alles wichtig.

Bis dahin herrscht himmlische Ruhe – das Telefon schweigt, kaum Maileingang, der Kalender terminfrei. Das Kantinenangebot ist eingeschränkt, wir sind noch satt von Weihnachten. Auch in den Büros ist fast niemand, daran wird sich indes auch im neuen Jahr so bald nicht viel ändern. Insofern hat „zwischen den Jahren“ noch eine andere, durchaus zutreffende Bedeutung bekommen.

Woche 51/2021: Konsumskepsis mit Weinbegleitung und Schleichkatzen

Montag: Kurz vor Jahresende steht der Umfang der anstehenden Aufgaben in einem günstigen Verhältnis zur Anzahl der Stunden auf dem Gleitzeitkonto. Dies ermöglichte heute einen sehr zeitigen Feierabend, und die Hoffnung scheint begründet, dass sich daran in dieser und der kommenden Woche nicht mehr viel ändern wird.

Ansonsten habe ich zurzeit wenig Hoffnung: In diesen Tagen ist immer wieder zu lesen, Omikron sei keine Welle, sondern eine Wand. Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll, merke indes, wie mich das belastet, nervt, was mit mir macht, wie Sprachfrevler es ausdrücken: die Unsicherheit, was bald auf uns zukommen mag, die Aussichtslosigkeit, es könnte in absehbarer Zeit besser werden. Und ich merke, wie ich zunehmend gereizt reagiere auf Menschen, meine Lieben gar, auf Geräusche aller Art wie Waschmaschine, Fernseher, Telefon. Vielleicht ist es auch nur der übliche Montagsverdruss oder der Vollmond, und schon morgen begegne ich den derzeitigen Imponderabilien wieder mit angemessenem Leichtsinn.

Dabei sollen Momente der Freude nicht unerwähnt bleiben: „Die sehen wirklich toll aus. Und die schwimmen alle oben, das haben die sonst nie gemacht.“ (Wer das bei welcher Gelegenheit gesagt hat, sei verschwiegen. Denken Sie sich einfach was Schönes aus.)

Dienstag: Heutet ist der kürzeste Tag des Jahres. Immerhin darauf kann man sich noch verlassen. Und es besteht Hoffnung, dass die Tage ab morgen wieder länger werden. Auch meine Laune erhellt sich etwas, obwohl sich an den allgemeinen Umständen nichts geändert hat. Manchmal ist das so.

Die Zeitung berichtet über den „Spaziergang“ von etwa achthundert Querpfeifen und ihren Freunden gestern Abend durch die Bonner Innenstadt. Initiator war eine Gruppe mit dem Namen „Studenten stehen auf“, was der Grund dafür sein mag, dass der Marsch erst abends stattfand. Eine Teilnehmerin äußerte gegenüber der Zeitung, sie sei »für das Grundgesetz und verstehe nicht, wieso wir unsere Grundrechte entzogen bekommen haben«, auch sei sie weder Querdenk- noch Verschwörerin. Dafür offenbar eine Idiotin.

Dazu passend wird ein Polizist im SPIEGEL zitiert: »Setzt einfach eure Masken auf und erspart uns euren Wohlstandstrotz.«

Melanie S. aus B. beklagt in einem Leserbrief an den General-Anzeiger, sie sei auf dem Weihnachtsmarkt von einem Mann „aus der aggressiven Bettlerszene“ beleidigt worden, nachdem sie nichts rausrücken wollte. »Für mich ist das ein wesentlicher Grund, mehr im Internet einzukaufen«, so die Dame, sich im Netz vor Beleidigungen und Pöbeleien offenbar sicher wähnend. (Bitte denken Sie sich an dieser Stelle Hintergrundgelächter vom Band.)

Abends hier gelesen: »Dreimal werden wir noch wach, Heißa, dann ist Donnerstach«. Das wäre keiner Erwähnung wert, wäre mir nicht exakt dieser Satz – nur mit „Zweimal“ statt „Dreimal“- heute Mittag beim Verdauungsspaziergang durch den Rheinauenpark eingefallen, also bevor ich ihn abends las. Hätte es irgendeine Relevanz, wäre ich bereit, das zu beschwören.

Auch mittags war es noch ziemlich frisch.

Mittwoch: Am für mich letzten Arbeitstag der Woche ging ich trotz Kälte zu Fuß ins Werk.

Die Hoffnung auf ein wärmendes Getränk auf dem Rückweg erfüllte sich leider nicht, weil der Verkaufsstand am Rheinpavillon (zweites Bild oben) gerade erst öffnete. Nachteil des frühen Feierabends.

Donnerstag: Während andere mit mehr oder weniger großer Freude Driving home for Christmas praktizierten, verbrachten wir die Weihnachtstage an der Mosel. Man ist schon schäbiger untergekommen.

Unsere Zimmerbeleuchtung

Freitag: Heiligabend. Unser Hotelzimmer verfügt über einen Erker mit Blick auf den Fluss, wo es sich vorzüglich sitzen und lesen lässt, zwischendurch immer wieder mit einem Blick in das wolken- und nebelverhangene Moseltal. Hier sitzen- und lesenzubleiben, bis Weihnachten vorbei ist, ist ein reizvoller Gedanke, der sich allerdings nur schwer umsetzen ließe.

Im Ort gibt es übrigens einen Fachbetrieb für Klangschalen und Zubehör, falls Sie da mal Bedarf haben.

Samstag: Rückblickend war der Heilige Abend schön. Kurzzeitig entstand leichte Hektik, nachdem wir eher zufällig um kurz vor sechs erfahren hatten, dass das gebuchte Weihnachtsmenü bereits um achtzehn statt angenommen zwanzig Uhr beginnt. Es verlief dann dennoch sehr zufriedenstellend. Auch der zuvor vereinbarte Nichtschenkungspakt wurde von allen eingehalten, was die Zufriedenheit nochmals steigerte. Für mich, der alles hat und weder weiß, was er sich wünschen noch den Lieben schenken soll, und dem eine wachsende Konsumskepsis innewohnt, ist es höchst entspannend, sich darüber keine Gedanken mehr machen zu müssen.

Auch die Auswirkungen der gestrigen Weinbegleitung hielten sich am Morgen in Grenzen. Dennoch ließen wir den Tag ruhig angehen. Während ich diese Zeilen im gestern besungenen Erker niederschreibe, mit Blick auf das immer noch regnerisch bewölkte Moseltal, sind vom Bett gegenüber regelmäßige Atemgeräusche zu vernehmen. Mehr Besinnlichkeit ist kaum vorstellbar.

Man beachte, nicht eine einzige Lichterkette ist zu sehen. Dennoch war es sehr besinnlich, trotz Aussicht auf das Gewerbegebiet am anderen Ufer.

Falls auch Sie Religion und Christentum im Allgemeinen sowie Weihnachten im Besonderen mit Skepsis begegnen, sollten Sie das hier lesen.

Sonntag: Nach Rückkehr von der Mosel wirkte die eigene Wohnung vorübergehend etwas klein und schlicht.

Was anderes: Sie wollten schon immer mal eine Straßenbahn fahren? Dann bitte hier entlang. Die Kunst liegt darin, den Wagen an den Haltestellen so passend am Bahnsteig anzuhalten, dass die Fahrgäste ein- und aussteigen können, also wie in echt. Doch Vorsicht, es kann ein wenig süchtig machen. Vielen Dank an Thomas für den Link!

Auch diesen Rückblick beschließe ich mit einigen Bildern der Woche.

Schlosshotel Lieser in Lieser an der Mosel. Nicht die günstigste Unterkunft am Ort, doch sehr zu empfehlen.
Reben im Winterschlaf
Stilleben mit Rädern
Darüber nachzudenken, welchen Weg diese Kaffeebohnen gegangen sind, ehe sie in der Tasse ihre intensive Geschmacksfülle entfalten, könnte sich negativ auf die Kaufentscheidung und den Aromagenuss auswirken.

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Ich hoffe, Sie sind gut durch die Weihnachtsfeiertage gekommen und wünsche Ihnen nun eine angenehme Woche „zwischen den Jahren“.

Woche 50/2021: An was denkt man in einem Silo?

Montag: Vergangene Woche, das heißt gestern zum Zeitpunkt, da ich es schreibe und vor einer Woche, wenn Sie es lesen, berichtete ich über den bedauernswerten Menschen, der in der Postbankfiliale lag und mich zu einem Notruf veranlasste. Heute Morgen, als ich auf dem Weg ins Werk an der Filiale vorbei fuhr, lag er noch immer oder schon wieder an der beschriebenen Stelle. War wohl ein Fehlalarm gewesen, konnte man ja nicht wissen, oder „steckt man nicht drin“, wie manche in sprachlicher Gleichgültigkeit zu sagen pflegen, eine unschöne Vorstellung. Dennoch würde ich grundsätzlich wieder so handeln, man weiß ja nie.

Dienstag: Schon länger drängte der Liebste, endlich einen Ohrenarzt aufzusuchen, da ich nicht mehr so gut höre – bei Gemurmel, Laubbläsern oder Pressluftgehämmer im Hintergrund fällt es mir zunehmend schwer, einem Gespräch zu folgen. Heute nun war ich dort. Nach einer recht interessanten Prozedur, bei der mein Vermögen, Töne und Wörter in unterschiedlichen Höhen und Lautstärken zu erkennen abgeprüft wurde, beschied man mir eine durchaus vorhandene, indes unerhebliche Hörschwäche, die noch keine Maßnahmen erfordert, vielmehr solle ich es weiter beobachten und in einem Jahr wiederkommen. Als Freund der leisen Töne und des beobachtenden Abwartens bin ich mit der Diagnose sehr einverstanden; im Übrigen, und da wiederhole ich mich, ist es nicht zwingend ein Nachteil, wenn man nicht alles versteht.

Auf dem hiesigen Weihnachtsmarkt gibt es übrigens Glühhanf, was auch immer das ist. Vielleicht komme ich demnächst mal dazu, es zu probieren, vielleicht auch nicht. Das wäre nicht schlimm, man muss nicht nur nicht alles verstehen, auch nicht alles probieren.

Mittwoch: Liebe Journalisten, aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass ein Meiler eine in früheren Zeiten übliche Methode zur Herstellung von Holzkohle bezeichnet; vereinfacht beschrieben wird dabei ein mit Erde bedeckter Holzhaufen in Schwelbrand versetzt. Was ein Meiler indessen nicht ist, auch wenn Sie nicht müde werden, den Begriff in diesem Zusammenhang zu verwenden: ein Kraftwerk, weder mit Kohle noch Atom betrieben.

Donnerstag: Laut der PSYCHOLOGIE HEUTE gehen uns ungefähr zwanzig Personen aus unserem direkten Umfeld regelmäßig auf die Nerven. – Wirklich nur so wenige?

Andererseits kenne ich zum Glück zahlreiche Menschen, die ich sehr schätze, einige wenige sogar, denen ich noch niemals persönlich begegnet bin. Eine derart bislang unbegnete Person hat mich heute mit einem Päckchen überrascht, darin ein als Geschenk eingepacktes Buch. Darf ich das wohl schon auspacken, oder erst Weihnachten?

Abends ging es um Tausendfüßler (die, am Rande bemerkt, üblicherweise nur etwa 750 Füße haben, wer hätte das gedacht, wobei sich die Bezeichnung „Siebenhundertfünfzigfüßler“ verständlicherweise nicht durchgesetzt hat); Kommentar des Geliebten: „Bis der sich mal die Nägel geschnitten hat, ist er tot.“

Freitag: Nächste Woche ist Weihnachten. Selten war mir das so egal wie in diesem Jahr; die Gründe dafür dazulegen fällt schwer, da ich sie selbst nicht genau kenne. Ich bitte alle, denen dieses Fest etwas bedeutet, um Verzeihung.

Das folgende Bild dürfte eher geringe Aussichten auf die Auszeichnung „Pressefoto des Jahres“ haben:

(Aus einem Artikel über unerwünschte Werbeanrufe im General-Anzeiger Bonn)

Samstag: Man solle „weniger in Silos denken“, war wieder mal zu lesen. Wann waren Sie zum letzten Mal in einem Silo und haben gedacht? Und an was?

Auch gelesen: »Nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.« Ist es nicht eine geradezu wunderbare Gabe, wenn jemandem solche Sätze einfallen?

Während der Fahrt zu einer regionalen Schokoladenmanufaktur spielten sie im Radio „Wonderful Christmastime“ von Paul McCartney. Während sich alle Jahre wieder alle Welt über „Last Christmas“ erbricht, nimmt an dem McCartney-Song niemand Anstoß, obwohl der keineswegs besser ist. Der andere ehemalige Beatle bewies hiermit eine für mein Empfinden wesentlich glücklichere Hand.

Sonntag: Bereits heute erledigten wir die familiären Weihnachtspflichten, verbunden mit einer Autofahrt nach Ostwestfalen am Morgen, Mittagessen in größerer Runde im Restaurant und abends wieder zurück. Wie immer war es erfreulich, sie alle wiederzusehen; nicht minder erfreulich die Rückkehr am Abend, zumal auf dem Balkon noch eine angebrochene Flasche Rotwein vom Vorabend der Leerung harrte.

Auf dem Weg dorthin fuhren wir an blühenden Rapsfeldern vorbei, also nicht so grell leuchtend wie im Mai, aber doch deutlich in gelber Blüte. Gab es das schon immer, Rapsblüte im Dezember, ist es mir nur bislang nie aufgefallen? Oder ist es ein weiteres Anzeichen, wie alles gerade mehr und mehr aus den Fugen gerät?

An einer die Autobahn überspannenden Brücke war von eindeutig unbefugter Hand in großen Buchstaben das Wort „UNFUG“ angebracht. In seltsamer Weise fühlte ich mich verstanden.

Ansonsten ist mein Bedarf an Radioweihnachtssongs mit Glocken und Schellen aller Art und dem Wort „Christmas“ darinnen bis auf weiters gedeckt.

Spontaner Gedanke I: Leichtsinn ist bei genauerer Betrachtung des Wortes nichts zu Rügendes, im Gegenteil.

Spontaner Gedanke II: Die Ähnlichkeit der Wörter „friedvoll“ und „frivol“ muss kein Zufall sein.

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Kommen Sie gut und leichten Sinnes durch die neue Woche; ich wünsche Ihnen friedvolle, wenn Sie mögen auch frivole Feiertage.

Woche 49/2021: Zurzeit vorübergehend sehr ruhig

Montag: Der Einzelhandel beklagt Umsatzeinbußen und Mehrkosten durch 2G-Kontrollen. Haben sie es noch nicht verstanden? Die Zeitung zeigt zu diesem Thema ein „junges Pärchen“, das vor dem Betreten eines Bonner Parfümfachgeschäftes ordnungsgemäß Impfnachweise vorlegt. Ab wann, beziehungsweise wodurch wird ein Pärchen eigentlich zum Paar? Jedenfalls nicht durch Zuwachs einer weiteren Person. Aber wahrscheinlich ist die Frage so unnötig wie die, von was ein Kaninchen die Verkleinerungsform ist.

Die Linke-Partei sei in einer „durchaus existenziellen Situation“, wird die Vorsitzende in der Zeitung zitiert. Sind wir nicht alle in einer existenziellen Situation?

Wie ich nicht aus der Zeitung, sondern eher zufällig durch Bloglektüre erfahren habe, gibt es in Aschaffenburg die Stiftskirche St. Peter und Alexander. Danach summte ich über längere Zeit das Lied von der kleinen Kneipe in unserer Straße vor mich hin.

Ansonsten befielen mich heute vorübergehend Mikroaggressionen, wenn auch nur theoretisch.

Dienstag: Eine möglicherweise vollständige Liste der Wortneuschöpfungen im Zusammenhang mit der Seuche finden Sie hier.

John Miles ist tot. Das hier wird niemals sterben.

Kantinengedanke am Mittag: Manchmal lautet die Antwort auf die Frage nach Glücksmomenten einfach „Erbsensuppe“.

Mittwoch: Der Aktienindex DAX ist gestiegen. Dazu die Zeitung: »Gute Konjunkturnachrichten und nachlassende Sorge wegen der Virusvariante Omikron trieben sämtliche Branchen nach oben.« Es war die Ausgabe von heute, nicht eine aus ferner Zukunft. Entweder leben die Börsenmenschen in einer Parallelwelt oder ich.

Ansonsten verdiente dieser Tag bereits von frühester Morgenstunde an das Prädikat „Auch das noch“, was sich erst mit einem erlösenden Anruf am späten Abend einigermaßen legte.

Donnerstag: Ich wurde zu einem Sync Call geladen. Bewundernswert, auf was für Wörter manche kommen, um geschäftig zu wirken.

Abends stand ich mit dem Fahrrad ungefähr zwanzig Minuten in der Bonner Südstadt vor geschlossenen Schranken und sah zu, wie in beide Richtungen ein Zug nach dem anderen durchfuhr, der letzte blieb gar mitten auf dem Überweg stehen. Wie lange er dort stand, weiß ich nicht, da ich mich schließlich für einen anderen Weg entschied. Sind solche Bahnübergänge womöglich Teil eines Sozialexperiments? Vielleicht beobachten weiß bekittelte Forscher durch Überwachungskameras die Wartenden und führen über Listen auf Klemmbrettern genaue Statistiken darüber, ab welcher Wartezeit sich die ersten abwenden und wie lange die letzten bleiben, ehe auch sie begreifen, dass sich die Schranken niemals mehr heben werden. Vielleicht ließe sich daraus auch eine schöne Verschwörungstheorie über die von der Bahn betriebene Spaltung der Gesellschaft erdenken: der Pofalla-Plan.

Freitag: „Über eine Auftragserteilung und kreative Zusammmenarbeit würden wir uns freuen“, steht unter einem Angebot. Gute, meinetwegen auch erfolgreiche Zusammenarbeit wäre meinem Vertrauen förderlicher, aber das ist wohl in meiner natürlichen Beamtenmentalität begründet.

Samstag: Mittags erhielten wir den dritten Stich. „Zwei Tage lang kein Alkohol“, sagte der Impfarzt. Das geht nun wirklich zu weit, da kann man die Impfgegner schon ein klein wenig verstehen.

Das dümmste Wort des Tages stand in einer Reklameanzeige in der Tagezeitung: „Lammfell-Advents-Shopping“.

Wo wir gerade bei Reklame sind – sofern auch Sie zu denjenigen gehören, die noch lineares Fernsehen schauen: Geht Ihnen diese Anita Frauwallner aus der Werbung für irgendeinen bakteriellen Zaubertrank auch so auf den Zeiger?

Sonntag: Aufgrund der am Mittwoch angedeuteten Ereignisse ist es zurzeit vorübergehend sehr ruhig in der Wohnung, zu ruhig. Ein wenig vermisse ich des Geliebten Vorwurf „Du siehst die Arbeit nicht.“ Selbstverständlich sehe ich sie, wie sollte ich ihr sonst aus dem Weg gehen?

Zu erledigende Geldgeschäfte ließen mich am frühen Nachmittag die örtlich Postbankfiliale aufsuchen. Vor dem rechten von drei Automaten, direkt am Fenster zur Fußgängerzone, lag ein Mann, augenscheinlich obdachlos, vielleicht aber auch nicht, das steht da ja nicht dran. Er lag da auch nicht so, wie Obdachlose es sich üblicherweise über die Wintermonate in Vorräumen von Bankfilialen, nun ja: bequem machen, sondern eher, als sei er dort einfach umgefallen. Nach kurzem Zögern rüttelte ich an ihm, fragte, ob er Hilfe benötige, woraufhin er kurz die Augen öffnete, Unverständliches murmelte und sie wieder schloss. Daher wählte ich – zum zweiten Mal innerhalb einer Woche, das nur am Rande – den Notruf, man fragte nach meinem Namen (Antwort: „K.., wie der Politiker“) und bat mich, bis zum Eintreffen des Rettungswagens zu warten. – Währenddessen suchten mehrere Bankkunden die Filiale auf, zogen ihr Geld oder Kontoauszüge, sahen den Mann zweifellos dort liegen, er war nicht zu übersehen, und gingen wieder, ohne sich darum zu kümmern. Es liegt mir fern, mich moralisch über sie zu erheben, zu oft schon sah ich selbst augenscheinlich Obdachlose irgendwo liegen, ohne mich darum zu kümmern, dachte, sie seien einfach nur betrunken, irgendwer würde sich bei Bedarf schon kümmern; ich würde zwar gerne selbst, aber in diesem Moment war es gerade sehr ungelegen. Auch schließe ich nicht aus, künftig wieder einfach weiterzugehen, die mögliche Hilfsbedürftigkeit aktiv übersehend, weil gerade Wichtigeres keinen Aufschub duldet.

Als die Rettungssanitäter eintrafen, fragte einer, ob ich den Mann kennte, nach Verneinung konnte auch ich gehen, von Fragen begleitet: Wie lange mochte er dort schon gelegen haben, von wie vielen Bankkunden und Passanten ignoriert? Vor allem, und die Frage stelle ich mir schon lange immer wieder: Warum müssen in einem Land wie unserem immer noch so viele Menschen obdachlos sein?

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche mit Glücksmomenten und ohne Notfälle.

Jungs in albernen Anzügen

ABBA hat ein neues Album rausgebracht, „Voyage“, eine kleine Sensation, nachdem sie vor fast vierzig Jahren aufgehört hatten, neue Alben herauszubringen. „The day before you came“ war einer ihrer letzten Hits, soweit ich mich erinnere, vielleicht auch der letzte, so genau weiß ich das nicht mehr und ich bin außerdem zu bequem, es zu recherchieren.

Das erste Mal sah ich ABBA bei ihrem legendären (ein großes Wort, ich weiß) Auftritt beim Grand Prix Eurovision de Dings, wo sie mit „Waterloo“ siegten. Von da an waren sie in Funk und Fernsehen häufig zu hören: „Fernando“, „I do, I do, I do“, „Gimme gimme“, „Thank you for the music“, „Move on“ (Kennen Sie nicht? Doch, bestimmt, aus der Werbung für ein Haarwaschmittel: „Schönes Haar ist dir gegeben, lass es leben …“), um nur einige zu nennen; Lieder, die fast jeder kennt und mitsingen kann.

Ich kann das übrigens nicht, seit jeher verstehe ich keine Liedtexte, nicht mal die deutschen, erst recht kann ich sie mir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht merken. (Als man im Auto noch Musik von Kassetten hörte, hatte ich eine mit der Bezeichnung „Zum Mitsingen“, darauf Lieder mit Textkenntnis, nicht nur, nein gar nicht ABBA, dafür zum Beispiel „Don’t look in anger“ von Oasis, eine weitere großartige Band, auf deren nächstes Album wir wohl auch noch mindestens vierzig Jahre warten müssen, „Don’t answer me“ von Alan Parsons Project, „A New South Wales“ von The Alarm und „Never tear us apart“ von INXS. Wenn ich alleine fuhr, kam diese Kassette in den Schlitz, Lautstärke aufgedreht bis nahe an die Schmerzgrenze und lauthals mitgegrölt.)

Doch, einen ABBA-Text konnte ich mal auswendig: „Does your mother know“, eines der wenigen Lieder, bei denen die beiden Männer auch mal singen durften. Überhaupt nahm ich Björn und Benny erst nach einiger Zeit als Bestandteil von ABBA wahr, bis dahin dachte ich, sie bestünden nur aus den beiden Frauen, der blonden und der dunklen, während die Jungs in den albernen Anzügen nur instrumentales Begleitprogramm waren. Dass die beiden gleichsam die Macher von ABBA waren und immer noch sind, ahnte ich mit acht Jahren noch nicht. Das Lied gehörte zum Repertoire unserer Kellerband in den Neunzigern, deren Sänger ich war. „Dancing Queen“ sangen wir auch, etwas später, als wir auch eine Sängerin hatten, die im Gegensatz zu mir ziemlich gut singen konnte. Zu Ruhm brachten wir es nicht, wir hatten nicht mal einen Bandnamen. „Böcker-Band“, weil zwei von uns, der Pianist und der Schlagzeuger, Cousins, Böcker hießen, setzte sich nicht durch. Immerhin hatten wir sogar einen Auftritt, auf der Hochzeitsfeier von Rainer K. Film- oder Tonaufnahmen gibt es davon meines Wissens nicht, jedenfalls hoffe ich das sehr. Aber ein Bild:

Wie die Ehen bei ABBA hielt auch die von Rainer leider nicht sehr lange. Ein Zusammenhang mit unserem Auftritt ist indes mit einigermaßen hoher Sicherheit auszuschließen.

Woche 48/2021: Wer es sich leisten kann

Montag: Die sogenannte Ampelkoalition plant ein Werbeverbot für Süßigkeiten, insbesondere sollen Kinder und Jugendliche nicht in süße Versuchung geführt werden. Dazu eine bekannte Bonner Naschwerkmanufaktur gegenüber dem General-Anzeiger: »So richten wir Werbung nicht an Kinder beziehungsweise Jugendliche unter 14 Jahren. […] Wir richten unsere Werbebotschaften immer an Erwachsene, die für den Lebensmitteleinkauf in einem Haushalt verantwortlich sind. Das gilt sowohl für die inhaltliche Gestaltung als auch für die Auswahl der Marketing- und Werbekanäle.« Dann ist es ja gut.

Dienstag: Eine Radiomeldung ließ mich bereits am frühen Morgen grinsen, was nur selten vorkommt. In Nordengland waren Pub-Besucher wegen eines Schneesturms drei Tage lang in der Gaststätte eingeschlossen. Sie überbrückten die Zeit mit Karaoke und Brettspielen. Ob sie dabei auch grinsten, wurde nicht gemeldet, es ist nicht ganz auszuschließen.

Laut Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat die Witwe von Helmut Kohl keinen Anspruch auf die Millionen-Entschädigung, die ihr verblichener Gatte wegen unautorisierter Veröffentlichung seiner Memoiren erstritten hatte. Dazu der Anwalt der Dame: „Wir werden unserer Mandantin raten, dem Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit zu geben, über diese Rechtsprechung seinerseits nochmals nachzudenken.“ Das wird die Richter sicher freuen.

Der Jahresrückblick des SPIEGEL lag im Briefkasten. Ist das nicht ein bisschen früh? Gerade in diesem Jahr kommt das Interessanteste vielleicht erst noch.

Mittwoch: Im Angebot der Kantine heute was vom Bruderkalb (also vom Neffen / der Nichte?) und was mit Gurkenwasserschaum. Habe mich für die Bratwurst mit Senf-Spitzkohl entschieden. Demnächst vielleicht was mit Rollmopswassersorbet. Oder Mäusegulasch.

Donnerstag: Morgens auf dem Weg ins Werk hörte ich auf dem Friedensplatz, wo die Weihnachtsmarktbuden noch verschlossen waren und die Maskenpflicht erst zweieinhalb Stunden später erwachte, eine Amsel singen, wie im Frühling. Vielleicht kommen auch die Singvögel so langsam durcheinander.

Der Kollege fragte per Mail einen größeren Verteiler, ob jemand Themen für die regelmäßige Rundmail an die Niederlassungen hätte, die jeden Freitag versandt wird; „Leermeldung nicht erforderlich“, so endete die Nachricht. Das Wort „Leermeldung“ mag ich, wobei ich nicht genau weiß, ob es in diesem Zusammenhang allgemein gebräuchlich oder Teil unseres eigenen Unternehmensjargons ist; egal, gemeint war: Wer nicht zu melden hat, möge schweigen (DAS sollte allgemein gelten, die Welt wäre zweifellos besser). Immerhin zwei Kollegen gaben dennoch eine nicht erforderliche Leermeldung ab, selbstverständlich an alle, auf dass ein jeder was zu löschen hatte.

Am liebsten lösche ich ja Durst. Weniger zu diesem Zweck, mehr wegen des Genussempfindens gönnte ich mir auf dem Rückweg vom Werk im nahezu menschenleeren Ausschank am Rhein zum zweiten Mal (siehe vorletzte Woche) einen Glühwein mit genussverstärkendem Amarettozusatz. Ab nächsten Donnerstag kann man das dann wohl Tradition nennen.

Freitag:In a nutshell geht es darum …“ schrieb einer in der Mail. Ein anderer sagte in der Besprechung, er habe nur mal laut ausgespeichert. Als dann auch noch eine „Das ist wie beim Fußball“ sagte, war es mit meiner Zuhörbereitschaft endgültig vorbei. Endlich Wochenende.

Auch meine Lesebereitschaft ist nicht grenzenlos. Das Buch »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« stand lange auf diversen Bestseller-Listen (einer der wenigen Anglizismen, die ich mangels Alternative vorbehaltlos akzeptiere). Deshalb nahm ich es mit, als ich es neulich im öffentlichen Bücherschrank vorfand. Nach 115 Seiten stelle ich fest: Die Geschichte spricht mich nicht an, außerdem zu viele Figuren, Orte und Zeitsprünge; es schmälert mir den Lesegenuss, wenn ich immer wieder zurückblättern muss, um nachzuvollziehen, wer das jetzt nochmal war, und das über mehr als vierhundert Seiten. Es geht wieder zurück in den Schrank. Es sei denn, Sie möchten es gerne haben, dann schreiben Sie mir eine kurze Nachricht.

Samstag: Auch in diesem Jahr wird es zu Silvester keine Knallerei und Feuerwerk geben, wurde beschlossen. Das ist wirklich schlimm für die Hersteller dieses Zeugs und für die Arbeitsplätze, die daran hängen. Aber eben auch nur für die.

Gegen Mittag suchte ich die Fußgängerzone auf, unter anderem um völlig überteuerte Minen (oder Mienen? Nein, Minen ist richtig, habe es nachgeschlagen) für meinen Kugelschreiber einer Schweizer Edelmarke zu kaufen, den ich mir vor zehn Jahren in einem unerfindlichen Anflug von Luxussucht gönnte, und den ich fast ausschließlich im Werk gebrauche. Da es dort im digitalen Zeitalter nur noch wenig mit der Hand zu schreiben gibt, hält so eine Mine sehr lange, was den hohen Preis über die Jahre etwas relativiert. Somit kein Grund zu getrübter Miene, jedenfalls nicht deswegen.

Während der Besorgung sah ich insgesamt drei junge Männer, die in kurzen Hosen durch die Stadt liefen. Warum auch nicht, wer es sich leisten kann … Ein Zusammenhang zum am Donnerstag gehörten Amselgesang erscheint eher unwahrscheinlich, aber wer weiß.

Sonntag: Eine Ankündigung am späteren Vorabend hüllte den heutigen Tag in eine diffuse Traurigkeit, die, je nach Entwicklung der Dinge, länger andauern könnte. Mehr darüber werden Sie hier nicht zu lesen bekommen, weder heute noch in Zukunft, versprochen.

Mit dem Virus hat die Sache übrigens nichts zu tun, jedenfalls nicht unmittelbar. Mittelbar hat ja inzwischen so ziemlich alles irgendwie damit zu tun, und mein Optimismus, das könnte sich irgendwann wieder ändern, schrumpft täglich.

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Ihnen eine angenehme neue Woche!