Woche 26: Dünenunkenntnis ist ein leicht zu behebender Mangel

Montag: Infolge eines noch nicht genauer erforschten Naturgesetzes gibt es immer dann, wenn ich mich morgens für ein weißes Hemd entschieden habe, was eher die Ausnahme ist, in der Kantine etwas mit roter Soße, heute Spaghetti Bolognese. Durch geschickte Wahl des weniger farbintensiven Gnocchi-Gerichts konnte Schlimmeres vermieden werden.

Viele Menschen, so auch ich, stören sich regelmäßig am unnötigen Gebrauch von Anglizismen. Für Vermeider französischer Begriffe (by the way bzw. au fait: Wie nennt man die, Franzismen?) entdeckte ich erst heute eine bereits am vergangenen Freitag bekanntgegebene wunderbare Liste mit deutschen Entsprechungen.  Eine Auswahl:

Aubergine: Schaumgurke

Fetischist: Sonderlüstling

Friseur: Schopfgärtner

Hommage: Beschleimigung

Parfüm: Riechwürze

Quarantäne: Siechhaft

Rosé: Rötelwein

Sommelier: Rebenschwelger

Voyeur: Brunftzeuge

Nun habe ich doch mal nachgeschaut. Man nennt sie Gallismen oder Französismen. Wieder was gelernt.

In der Zeitung steht heute: „Sicher ist jedoch, dass das Coronavirus uns nicht mehr verlassen wird.“ Ein wenig erschrecke ich über mich selbst, weil ich das aus Sicht meiner eigenen Bequemlichkeit nicht ausschließlich schlecht finde.

Zum Thema Anglizismenwut: Abends rief meine Mutter (83) an, die in Bielefeld wohnt, kommende Woche einen Arztbesuch in Gütersloh hat und aufgrund der dortigen Entwicklungen wissen wollte, was Lockdown, Shotdown und Hotspot bedeuten. Das sagt einiges über den weitgehend akzeptierten Umgang mit unserer Sprache aus.

Dienstag: Gedanke während einer Skypekonferenz am (für meine Verhältnisse) frühen Morgen: Was kann langweiliger sein als umfangreiche Excel-Dateien voller Zahlen?

Menschen in der Kantine. Aus bekannten Gründen stehen an den Tischreihen, wo sonst acht Hungrige Platz finden, nur zwei Stühle in großem Abstand. Das hält manche nicht davon ab, Stühle vom Nachbartisch zu ziehen und sich zu dritt oder viert an den Tisch zu setzen, am besten direkt gegenüber, wie soll man sich sonst beim Essen unterhalten. Wenn dann der Mann vom Sicherheitsdienst kommt und sie freundlich auf die geltenden Abstandsregeln hinweist, schauen sie völlig empört. Ist das wirklich so schwierig?

Derweil wurden aus gegebenem Anlass in den Kreisen Gütersloh und Warendorf die Kontaktbeschränkungen wieder verschärft, nennen Sie es Lock- oder Shutdown, völlig wurscht (ha ha, kleines Wortspiel, Sie wissen schon). Vielleicht auch, weil Menschen beim Essen billigen Fleisches unbedingt gegenüber sitzen mussten.

Mittwoch: Nach ungezählten Wochen und vorläufig voraussichtlich zum letzten Mal fuhr ich abends mal wieder mit der Bahn nach Köln. Was mir dabei auffiel: 1) Nördlich des Bonner Hauptbahnhofs gibt es jetzt ein Autokino. Das war mir bislang entgangen, zumal mir ein Aufenthalt darin innerhalb wie außerhalb kontaktarmer Zeiten wenig reizvoll erscheint und ich nicht annehme, es könne mir Genuss und Vergnügen bereiten, durch die Windschutzscheibe des Autos einen Film, ein Konzert oder was auch immer für eine Veranstaltung anzuschauen. – 2) Die Stadtbahnhaltestelle „Tannenbusch Süd“ wurde umbenannt in „Tannenbusch Düne“. Für Nicht-Bonner: Im ansonsten wenig pittoresken Stadtteil Tannenbusch (der Name trügt – statt Nadelholz überwiegt hier Beton) gibt es eine richtige Düne, wobei ich es in den nunmehr über zwanzig Jahren, die ich in Bonn wohne, immer noch nicht geschafft habe, sie mir mal anzuschauen. Kommt mit auf die Liste der Dinge, die ich irgendwann erledigen will. – 3) Die Gleisbaufirma, die am Bahnhof Roisdorf residiert, hat ein neues Gleis. Wäre ja auch ein zweifelhaftes Renommee für eine Gleisbaufirma, wenn sie ihre Baumaschinen und Waggons auf krummen, rostigen Schienen präsentierte.

Ansonsten war es in Köln ganz schön; was zu erledigen war, wurde zu meiner vollen Zufriedenheit erledigt.

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An die Wand des Abgangs zur Bonner Stadtbahn hat einer was geschrieben:

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Falls Sie es nicht lesen können, dort steht in für Wandbeschriftungen bemerkenswerter Fehlerfreiheit: „Krass, dass du dir die Zeit nimmst, das hier zu lesen. Viele sehen ihre Umgebung gar nicht mehr.“ Darin steckt jedenfalls mehr Wahrheit und Niveau als in dem während meiner Jugend sich größerer Beliebtheit erfreuenden „Wer das liest ist doof“.

Donnerstag: Ein beliebter Hinweis unter Mailsignaturen lautet in etwa so: „Bitte denken Sie an Ihre Verantwortung für die Umwelt, bevor Sie diese Nachricht ausdrucken.“ Aus gegebenem Anlass erwäge ich einen anderen Signaturzusatz: „Bitte denken Sie an die Nerven Ihrer Mitmenschen, bevor Sie auf »Allen antworten« drücken.“

Heute mal kein Alkohol, so der Vorsatz am Morgen, seit Tagen. Interessanterweise war dann abends doch wieder eine Flasche Rosé geleert. Andererseits, jeden Samstag zum Altglascontainer zu latschen gibt dem Leben ja auch eine Struktur.

Während wir in sommerlicher Balkon-Abendmilde die vorstehend genannte Flasche leerten, grillten die Nachbarn, wobei schwer zu beurteilen war, um welche Art Grillgut es sich handelte. Dem Geruch nach Kuhfladen an Autoreifenfilets.

Zu meiner Freude flatterte die Fledermaus wieder ums Haus. Ich war schon in Sorge, jemand hätte ihr was angetan; Fledermäuse sind zurzeit ja arg bezichtigt.

Freitag: Laut Zeitung werden zwei Corona-Testergebnisse in Gütersloh als „leicht positiv“ bewertet. Was heißt das nun wieder?

„Ich habe fast doppelt so viele Pakete hinten drin wie sonst“, zitiert die Bild der Frau einen Zusteller.

Ich halte mich für absolut friedfertig, einen der friedlichsten Menschen auf der Welt, zudem überzeugter Pazifist bis auf die Knochen. Wenn ich jedoch, wie heute Mittag, so einen Tuppes sehe, der beim Radfahren auf sein Datengerät schaut, möchte ich ihn erst anschreien und dann vom Fahrrad treten. Mache ich natürlich nicht, siehe oben.

Samstag: Meine Friedfertigkeit legte eine kurze Pause ein, als ich am Altglascontainer einen Mann beobachtete, der in Begleitung eines kleinen Jungen die zerbrochene Scheibe aus einem Bilderrahmen herauspulte und die Scherben in den Behälter (immerhin den für Weißglas) einwarf *, anschließend legte er den entglasten Rahmen auf dem Container ab. Auf meinen Hinweis, er könne das auch im Müll entsorgen, reagierte er sehr ungehalten, natürlich mache er das, er sei ja noch nicht fertig, was ich überhaupt wolle, also wirklich, das ist ja wohl … und so weiter, kaum zu beruhigen, der Gute. Vielleicht war mein Ton nicht so freundlich ausgefallen wie beabsichtigt, was ich nicht ausschließen kann, in diesem Fall bitte ich ausdrücklich um Verzeihung; vielleicht wollte er sich im Beisein seine Sohnes nicht von einem Fremden maßregeln lassen; vielleicht fühlte er sich ertappt. Den Rahmenrest warf er anschließend in die nächste Mülltonne. Geht doch.


* Hier will ich nicht kleinlich sein, streng genommen gehören derartige Scherben nicht in den Altglascontainer, auch nicht ins Weißglas

Im SPIEGEL heute ein Bild von Friedrich M.

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Bemerken Sie die Komik?

Das vierte Paket des Tages erreichte uns heute übrigens schon um 15 Uhr, vgl. letzte Woche Samstag.

Aus der Reihe Sprichwort-Variationen des Geliebten: „Abends werden die Alten faul.“

Sonntag: Gar nicht faul war ich heute. Da die am Mittwoch beschriebene Dünenunkenntnis ein leicht zu behebender Mangel war, entschied ich heute spontan, den Sonntagsspaziergang nach Tannenbusch zu machen.

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Wenngleich die Erhebung nur wenig Ähnlichkeit mit ihren großen Schwestern auf Wangerooge, Föhr und Gran Canaria hat, weist sie doch einiges an Idylle auf.

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Sie ist der Rest eines Dünengebiets, das vor etwa elftausend Jahren am Ende der Eiszeit aus angewehtem Rheinsand entstanden ist, daher ist sie als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Bei Interesse an weiteren Informationen bitte hier entlang.

Übrigens möchte ich den Stadtteil Tannenbusch aufgrund meiner am Mittwoch geäußerten Despektierlichkeiten bezüglich seiner Schönheit um Verzeihung bitten. Wie ich heute feststellte, gibt es dort, auch außerhalb der Düne, durchaus hübsch zu nennende Straßenzüge mit viel Grün.

Seit einer Woche haben wir Sommer. Die Tage werden nun wieder kürzer. Wenn Weihnachtsmarkt wäre, wäre bald Weihnachtsmarkt.

Woche 25: In artgerechter Haltung

Montag: Vergangene Woche ließ ich mich ein wenig über Businesskasper aus. Hierzu ein sehenswerter Nachtrag, vielen Dank an Frau Kraulquappe dafür.

„Für mich fein“ schrieb mir heute ein Businesskasper lieber Kollege. Nach meiner Antwort „Das ist fein“ merkte er es selbst.

Ansonsten muss ein Montag nicht grundsätzlich schlecht sein. Eine gute Nachricht des Chefs hob meine persönliche Tageslaune erheblich.

Eine örtliche Partei wirbt anlässlich der bevorstehenden Kommunalwahl mit der Inaussichtstellung von „Sicherheit und Sauberkeit“ um Stimmen. Ich weiß ja nicht, klingt ein wenig nach „Zucht und Ordnung“ oder schlimmerem.

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Wobei ich die Werbung einer anderen, zurzeit noch etwas größeren Partei auch nicht besonders überzeugend finde. Wie, was machen? Was macht das mit mir?

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Dienstag: Nachdem es seit gestern wieder möglich ist, machten sich die Nachbarn heute auf den Weg zu ihrem Haus in Südfrankreich. Mit ihnen, vielleicht im Handschuhfach, eine ganz kleine Prise Neid meinerseits, wobei ich ihnen die Reise und den Aufenthalt dort ohne jede Einschränkung gönne.

Am Abend auf der Rückfahrt vom Werk wurde ich vom Regen etwas nass, was meine nach wie vor ausgezeichnete Laune nicht zu trüben vermochte. Dafür fand ich daheim meine Lieblingsmenschen ohne erkennbaren Grund übellaunig vor. Ich erkläre mich unschuldig daran. Während der eine seine Verstimmung mit dem Staubsauger bekämpfte, ging der andere einkaufen. Ich verschanzte mich unterdessen in meinem Zimmer und notierte vorstehendes. Jeder hat so seine Strategie, atmosphärischen Störungen zu begegnen.

Mittwoch: Der Regen hat aufgehört, es bleibt trübe. Während der Fahrt ins Werk sah ich auf der anderen Straßenseite einen mit Sonnenbrille. Affiger als das Tragen von Sonnenbrillen ist wohl nur, es ohne Sonnenschein zu tun, oder in geschlossenen Räumen.

Der innerhäusliche Mistral hat sich erfreulicherweise auch wieder einigermaßen gelegt.

„anyway“ sagt einer. Sei es drum.

Chorproben sind noch bis mindestens Ende August nicht möglich, erfahre ich. Anyway.

Chorproben würden der Singstar-Krähe von gegenüber vermutlich auch nicht helfen. Am frühen Abend kreischte sie solo Fetzen eines unerkannten Liedes in die Siedlung.

Später kam es erneut zu nennenswerten meteorologischen Unruhen mit Blitz und Donner. Zum Glück nur draußen.

Donnerstag: Abends besuchte uns eine Taube. Sie betrat die Wohnung durch die geöffnete Balkontür, durchquerte zu Fuß unbemerkt die Küche und kam ins Wohnzimmer, wo ich auf dem Sofa in Lektüre vertieft war. Als wir uns gegenseitig bemerkten und etwa gleichzeitig erschraken, begann sie wild zu flattern, ihre Flucht nach draußen scheiterte jedoch an der geschossenen Fensterscheibe vorne raus, und auf die Idee, die Wohnung einfach wieder durch die Küche und die Balkontür zu verlassen, kam sie augenscheinlich nicht. Dabei las ich mal, Tauben seien sehr klug; vermutlich gibt es auch da, wie bei uns Menschen, solche und solche. Schließlich ergriff der Geliebte die Initiative und den Vogel und setzte ihn durch das Fenster an die Luft. Der Grund ihres Besuches blieb unbekannt. Hoffentlich ist sie gut nach Hause gekommen.

Interessante Entwicklung in der Fernsehreklame: Die reifere Dame, die im Beisein ihrer vorlauten vermeintlichen Enkeltochter für ein Darmbeschwerden linderndes Mittel wirbt, sagt nicht mehr „Für die Kleine war ich gar nicht mehr die Alte“. Anscheinend haben sie es gemerkt.

Freitag: Besonders aufregend war der Tag nicht, jedenfalls nicht für mich. Für die Karstadt-Mitarbeiter hingegen schon: Wie ihnen abends mitgeteilt wurde, ist ihr Bonner Kaufhaus eins von denen, die geschlossen werden. Das tut mir sehr leid. Bei solchen Nachrichten wird mir bewusst: Meine heile Welt ist ein sehr fragiler Planet ist, der jederzeit untergehen kann.

„Du machst so lange, bis der Kelch am Brunnen bricht.“ Mit Sprichwörtern hat es der Geliebte nicht so, was immer wieder zu notierenswerten Varianten führt.

Samstag: Während die Mitarbeiter der Kaufhäuser ihre Jobs verlieren oder darum bangen, erhielten wir im Laufe des Tages (Stand 17:14 Uhr) vier Pakete von vier Paketdiensten zugestellt. Irgendwas läuft schief.

Sonntag: Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich in artgerechter Haltung im Liegestuhl auf dem Balkon, wo ich in der FAS diesen schönen Satz las und ihn sogleich notierte: „An den meisten Stränden gilt spärliche Bekleidung schon lange als banal und unter sittlichen, wenn auch nicht immer unter ästhetischen Vorzeichen als unproblematisch.“ Ähnliches gilt für Fußgängerzonen, sei ergänzt.

Woche 24: Schiefe Bilder und seltsame Erscheinungen

Montag: Aus der beliebten Reihe Schiefe Bilder: „Das ist schon in der Pipeline eingestielt“, sagt jemand in der Besprechung. Ein anderer sagt zum Abschied „Okidoki“. Jedesmal wenn jemand „Okidoki“ sagt, stirbt irgendwo ein Phrasenkasper.

Während der Rückfahrt vom Werk wurde ich am Rheinufer geblitzt, bei mittlerer Geschwindigkeit auf dem Fahrrad, von so einer mobilen Blitzanlage im Gebüsch am Radweg, deren Standorte absurderweise wöchentlich in der Zeitung veröffentlicht werden. Auf das Knöllchen bin ich gespannt.

Ansonsten hat der Liebste unseren Urlaub gebucht, eine Flusskreuzfahrt auf Rhein und Mosel. Wenngleich nicht unwahrscheinlich ist, dass wir durch unsere Teilnahme das Durchschnittsalter an Bord um ungefähr fünf Minuten senken werden, so freue ich mich doch sehr darauf.

Dienstag: Vergangene Nacht träumte ich von einer Wohnung, vollgestopft mit tausenden von Büchern, Heften und losen Blättern; ob es meine eigene war oder die meiner Eltern oder eine ganz andere, ist schwer zu sagen, sowas wechselt in Träumen ja oft minütlich. Ich war auf der Suche nach einigen bestimmten Büchern, die ich mal gekauft, aber noch nicht gelesen habe, um sie demnächst mit in den Urlaub zu nehmen. Eins davon hieß, soweit ich mich erinnere, „Mein Leben mit Harald“, wer auch immer Harald ist; die mir bekannten Personen dieses Namens sind sehr angenehme Menschen, als literarische Figuren indes nur bedingt geeignet. Neben Büchern fand ich in der Wohnung übrigens größere Mengen an in Klarsichtfolie abgepackten Roastbeefscheiben, laut Aufschrift haltbar bis Oktober 2010, äußerlich jedoch noch von rosiger Färbung und gut erhalten. Falls Sie ein Talent für Traumdeutungen haben und Vorstehendes zu erklären wissen, schreiben Sie bitte eine Nachricht.

Aus einem Gespräch des SPIEGEL mit der Historikerin Jill Lepore:

Die traut sich was.

Außerdem fragt der SPIEGEL: „Was macht das An­geln mit dem Ang­ler?“ Antwort A: Fischers Fritz fischt frische Fische. Oder Antwort B: Düdüüü düdüdü.

Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht darüber, inwieweit der Innenminister die AfD beschimpfen darf, habe ich ein (mir) neues Wort gehört: „Meinungskampf“. Es passt gut in die Zeit, da alle meinen, irgendwas meinen und kundtun zu müssen, und abweichende Meinungen umgehend auf Empörnis stoßen.

Mittwoch: §1 Absatz 1 Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen:

„Jede in die Grundregeln des Infektionsschutzes einsichtsfähige Person ist verpflichtet, sich im öffentlichen Raum so zu verhalten, dass sie sich und andere keinen vermeidbaren Infektionsgefahren aussetzt.“

Die Menschen draußen hingegen demonstrieren und pfeifen auf Abstandhalten, als wollten sie die zweite Welle auf keinen Fall verpassen. Im Werk geht unterdessen alles seine geregelten Wege.

Wahrscheinlich beschrieb ich es schon mal, als Chronist des Alltäglichen verliert man ja manchmal den Überblick, ob man etwas schon notierte oder nur dachte: Viren treten nicht nur als biogene Kleinstkörper auf, sondern auch in verbaler Form, sie breiten sich besonders in Besprechungen aus. Ein Teilnehmer wirft ein bestimmtes, zumeist überflüssiges Wort in den Raum, rasch springt es auf andere über, und bald wird kein Satz mehr gesagt, in dem es nicht vorkommt. Verbreitete Verbalviren sind: „quasi“ und „tatsächlich“, eine bekannte Mutationen ist „genau“. Ein Impfstoff ist nicht in Aussicht. Warum ich das (erneut) schreibe: Heute rutschte mir in einer Besprechung dieses Füll-„tatsächlich“ raus, woraufhin ich mir am liebsten die Zunge abgebissen hätte. Hat aber wohl keiner gemerkt.

Donnerstag: Feiertag, die Christen feiern wieder „Fronleichnam“, weil Jesus vor gut achthundert Jahren einer Nonnen erschienen sein soll, um sie darauf hinzuweisen, im Kirchenjahr fehle noch ein Feiertag, weiß der Himmel. Vielleicht lag es auch nur am Messwein, den die Gute zuvor in unbekömmlicher Menge gekostet hatte, danach hat man ja schon mal seltsame Erscheinungen. Wie auch immer – bemerkenswerterweise beschert uns dieses Märchen bis heute einen arbeitsfreien Donnerstag, wer wollte das beklagen, im Gegenteil: Jesus dürfte gerne öfter erscheinen, ein paar weitere Feiertage würde mein Jahr ganz gut vertragen.

Diejenigen, die nicht feiern oder wie ich zu faul sind für nennenswerte Aktivitäten, würden heute normalerweise zum Einkaufen in benachbarte (Bundes-)Länder fahren, weil das, was wir „Wohlstand“ nennen, nun einmal im Wesentlichen darauf basiert, möglichst viel Zeug zu kaufen, das man nicht benötigt. Jetzt wäre Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob das für immer so bleiben muss, stattdessen wünschen sich viele nichts sehnlicher zurück als genau das. Eine Lösung dafür weiß ich auch nicht.

Freitag: Man informiert übrigens nicht mehr, sondern man „teilt“, so wie Sankt Martin den Mantel, Jesus Fische und Brot und der heilige Sankt Nikolaus die Schokoladenfiguren.

„Alle für alle“ teilt das große Flugzäpfchen, das dieser Tage über Bonn seine Runden dreht.

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Samstag: Der Gebrauch von Anglizismen in Businesskasperkreisen* wird hier regelmäßig belästert. Aber auch manche Verfasser* von mir regelmäßig und gerne gelesenen Blogs (ich vermeide bewusst den Begriff „Kollegen*“, das wäre vermessen, es sind zum Teil echte Bloggrößen mit großer Leserschaft*, nicht so Kleinschreiber wie ich, was man mir bitte nicht als Neid auslegen möchte, ich bin tatsächlich sehr zufrieden) flechten immer wieder englische Einsprengsel in ihre ansonsten lesenswerten, auf Deutsch verfassten Texte ein. Warum tun die das? I do not like that.

* Einige von ihnen haben es sich zudem zur Gewohnheit gemacht, stets die weibliche Form zu nutzen, wenn sie beides meinen, also zum Beispiel „Leserinnen“ statt „~innen“ und „~er“. Damit setzen sie ein Zeichen gegen das hergebrachte und durch nichts zu rechtfertigende General-Maskulinum, was ich durchaus nachvollziehbar und sympathisch finde, zumal leserlicher als Binnen-I, -Sternchen und ähnliche Inklusionsformen. Dennoch sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich mich ihnen diesbezüglich nicht anschließe.

Sonntag: „Lästig sind all jene, die wir nicht ignorieren können, selbst wenn wir es wollen“, zitiert die PSYCHOLOGIE HEUTE den amerikanischen Psychologen Joe Palca zum Thema Dinge, die uns auf die Nerven gehen.

Ansonsten gilt: Besuch am Sonntag ist besonders willkommen, wenn er woanders stattfindet.

Woche 23: Pfuscher

Montag: Immer noch Pfingsten. Frau Marie weiß nicht, was sie schreiben soll. Ich heute auch nicht. Nur finde ich dafür nicht so schöne Worte wie sie. Oder wie einst Wilhelm Busch: „Gedanken sind nicht stets parat / Man schreibt auch, wenn man keine hat.“

Dienstag: Manchmal melde ich mich in Besprechungen nur deshalb zu Wort, um mich zu vergewissern, nicht eingeschlafen zu sein.

„Das gefällt mir mehr oder weniger gar nicht“, sagt eine. Vielleicht habe ich das auch geträumt.

Mittwoch: Immer wenn es heißt, jemand trete seinen „wohlverdienten“ Urlaub oder Ruhestand an, klingt im Hintergrund stets ein leises Rauschen der Missgunst mit.

Ein ganz anderes, leider lautes Hintergrundgeräusch bei Rückkehr aus dem Werk. Die Singstarkrähe von gegenüber war heute wieder gut in Form, hören Sie selbst:

Erkennen Sie die Melodie? (Bitte entschuldigen Sie die schlechte Tonqualität, andererseits klang es in natura keineswegs besser.)

Bleiben wir beim Thema (im weitesten Sinne) Musik: Beim Friseursalon meines Vertrauens, den ich am Abend aufsuchte, steht eine güldene Beethovenfigur im Schaufenster, wie es sie im vergangenen Jahr in Bonn unter reißendem Absatz zu kaufen gab, dekoriert mit einer Schutzmaske. Davor ein Zettel an die Scheibe geklebt: „SEI WIE LUDWIG“. Während ich draußen auf den Haarschnitt wartete, überlegte ich, wie genau ich denn sein soll: Goldig? (Bin ich.) Schwerhörig? (Auch, manchmal ein bisschen.) Musikbegabt? Stumm? Dann schlage ich vor, der Krähe eine solche Puppe samt Zettel vor das Fenster zu stellen.

Donnerstag: Die Mehrwertsteuer wird vorübergehend gesenkt. Der Finanzminister erwartet, dass die Wirtschaft das nicht zu ihrem Vorteil nutzt, sondern an die Bürger weitergibt. Entweder glaubt Herr Scholz auch an das Sandmännchen oder er verfügt über bislang ungeahnten Humor.

Humor zeigt auch der Projektleiter, als er um Verständnis für die Verkürzung des Jour Fixe bittet.

Freitag: In einer internen Werksmitteilung las ich diesen Satz: „In dieser schnelllebigen Zeit ist die Vergangenheit kurz, die Gegenwart äußerst dynamisch und die Zukunft zeitnah zu gestalten.“ Auch wenn ich ihn nicht verstehe, vor allem das mit der kurzen Vergangenheit, ist er sehr schön, nicht wahr.

Samstag: O ihr Pfuscher …

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(General-Anzeiger Bonn)

„Viele Männer sind ,Dramaqueens‘ und kommen damit durch“, steht in der neuen PSYCHOLOGIE HEUTE. Ja, das kann ich aus täglicher Anschauung bestätigen.

Sonntag: Und wenn das jetzt für immer so bleibt? (Bitte denken Sie sich hier eine gedankliche #Gitterbox# mit den üblichen Schlagworten darin: Kontaktbeschränkungen, Kontaktpersonennachverfolgung, Abstandsregel, Kurzarbeit, Heimarbeit, Verschwörungstheorien, Herdenimmunität, Infektionskette, Neuinfektionen, Durchseuchung, Maskenpflicht, Lockerungen, Lockdown, Shutdown,  Homeoffice, Homeschooling, Videokonferenz, Reisewarnung, Händewaschen, neue Normalität, abgesagt, verschoben, verboten, ZDF-Spezial, Geisterspiele, systemrelevant, Kaufprämien, Umsatzeinbußen, Rettungspaket, Quarantänemaßnahmen, Social Distancing, …)

Oder so: „Damals, als wir uns zur Begrüßung noch die Hand gaben.“ – „Ihr habt WAS?“

„Irgendwann ist der Zappes mal duster“, sagte der Geliebte am Abend. Das lasse ich als Schlusswort mal so stehen.

Woche 22: Hand am Arm und zweibeinige Spatzen

Montag: Ein Nachtrag zu letzter Woche, ich fand den Eintrag erst heute in meinen Notizen wieder, es ist nur ein Wort. Am Samstagnachmittag probierten wir bei einem Moselwinzer sein Sortiment; am Ende, als alles probiert und für gut befunden war, wurde der „Reparaturriesling“ gereicht, ein einfacher Riesling mit dem Zweck, die aufgrund vorangegangener Aromenstürme vor Verzückung jubilierenden Geschmacksnerven zu beruhigen und sie wieder auf den Boden der Tatsachen zu führen. So, als reichte ein Molekularküchensternekoch nach dem letzten Gang eine herzhafte Frikadelle.

Was allemal besser wäre als die tote Banane, die neuerdings bei uns im Hof liegt.

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Dienstag: Geträumt: Wir saßen in so einem Züglein, mit denen Touristen durch fremdenverkehrlich auffällige Städte gefahren werden, Sie kennen die sicher, mehrere offene Waggons hinter einem als Lokomotive verkleideten Traktor, dessen Fahrer den Fahrgästen per Bordlautsprecher die örtlichen Sehenswürdigkeiten erklärt. In so einem vollbesetzten Züglein also fuhren wir durch eine Straße, die auf beiden Seiten von ebenfalls vollbesetzter Außengastronomie gesäumt war (der Traum spielte demnach vor, oder, falls es das irgendwann geben sollte, nach Corona), man beobachtete sich gegenseitig, wir im Zug die draußen und umgekehrt. An einem Tisch draußen saß ein extrem dicker, unzufrieden wirkender Junge, und während ich, als wir ihn passierten, dachte: Boah, ist der dick, ging ein kollektives „Boah, kuck mal …“ durch das Züglein. Das fand ich beschämend.

Im nächsten Traum wurde mir als Teilnehmer einer Liveshow auf RTL die Aufgabe gestellt, möglichst lustig einen Zahnarzt mit extremem Lippenherpes zu spielen. Während ich mir unter den Augen eines Millionenpublikums recht ungeschickt eine Schutzmaske aufsetzte (dieser Traum spielte womöglich zu Corona), dachte ich: So ein Unsinn. Nach einer Stunde wurde die Szene wegen akuter Unlustigkeit abgebrochen.

Im Werk hörte ich in einer Besprechung nämliches: „Wie ihr wisst, sind wir zeittechnisch nicht gerade gut unterwegs.“ Auch nicht besonders lustig.

Mittwoch: Die Ausgaben für Verteidigung werden laut Zeitungsbericht in diesem Jahr um 3,5 Milliarden Euro gegenüber Vorjahr steigen. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen kommt es darauf an, das Geld für die richtigen Dinge auszugeben und die Rüstungsindustrie zu stützen.

„Das ist noch sehr Hand am Arm„, sagt einer während einer Präsentation. Wo denn sonst? Ist das wieder so ein stumpf übersetzter Anglizismus, oder was meint das?

„Wie war die Anrufqualität“, fragt Skype nach der Konferenz. Inhaltlich eher fragwürdig, möchte ich antworten.

Bei Heimkehr aus dem Werk hatte ich den Eindruck, die Banane im Hof hätte sich kurz bewegt.

Donnerstag: Im Pressespiegel ein Interview mit dem Senior Transaction Manager Global Operations Real Estate & Design eines großen Versandhändlers, bei dem ich aus grundsätzlichen Erwägungen nichts bestelle. Da geht einem schon beim Lesen des Titels einer flitzen.

Flitzen gegangen ist auch die Banane, jedenfalls ist sie weg. Ob sie sich aus eigener Kraft entfernte oder jemand spontan Vitaminbedarf hatte, ließ sich nicht klären.

Das sollten Sie lesen, vor allem das mit den Leckmuscheln.

Freitag: Für Menschen mit fragwürdigem Naturverständnis mag es „Unkraut“ sein, mich hingegen ließ auf dem Weg in die Kantine dieses Lavendelchen kurz lächeln.

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Apropos Natur: Nachdem es hieß, die Zahl der Spatzen ginge zurück, beobachte ich sie in letzter Zeit – neben den bereits erwähnten Halsbandsittichen – in erfreulicher Anzahl vor meinem Büro, wo sie mir vom Fenstersims aus tschilpend bei meinem Tun und Lassen zuschauen. „Mich besuchen in letzter Zeit viele Spatzen“, erzählte ich am Morgen. Der Geliebte: „Ist klar, vor allem zweibeinige.“ – „Ja, was sonst?“ – „… ach ja.“

Samstag: Der Duft von Lavendel hält übrigens nicht nur Motten vom Kleiderschrank fern, er lindert auch Liebeskummer, steht in der Zeitung. Nicht dass ich welchen hätte oder in absehbarer Zeit erwarte, dennoch gut zu wissen, falls mal ein zweibeiniger Spatz herbeiflattert.

Aus Gründen, die hier nicht näher erläutert werden sollen, suche ich regelmäßig die Altglascontainer hinter dem Stadthaus auf. Diese können wegen einer Baustelle zurzeit nicht geleert werden, was zur Überfüllung des mittleren, laut Anschrift „Nur für Weißglas“ bestimmten geführt hat. Davor steht nun eine größere Menge Flaschen und Gläser, immerhin korrekterweise nur farblose, da Leute einerseits keine Lust haben, das Zeug zu einem anderen Container zu schleppen, andererseits, vielleicht aus Gründen gewisser Obrigkeitshörigkeit, sich nicht trauen, es wie ich und augenscheinlich vor mir bereits andere in die Behälter daneben für Braun- und Grünglas einzuwerfen, die noch über freie Kapazitäten verfügen oder „Luft nach oben“, wie man auf Blöddeutsch oft hören muss. Vielleicht ist das dieses „typisch Deutsch“.

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Der Liebste war beim Friseur. Abends wurde mein Kopfhaar thematisiert, mit völlig unangemessener Bezugnahme auf die Hinterkopflichtung durch den Geliebten: „Du hast bald die Haare wie Roy Black.“ – „Wie hat denn Roy Black die Haare?“ – „Gar keine mehr.“

Logik beim Abendessen, es gab gegrillten Rollbraten: „Die Schnur kann man mitessen, ist Baumwolle.“

Sonntag: Alle Jahre wieder- was genau war nochmal Pfingsten? Ist dieser Heilige Geist auch so eine Art Virus?

Gespräch beim Frühstück: „Blühen die Pfingstrosen im Garten schon?“ – „Die sind schon verblüht.“ – „Da kann man mal sehen, wie dusselig die sind.“

Nachmittags kam mir eine Dame auf dem Fahrrad mit volltätowierten Brüsten entgegen. Das war sehr unschön.