Woche 50/2021: An was denkt man in einem Silo?

Montag: Vergangene Woche, das heißt gestern zum Zeitpunkt, da ich es schreibe und vor einer Woche, wenn Sie es lesen, berichtete ich über den bedauernswerten Menschen, der in der Postbankfiliale lag und mich zu einem Notruf veranlasste. Heute Morgen, als ich auf dem Weg ins Werk an der Filiale vorbei fuhr, lag er noch immer oder schon wieder an der beschriebenen Stelle. War wohl ein Fehlalarm gewesen, konnte man ja nicht wissen, oder „steckt man nicht drin“, wie manche in sprachlicher Gleichgültigkeit zu sagen pflegen, eine unschöne Vorstellung. Dennoch würde ich grundsätzlich wieder so handeln, man weiß ja nie.

Dienstag: Schon länger drängte der Liebste, endlich einen Ohrenarzt aufzusuchen, da ich nicht mehr so gut höre – bei Gemurmel, Laubbläsern oder Pressluftgehämmer im Hintergrund fällt es mir zunehmend schwer, einem Gespräch zu folgen. Heute nun war ich dort. Nach einer recht interessanten Prozedur, bei der mein Vermögen, Töne und Wörter in unterschiedlichen Höhen und Lautstärken zu erkennen abgeprüft wurde, beschied man mir eine durchaus vorhandene, indes unerhebliche Hörschwäche, die noch keine Maßnahmen erfordert, vielmehr solle ich es weiter beobachten und in einem Jahr wiederkommen. Als Freund der leisen Töne und des beobachtenden Abwartens bin ich mit der Diagnose sehr einverstanden; im Übrigen, und da wiederhole ich mich, ist es nicht zwingend ein Nachteil, wenn man nicht alles versteht.

Auf dem hiesigen Weihnachtsmarkt gibt es übrigens Glühhanf, was auch immer das ist. Vielleicht komme ich demnächst mal dazu, es zu probieren, vielleicht auch nicht. Das wäre nicht schlimm, man muss nicht nur nicht alles verstehen, auch nicht alles probieren.

Mittwoch: Liebe Journalisten, aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass ein Meiler eine in früheren Zeiten übliche Methode zur Herstellung von Holzkohle bezeichnet; vereinfacht beschrieben wird dabei ein mit Erde bedeckter Holzhaufen in Schwelbrand versetzt. Was ein Meiler indessen nicht ist, auch wenn Sie nicht müde werden, den Begriff in diesem Zusammenhang zu verwenden: ein Kraftwerk, weder mit Kohle noch Atom betrieben.

Donnerstag: Laut der PSYCHOLOGIE HEUTE gehen uns ungefähr zwanzig Personen aus unserem direkten Umfeld regelmäßig auf die Nerven. – Wirklich nur so wenige?

Andererseits kenne ich zum Glück zahlreiche Menschen, die ich sehr schätze, einige wenige sogar, denen ich noch niemals persönlich begegnet bin. Eine derart bislang unbegnete Person hat mich heute mit einem Päckchen überrascht, darin ein als Geschenk eingepacktes Buch. Darf ich das wohl schon auspacken, oder erst Weihnachten?

Abends ging es um Tausendfüßler (die, am Rande bemerkt, üblicherweise nur etwa 750 Füße haben, wer hätte das gedacht, wobei sich die Bezeichnung „Siebenhundertfünfzigfüßler“ verständlicherweise nicht durchgesetzt hat); Kommentar des Geliebten: „Bis der sich mal die Nägel geschnitten hat, ist er tot.“

Freitag: Nächste Woche ist Weihnachten. Selten war mir das so egal wie in diesem Jahr; die Gründe dafür dazulegen fällt schwer, da ich sie selbst nicht genau kenne. Ich bitte alle, denen dieses Fest etwas bedeutet, um Verzeihung.

Das folgende Bild dürfte eher geringe Aussichten auf die Auszeichnung „Pressefoto des Jahres“ haben:

(Aus einem Artikel über unerwünschte Werbeanrufe im General-Anzeiger Bonn)

Samstag: Man solle „weniger in Silos denken“, war wieder mal zu lesen. Wann waren Sie zum letzten Mal in einem Silo und haben gedacht? Und an was?

Auch gelesen: »Nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.« Ist es nicht eine geradezu wunderbare Gabe, wenn jemandem solche Sätze einfallen?

Während der Fahrt zu einer regionalen Schokoladenmanufaktur spielten sie im Radio „Wonderful Christmastime“ von Paul McCartney. Während sich alle Jahre wieder alle Welt über „Last Christmas“ erbricht, nimmt an dem McCartney-Song niemand Anstoß, obwohl der keineswegs besser ist. Der andere ehemalige Beatle bewies hiermit eine für mein Empfinden wesentlich glücklichere Hand.

Sonntag: Bereits heute erledigten wir die familiären Weihnachtspflichten, verbunden mit einer Autofahrt nach Ostwestfalen am Morgen, Mittagessen in größerer Runde im Restaurant und abends wieder zurück. Wie immer war es erfreulich, sie alle wiederzusehen; nicht minder erfreulich die Rückkehr am Abend, zumal auf dem Balkon noch eine angebrochene Flasche Rotwein vom Vorabend der Leerung harrte.

Auf dem Weg dorthin fuhren wir an blühenden Rapsfeldern vorbei, also nicht so grell leuchtend wie im Mai, aber doch deutlich in gelber Blüte. Gab es das schon immer, Rapsblüte im Dezember, ist es mir nur bislang nie aufgefallen? Oder ist es ein weiteres Anzeichen, wie alles gerade mehr und mehr aus den Fugen gerät?

An einer die Autobahn überspannenden Brücke war von eindeutig unbefugter Hand in großen Buchstaben das Wort „UNFUG“ angebracht. In seltsamer Weise fühlte ich mich verstanden.

Ansonsten ist mein Bedarf an Radioweihnachtssongs mit Glocken und Schellen aller Art und dem Wort „Christmas“ darinnen bis auf weiters gedeckt.

Spontaner Gedanke I: Leichtsinn ist bei genauerer Betrachtung des Wortes nichts zu Rügendes, im Gegenteil.

Spontaner Gedanke II: Die Ähnlichkeit der Wörter „friedvoll“ und „frivol“ muss kein Zufall sein.

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Kommen Sie gut und leichten Sinnes durch die neue Woche; ich wünsche Ihnen friedvolle, wenn Sie mögen auch frivole Feiertage.

Woche 37: Hohle Phrasen und leere Versprechungen

Montag: „Wenn ich zum Traumdeuter gehe, muss der danach zum Psychologen“, sagte morgens der Geliebte, nachdem unsere Nachtruhe und die der näheren Nachbarschaft eine jähe Unterbrechung erfahren hatte durch seinen Aufschrei, weil er von wilden Bestien oder was auch immer gejagt wurde.

Aufschreigründe gibt es ja immer, wie solche Sätze, die ich heute hörte: „Es ist wichtig, die Kollegen onboarden zu können.“ – „Da sind wir gerade nicht satifikationsfähig.“

Dienstag: Es ist recht frisch geworden, jedenfalls morgens. Bekleidungstechnisch immer eine schwierige Phase: Auf dem Weg ins Werk kann ich schon Pullover und Jacke vertragen, zurück am liebsten Polohemd und kurze Hosen. Oder: „Ist kühl morgens Rad.“ Sie verstehen schon.

Von frisch zu frivol (bitte verzeihen Sie diesen nicht gerade durch Eleganz hervorstechenden Übergang) – ein gewisser Paul Di­vjak im SPIEGEL über ein Parfüm für Männer: „Das ist zart-süß und ani­ma­lisch-geil. Trop­fen für Trop­fen pure Lüs­tern­heit, mit Schweiß-, Urin- und Dar­kroom-As­so­zia­tio­nen.“ Urin. Und Darkroom. Wenn auch noch eine leichte Poppers-Note anklingt, muss ich es haben.

Mittwoch: Die Landwirtschaftsministerin will das Töten männlicher Küken verbieten. Stattdessen soll das Geschlecht bereits im angebrüteten Ei ermittelt werden. Ich habe keinen Zweifel an der Machbarkeit: Die Wissenschaft ist in der Lage, per Teleskop die Zusammensetzung der Atmosphäre Lichtjahre entfernter Planeten zu bestimmen, dagegen sollte die Geschlechtsbestimmung von Hühnereier*innen wohl ein Klacks sein. Wird es ein Mädchen, kommt das Ei in den Brutkasten, Jungs – knacks – in die Tonne, daraus kann man bestimmt noch Viehfutter für die Massentierhaltung machen. Mmh, lecker, denkt der kastrierte Eber. Wobei: Bringt das dann nicht Abtreibungsgegner in Rage?

Gelesen: Bereits die zweite Kollegin, die aus dem Urlaub heraus Mails beantwortet. Manchen ist nicht zu helfen.

Auch gelesen: „Leever ne Lappen im Jeseech als ne Zeddel am Fooß.“ – Für Nicht-Rheinländer: „Lieber einen Lappen im Gesicht als einen Zettel am Fuß.“ (Jörg P aus Bonn gegenüber dem General-Anzeiger, nachdem er eine schwere Covid-19-Erkrankung überlebt hat.)

Gehört: „Ich muss gerade nachdenken, worüber ich nachdenken wollte.“

Der Abend war es noch überraschend warm, daher verbrachten wir ihn auf dem Balkon. Versehentlich leerte ich dabei alleine eine Flasche Rosé. Darüber sollte ich gelegentlich nachdenken.

Donnerstag: „Wir wollen nach vorne schauen“ – eine sehr beliebte Formulierung für „Da haben wir wohl Mist gebaut“. Nach vorne schauten mittags im Rheinauenpark auch diese Herrschaften.

Was jenseits des Wassers ihr Interesse geweckt hatte, war nicht zu erkennen. Vielleicht hatten sie auch Mist gebaut.

“Ich habe dazu nachher noch einen Call“, sagt eine. Vieles täuscht den Anschein von Bedeutung vor, indem es eine englische Bezeichnung hat oder wenigstens so klingt. Und wenn es nur eitles Geplapper ist.

Eitles Geplapper auch auf Plakaten: Anscheinend gibt es Unternehmen, die allein von Wahlwerbung leben können. Was tun die, wenn gerade mal nicht gewählt wird?

Wahlkampf – viel Getöse, dabei indes nichts anderes als mit Millionenaufwand betriebene mediale und plakative Verbreitung zumeist hohler Phrasen und leerer Versprechungen. Wie die eine Partei, zu deren Markenzeichen in früheren Jahren drei Pünktchen gehörten, die jede Plakatphrase mit „Weil Bonn.“ enden lässt, was auch immer das bedeuten mag, ich zeigte es kürzlich bereits.

Dagegen sticht Die PARTEI mit Aussagen von bestechender Klarheit geradezu vorbildlich hervor:

Freitag: Eine Jour-Fixe-Teilnehmerin sagte „Ich habe heute nix für die Runde. Außer vielleicht …“ – Dann legte sie los.

Wir sollten nicht nur nach vorne schauen, sondern ab und zu auch nach oben. Kurz nach der Mittagspause hörte ich ein vertrautes, länger anhaltendes Motorbrummen, kurz darauf zeigte sich ein Zeppelin, zu meinem Erstaunen jedoch ein anderer als letzte Woche:

Haben die Dinger gerade Saison?

Samstag: Die Zeitung berichtet über den Bonner Unternehmer Ralf Z, der die morgen stattfindende Kommunalwahl anfechten möchte, weil es ihm „schwer gemacht wird“, die Briefwahl zu beantragen, konkret, weil das online nur bis Mittwochmittag möglich war; danach hätte er den Wahlschein persönlich beim Wahlamt abholen müssen, was nach menschlichem Ermessen und unter Berücksichtigung normaler Postlaufzeiten weder abwegig noch unzumutbar erscheint. Das sieht Herr Z nicht ein und beschwert sich: „Das ist zwar nur eine Kleinigkeit, für mich aber wieder ein Zeichen, was in dieser Verwaltung alles falsch läuft“, so Z; weiterhin: „Es herrschte völliges Desinteresse an meiner Lage.“ Welche Lage, lieber Herr Z? Ist Ihnen wirklich erst am Mittwochnachmittag eingefallen, per Brief wählen zu wollen? Zur Selbstabholung der Unterlagen: „Aber mir geht es ja eben in der Corona-Pandemie darum, dass ich nicht irgendwo hingehen muss.“ Nun wird er wohl gar nicht wählen, der arme Unternehmer, vielleicht ist das sogar besser so. Warum nur räumt man einem solchen Querulanten einen zweispaltigen Zeitungsartikel ein?

Der Geliebte beschimpft den Staubsauger. Offenbar geht es ihm gut.

Es ist mir übrigens völlig egal, ob andere sich darüber aufregen: Wenn Rewe im September Marzipanbrote anbietet, werden im September Marzipanbrote gekauft.

Sonntag: Es ist mittlerweile üblich geworden, Gegenstände, von denen man sich trennen möchte, sie allerdings als zu schade für die Mülltonne erachtet, vor die Haustür zu stellen mit einem Zettel „Zu verschenken“ daran. Zumeist finden sich Bücher, CDs und kleinerer Hausrat im kostenlosen Angebot. Ob die heute Nachmittag in Bonn-Castel gesichteten Kanister mit unbekanntem Inhalt ebenfalls einen Abnehmer finden, vermag ich nicht zu beurteilen.

Ansonsten in dieser Woche erfreulich waren: ein Donnerstag ohne Donner, zwei neue Bücher für den Stapel der ungelesen, eine Einladung zum Vorlesen, ein früher Feierabend.