Woche 30: Vielleicht bleibt das erstmal für immer so

Montag: „Die Bedingungen in der fleischverarbeitenden Industrie sind weder menschenwürdig noch tiergerecht“, wird die BUND-Geschäftsführerin in der Zeitung zitiert. Im Zusammenhang mit Fleischerzeugung überhaupt von „tiergerecht“ und „Tierwohl“ zu sprechen ist schon ziemlich abwegig.

Bleiben wir noch ein wenig beim Thema Fleisch: Auf dem Weg in die Kantine, wo es Königsberger Klopse mit einem seltsam roten, indes wohlschmeckenden Püree gab, sah ich an einer Bushaltestelle eine barfüßige Frau mitsamt Fahrrad in den Bus steigen, den sie kurz darauf wieder verließ; vielleicht hatte der Busfahrer sie freundlich über die Zweckbestimmung eines Fahrrades aufgeklärt. Während sie das Rad aus dem Bus trug, stieß sie lautstark üble Beschimpfungen gegen den Fahrer aus, deren Wortlaut ich hier nicht wiedergeben möchte, weil das vermutlich gegen die Bestimmungen von WordPress verstieße. Sie war noch zu hören, als ich die Haltestelle längst hinter mir gelassen hatte und der Bus schon lange außer Sichtweite war. Ob sie ihren Weg schimpfradelnd fortsetzte, habe ich nicht weiter verfolgt. Wäre es nicht unter meinem ohnehin nicht allzu hohen Niveau, dieses F-Wort, das auf -otze endet, zu benutzen: Für diese Person wäre es wohl passend gewesen.

Ansonsten war der Tag geprägt von zähem Fluss und Müdigkeit. Doch auch für solche Tage hat die Natur oder das Universum oder wer sonst dafür zuständig ist ein Ende vorgesehen.

Dienstag: Augen auf bei der Brauenpflege. Merke: Stufe fünf des Haarschneiders bedeutet nicht zwangsläufig fünf Millimeter. Was solls, wächst ja nach.

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Im Werk gibt es ein Benutzerverwaltungssystem mit deutscher Bezeichnung, abgekürzt wird es BVOK. Das ist zunächst unspektakulär und hier kaum der Erwähnung wert. Was allerdings auffällt: Alle sprechen es „Bi-Wok“ aus, als ginge es um einen geschlechtlich flexiblen asiatischen Gemüsebräter. Vermutlich hat irgendwann ein anglophiler Berater damit angefangen, seitdem plappern es alle ohne nachzudenken nach, wie so oft.

Mittwoch: „Seine blauen Augen leuchten, seine Kopfform erinnert an die von Lord Voldemort, dem Bösewicht aus Harry Potter“, schreibt der General-Anzeiger über Stephan B., den Attentäter von Halle. War der Redakteur früher für die Bild-Zeitung tätig, oder produzierte er zweifelhafte Groschenromane?

Abends erforderten Vereinspflichten meine Anwesenheit in Köln. Während des Wartens auf dem Bahnsteig lauschte ich den Coronaparolen der Bahn aus dem Lautsprecher: „Bitte halten Sie Abstand. – Tragen Sie einen Mund-Nasen-Schutz. – Bleiben Sie gesund.“ Ich versuche es. Was hätten wir wohl gedacht, wenn uns vor einem Jahr jemand gesagt hätte: „In einem Jahr müssen wir alle eine Maske tragen, wenn wir mit der Bahn fahren.“  Heute kann ich mir fast nicht mehr vorstellen, dass das irgendwann wieder ohne möglich ist. Vielleicht bleibt das erstmal für immer so.

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Während der Fahrt blickte ich auf eine Böschung, dicht bewachsen mit Brombeersträuchern voller schwarzer Früchte, teilweise griffen ihre Zweige bis auf den Gleisschotter. Übernehmen irgendwann, wenn die Menschheit sich erfolgreich eliminiert hat, also vielleicht schon bald, Brombeersträucher die Weltherrschaft? Das wäre jedenfalls besser als Durian, von der ich letztens las, auch Stink- oder Kotzfrucht genannt.

Donnerstag: Auf dem Weg ins Werk ereilte mich auf dem Fahrrad ein Stich in den Rücken, der mich seitdem treu begleitet. Manchmal möchte ich den HERRN anrufen und sagen: „Nimm hin diesen alten, geschundenen Körper und schaffe aus seinen Atomen etwas Sinnvolles: Bienen, Ameisen oder Brombeersträucher.“ Immerhin entschleunigt so ein Rückenschaden den Alltag erheblich.

Erfahrung des Tages: Bevor du in einer Skypekonferenz einem Teilnehmer eine lästerliche Nachricht schickst, die nur für ihn bestimmt ist, achte unbedingt darauf, dass er nicht gerade seinen Bildschirm präsentiert.

Gehört: „Ich habe nächste Woche zwei Tage Urlaub, weil mein Sohn Geburtstag hat.“ Klingt eher nach Orgie denn Kindergeburtstag.

Freitag: Im Rücken zwickt es noch immer, aber schon weniger als gestern. Vielleicht sollte ich mit dem Anruf des Herrn noch etwas warten.

Ansonsten in Besprechungen gehört: „Das beheben wir minimalinvasiv“ (Kenne ich, ist wesentlicher Bestandteil meines Lebensprinzips), „trilaterale Abstimmung“ (kenne ich auch, täglich zu Hause) und „Erstell dazu mal ein factbook“ (kenne ich nicht, ist laut Leo kein gebräuchliches Wort).

Abends bekamen wir im Vogelhaus Besuch. Dazu wussten meine Lieben: „Das ist keine Hausmaus, sondern eine Feldmaus, hat K [unser Nachbar, Anm. d. Chronisten] gesagt.“ – „Woher weiß der das?“ – „Der kommt doch aus der Ecke.“ Im Übrigen zeigte sich das Tier durch unsere Anwesenheit und das grelle Licht der Kamera wenig beeindruckt.

Samstag: Nachmittags debattierten wir über die Ästhetik von Bauchnabeln, ein weites Feld, über das sich vieles sagen und schreiben ließe, wie dieses: „Das ist wie beim Obst – da gibt es schöne Gurken und schlechte Gurken.“

Als wir abends vom Essen heimkehrten, saß die Maus wieder im Vogelhäuschen und naschte Körner. Nicht nur das: Ein weiteres Exemplar war in die Falle getappt. Sie sind also mindestens zu zweit.

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Selbstverständlich entließen wir das Mäuschen umgehend in die Freiheit des Gartens, ein baldiges Wiedersehen ist somit wahrscheinlich.

Sonntag: Das schottische Wort „Tartle“ bezeichnet laut dem Buch „Einzigartige Wörter“ den Moment des Zögerns, wenn man jemanden trifft, dessen Name man vergessen hat. Zurzeit beschäftigt mich indessen der umgekehrte Fall. Ohne Anlass, also ohne ihn in letzter Zeit gehört oder irgendwo gelesen zu haben, ist mir wieder ein Name eingefallen, den ich nicht mehr mit der zugehörigen Person in Verbindung zu bringen vermag. Das wenige, was ich noch weiß oder wenigstens zu erinnern glaube: Es war eine männliche Person mutmaßlich „mit Migrationshintergrund“ *, mit der ich vor über zwanzig Jahren im Raum Bielefeld in vermutlich beruflichem Umfeld zu tun hatte. Es bedurfte damals einiger Übung, bis ich den Namen fehlerfrei aussprechen konnte. Mehr fällt mir dazu nicht ein, doch lässt es mir keine Ruhe. Ob die Schotten dafür auch ein Wort unter ihren Röcken tragen? Aber nein, angeblich tragen die darunter ja nix, ein anderes Thema. Lieber Herr Delialioglu, falls Sie das hier zufällig lesen, scheuen Sie sich nicht, eine Nachricht zu hinterlassen, es würde mich freuen.


* Laut Sonntagszeitung ist diese Bezeichnung inzwischen auch nicht mehr politisch korrekt; eine zeitgemäße Alternative wird leider nicht angeboten.

Woche 29: Überwiegend angenehm in gewohnter Geschäftigkeit

Liebe Leserinnen und Leser, hier der Rückblick auf die wichtigsten Ereig- und Erkenntnisse der Woche vom 13. bis 19. Juli 2020.

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Montag: „Abstand ist angesagt“, steht auf einem Plakat des Landes NRW. Für Teile von Mallorca galt am vergangenen Wochenende indes eher: „Anstand ist abgesagt“.

Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub enthielt zwei weitgehend entbehrliche halbstündige Besprechungen und einen mittäglichen Spaziergang durch die Rheinauen, ansonsten keine nennenswerten Imponderabilien. Was verlangt man von einem Montag dem 13. mehr.

Dienstag: Treffen sich zwei EU-Beamte. (Warum beginnen Witze eigentlich immer mit dieser sprachlich äußerst fragwürdigen Einleitung? Warum sagt man nicht „Ein Mann kam zum Arzt“ statt „Kommt ein Mann zum Arzt und sagt »Herr Doktor, Herr Doktor …« [Einschub: Kein Mensch geht zum Arzt und sagt »Herr Doktor, Herr Doktor«] – Egal, das soll jetzt nicht Gegenstand der Betrachtung sein, also weiter im Text.) Sagt der eine: „Mir ist so langweilig.“ Darauf der andere: „Mir auch. Los, lass uns die Mindesthaltbarkeit von Mineralwasser regeln.“ – „Au ja!“

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Mittwoch: Der Tag verlief überwiegend angenehm in gewohnter Geschäftigkeit ohne notierenswerte Ereignisse. Allenfalls wäre zu beklagen gewesen, dass laut Zeitung die Ausfuhr von Kriegswaffen aus Deutschland gestiegen ist, doch möchte ich mich nicht ständig wiederholen.

Abends war leichtes Theatergrummeln zu vernehmen, weil der Liebste zuvor ein wenig Nachbarschaftspflege betrieben hatte. (Nein, keine sexuelle Belustigung.)

Donnerstag: Kennen Sie das, wenn Sie einen Satz oder Begriff hören, den Sie anschließend ständig leise vor sich hin flüstern und dabei jedes Mal kichern müssen? So erging es mir heute, als ich von der „Spielvereinigung Pittenhart e.V.“ Kenntnis erhielt. Was mag dort gespielt werden? Man möchte Mäuschen spielen.

Nicht gespielt sondern echt die Maus bei uns im Haus. Erstmals gesichtet haben wir sie vor einer Woche abends auf unserem Balkon, wie auch immer sie dorthin gelangt ist, sie scheint über beachtliche Kletterkünste zu verfügen. Daraufhin besorgte der Liebste eine Mausefalle – nicht so ein brutales Modell mit Drahtbügel, der mit Federkraft dem armen Tier das Genick bricht, sondern eine für Mausverhältnisse geräumige, fellschonende, durchsichtige Plastikröhre, die sie in Gewahrsam nimmt, auf dass wir sie anschließend unversehrt fern des Hauses in die Freiheit entlassen könnten. Entweder mag sie keinen Käse, keine Nusscreme noch Körner, oder sie ist sehr klug; jedenfalls blieb die Röhre bislang mausmäßig unbetreten, daher nahmen wir schon an, sie hätte den Balkon wieder verlassen. Irrtum: Heute sah der Liebste sie durch das Schlafzimmer huschen, mit wenig Bereitschaft zur Gefangennahme. Das kommt davon, wenn die Balkontür ständig geöffnet ist, aber auf mich hört ja keiner. Nun steht die Falle also im Schlafzimmer. Immerhin geht von ihr keine Unfallgefahr für Zehen aus.

Nachtrag: Am späteren Abend durchquerte die Maus die Küche und verschwand zunächst hinter dem Kühlschrank. Kurz darauf verließ sie durch die geöffnete Balkontür freiwillig die Wohnung. Sicher ist: Sie wird wiederkommen, wenn die Tür das nächste Mal offen steht. Also sehr bald.

Freitag: Als ich morgens als zweiter in die Küche kam, war die Balkontür schon wieder weit geöffnet. Ich erwäge, der Maus im Wohnzimmer eine Ecke einzurichten, mit Futterstelle und Grasfläche, falls sie dauerhaft bei uns wohnen möchte. Vielleicht bringt sie noch ein paar Freunde mit.

Häufigster Satz in Skype-Besprechungen: „……………………. Sorry, ich war noch gemutet.“

Ansonsten gehört: „Wenn man sich mit anderen unterhält, denkt man, das ist so ne Art Psychologie, aber dann verstehen die das und geben einem recht.“

Samstag: „Tsundoku“ ist ein japanisches Wort, es bedeutet, ein frisch gekauftes Buch zu den anderen ungelesenen zu legen. Solches zu tun war mir heute vergönnt, nachdem ich in der Buchhandlung meines Vertrauens nicht ein Buch erstanden habe, sondern vier.

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Sonntag: Das seit März in großen Mengen gekaufte Toilettenpapier geht mit Ablauf dieser Woche zu neige, ab Montag müssen die Deutschen wieder nachkaufen. Das wollen Marktforscher laut Sonntagszeitung herausgefunden haben.

Während des Spaziergangs begegnete mir ein Mädchen auf einem Einrad. Für mich, der ich nicht mal in der Lage bin, freihändig Fahrrad zu fahren, immer noch eines der größten Rätsel. Warum funktioniert das, und wie ist es Menschen möglich, das zu erlernen? Und wer hat sich das ausgedacht? Das erscheint mir wesentlich interessanter als die Klopapierbestände in deutschen Haushalten.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme neue Woche mit ausreichend Toilettenpapier und auch sonst ohne nennenswerte Mängel!

Woche 28: Der Urmeter muss wegen akuter Verkürzung neu definiert werden

Liebe Leserin, lieber Leser, hier mein persönlicher, absolut subjektiver und in keiner Weise maßgeblicher Rückblick auf die Woche vom 6. bis 12. Juli 2020.

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Montag: Letzter Tag auf dem Schiff. Nach kurzem Zwischenhalt in Winningen, einem recht schönen, touristisch nicht allzu überbelichteten Moselort, erreichten wir nachmittags Bonn, wo für uns die Reise endete.

„Genießen Sie die letzten Züge“, sagte der Kreuzfahrtleiter nach Ablegen in Winningen zum überwiegend älteren Publikum. Wie immer war er gekleidet in weißer Hose, weißen Sportschuhen und Polohemd in der türkisen Unternehmensfarbe. In Verbindung mit der Schutzmaske erinnerte er an einen Pfleger, was ja hier nicht völlig abwegig war. „Ich meinte natürlich die letzten Züge Ihres Urlaubs“, fügt er vorsichtshalber hinzu, man weiß ja nie, wer da wieder was in den falschen Hals kriegt.

Das überwiegend osteuropäische Personal an Bord weckte übrigens zum Teil gewisse Assoziationen. Vielleicht habe ich in früheren Jahren einfach zu viele tschechische Pornos gekuckt.

Auf die allerletzte Etappe nach Köln am nächsten Morgen in urlaubsunublicher Frühe verzichteten wir aus naheliegenden Gründen, das Abendessen an Bord nahmen wir selbstverständlich noch mit, ist ja bezahlt.

Fazit: Sehr zu empfehlen, machen wir wieder.

Das vergangene Woche gezeigte Brückenlimbo in Wehlen wurde vom Liebsten hier noch einmal in bewegten Bildern festgehalten.

Dienstag: In Nachschau auf unsere Reise träumte ich vergangene Nacht vom Bordrestaurant. Zum Abendessen wurden Kaninchenhälse angeboten. „Da könnte ich mich reinlegen“, sagte die Tischnachbarin.

„Was Deutschland angeht: Corona ist vorbei. Das Thema ist durch. Ich persönlich bin nicht bereit, bei einer solchen „Infektionslage“ (und so kann man sie ja kaum noch bezeichnen) eine Maske anzuziehen“, schreibt Guido M aus B in einem Leserbrief an den General-Anzeiger. Der Mann hat offenbar die Welt verstanden, nun erklärt er sie allen.

Dazu passend schreibt Frau Nessy:

„Diese seit Jahren zunehmende Erwartung, von jeglichem Ungemach frei zu sein – auf Kosten Anderer. Auf dem Fahrradweg parken, damit man nicht 300 Meter weit laufen muss. Mit dem Auto in die Stadt fahren, weil man den ÖPNV als ranzig empfindet. Drei Flugreisen im Jahr unternehmen, weil man auch wirklich mal ausspannen möchte. Keine Maske im Geschäft tragen, weil es darunter so stickig wird. Dieses wehleidige Gejammer der Privilegierten – ich krieg’n Hals. Setzt eure Masken auf, Desirée und Frank-Dieter! Und wenn ihr schwitzt: Denkt halt an was Kaltes.“

Aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die ich mit zwei Tagen Verspätung durchblätterte: „Unfallchirurgen schlagen Alarm: Dank der Hochleistungsmedizin überleben immer mehr Schwerverletzte.“ Erschreckend.

Mittwoch: Jair Bolsonaro ist positiv auf Covid-19 getestet worden. Somit einer von zwei Menschen auf der Welt, bei denen ich glaube, es hat den richtigen getroffen; wer der andere ist, können Sie sich vielleicht denken. Wobei, wenn ich darüber nachdenke, fallen mir noch ein paar weitere ein, Deutsche sind nicht unter den Opfern. Was Bolsonaro betrifft, hoffe ich auf ein paar unerquickliche Symptome. Andernfalls stellt er sich hin und behauptet, er habe es ja gleich gesagt, nur eine leichte Erkältung, mehr nicht. Das wäre ein fatales Signal nicht nur für Menschen wie Guido M aus B.

„Hey ich bins, Janine Kunze“, kräht die Frau in der Radioreklame. Früher wusste ich nicht, wie man Janine Kunze schreibt, heute frage ich mich: Wer ist Janine Kunze?

Donnerstag: Kürzlich wütete ich hier über Radfahrer, die während der Fahrt auf ihr Datengerät schauen. Heute sah ich eine Radfahrerin, die in der Fußgängerzone mit beachtlicher Geschwindigkeit neben sich einen großen vierrädrigen Rollkoffer bewegte. Das hat mich dann doch ein wenig beeindruckt.

Im Zusammenhang mit Fahrradunfällen durch Autofahrer, die beim Öffnen der Tür nicht auf Radfahrer achten, las ich zum ersten Mal den Begriff „Dooring“. Wer hat sich das nun wieder ausgedacht?

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Mittags brachen wir auf zum Elternkurzbesuch nach Ostwestfalen. Ein Spaziergang mit meiner Mutter führte zu dem Wäldchen nicht weit vom Elternhaus im Bielefelder Osten, wo wir als Kinder gerne hingingen, unbegleitet von Erwachsenen und mobil unerreichbar, von wo wir manchmal erst zum Abendessen zurückkehrten, undenkbar heute. Inzwischen sind die Wege im Wald zugewuchert, anscheinend geht da keiner mehr hin.

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Nach wochenlanger Autobahnabstinenz merkte ich einmal mehr, wie sehr mich das Fahren Rasen und Drängeln auf deutschen Autobahnen anstrengt, auch als Beifahrer. Fragte mich die bekannte Fee nach den drei Wünschen, so trüge ich ihr dieses auf: 1) ein generelles Tempolimit von 120 km/h; 2) strenge Kontrollen des Tempos, der Abstände, der Geräuschentwicklung (letztere vor allem bei Motorrädern und Poseräffchenwagen) und der Benutzung von Datengeräten am Steuer; 3) saftige Strafen bei Verstößen, mindestens Geldstrafen, die richtig wehtun, bis hin zu temporären und dauerhaften Fahrverboten. Unterdessen hörte ich im Autoradio, die kürzlich beschlossene Verschärfung des Bußgeldkataloges wurde ausgesetzt, angeblich wegen Formfehlern. Wann tritt dieser besch Scheuer endlich zurück?

„Fußball lebt durch seine Fans“, erkannte ich aus den Augenwinkeln an einen Brückenpfeiler geschrieben. Spontan fielen mir dazu die Bilder in der Tagesschau neulich ein nach dem Spiel von Werden Bremen, glaube ich, gegen wasweißich, kenne mich da nicht aus und es interessiert mich auch nicht. Jedenfalls ließen die dort gezeigten „Fans“ einige Schlüsse über das „Leben“ des Fußballs zu.

Genug gewütet für heute.

Freitag: Am letzten Urlaubstag verließ ich freiwillig und problemlos um sieben Uhr des Bettes Behaglichkeit und nahm mir eine mehrstündige Alleinzeit, die ich waldwandernd auf der zweiten Etappe des Rheinsteig-Wanderwegs von Königswinter nach Bad Honnef verbrachte. Nach dem Drachenfels fuhren zwei mittelalte* Herren auf Mountainbikes** an mir vorbei, nach einigen hundert Metern hielten sie an und kuckten irgendwas an einem der Räder. Als ich mit kurzem Gruß an ihnen vorbeiging, bemerkte ich, es waren elektrische Fahrräder, wie diese rasenden Elektrorentner sie haben, nur eben als Mountainbike. Was es alles gibt.


* Also unwesentlich älter als ich

** Ein von mir als weitgehend alternativlos akzeptierter Anglizismus. „Bergfahrrad“ klingt jedenfalls ziemlich blöde.

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Ein Männlein grinst im Walde

Samstag: Am frühen Nachmittag besuchte ich das Bonner Stadtmuseum, um mir die Ausstellung „Fotografien aus dem Corona-Alltag“ anzuschauen. Sehenswert.

Auf dem Weg dorthin beobachtete ich die Leute in der Fußgängerzone beim ein-Meter-fünfzig-Abstand-halten. 2020 wird wohl auch als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem der Pariser Urmeter wegen akuter Verkürzung neu definiert werden musste. (Dasselbe gilt für Autos, die Fahrräder überholen.)

Sonntag: Ansonsten gehört und notiert:

„Du brauchst hier gar nicht rumzubrüllen, man bekommt dich ja gar nicht übertönt!“

„Abends werden die alten faul … oder wie heißt das?“

„Bist du allergisch gegen Bienenstich?“ – „Nein, den esse ich ganz gerne.“

„Deswegen geht ihr auch an meine Cremes. Ich sehe aus wie ein Scheißhaus, und ihr habt den perfekten Taint.“

Gelesen im SPIEGEL:

„Eine große Schwäche von mir ist, dass ich mich schwertue, andere Menschen zu ertragen. Vor allem wenn sie in größeren Gruppen auftauchen.“

(Hans Joachim Schellnhuber, Klimaforscher)

Zur aktuellen Rassismusdebatte in Amerika:

„Was wir tun können? Weiterhin diskutieren und nicht automatisch empört sein, wenn jemand eine andere Meinung äußert. Wir werden nie alle einig sein können.“

(Daniel Kehlmann, Schriftsteller)

„Als würde Helene Fischer aus Protest gegen Überfischung auf ihren Nachnamen verzichten.“

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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in eine möglichst angenehme neue Woche.

Woche 27: Einfach nur sitzen und kucken – Brückenlimbo und Silberlocken

Montag: Zwei Wochen Urlaub, wie schön. Entgegen sonstiger Gewohnheit werden wir die Zeit nicht in Südfrankreich verbringen, nicht wegen der Seuche, sondern wegen schlechter Erfahrungen im Vorjahr mit der Hitze, die uns zum vorzeitigen Abbruch zwang. Was wir stattdessen tun, darüber berichte ich ab morgen.

„Es gibt keinen Plan“, ist in diesem Aufsatz zu lesen, den ich Ihnen empfehle. Sein Fazit: „Das heißt, Sie können einfach machen, was immer Sie wollen. Auch wenn es zu Fehlern führt. Das macht überhaupt nichts, denn Sie haben zwar keinen Plan – die anderen alle aber auch nicht. Es fällt nicht weiter auf. Machen Sie einfach irgendwas.“

Womöglich hat unser Nachbar gegenüber den Aufsatz ebenfalls gelesen und verinnerlicht. Von Beruf ist er Lehrer, was keinesfalls ab- oder in sonstiger Weise wertend gemeint ist, vielmehr soll es nur als Erklärung dienen, warum auch er Urlaub hat. Seit Stunden hämmert, sägt und flext er auf seiner Terrasse herum, ohne dass der Zweck seines Tuns erkennbar wäre.

Ob die Verfasserin des umstrittenen Artikels in der „taz“, der die Entsorgung von Polizisten auf Mülldeponien empfiehlt, ebenfalls einen Plan verfolgte oder einfach nur von allen guten Geistern verlassen ist, weiß ich nicht. Dabei gebe ich zu bedenken: Müll landet heute üblicherweise nicht mehr auf Deponien, sondern in Müllverbrennungsanlagen. So weit wollte sie dann vielleicht doch nicht gehen. Laut Zeitungsbericht sieht sie sich inzwischen heftigen Schmähungen und Bedrohungen ausgesetzt. Das heiße ich selbstverständlich nicht gut, kann es allerdings nachvollziehen.

Dienstag: Der Liebste und ich stachen heute in See, oder besser: in Fluss; statt Südfrankreich dieses Jahr eine Woche auf Rhein und Mosel. Ab 14 Uhr war am Bonner Ufer die Einschiffung, ein Wort, das ein wenig an Inkontinenz erinnert, was mit einer gewissen Boshaftigkeit eine passende Überleitung auf das Durchschnittsalter der Mitreisenden wäre, das wie erwartet erkennbar über unserem liegt, oder, wie der Geliebte es in der ihm eigenen Charmanz ausdrücken würde: „Kommen die alle zum Sterben hierher?“

Da unser Schiff, die „Andrea II“, nagelneu ist, wurde sie heute erst getauft. Die Champagnerflasche zerschellte auf Anhieb an der vorgesehenen Stelle, ohne größeren Schaden anzurichten, wodurch die allzeit eine Hand breit Wasser unter dem Kiel hoffentlich mindestens für die nächsten sieben Tage gewährleistet ist.

Zur Sicherheitsbelehrung wurde Sekt gereicht (auch für den Kapitän). Da kann man nicht meckern, was selbstverständlich manche nicht davon abhalten wird, es dennoch zu tun.

Pünktlich um 19 Uhr legten wir ab. Dem Kalenderseitenspruch „Auch jede große Reise beginnt mit einem kleinen Schritt“ folgend endete die erste Etappe bereits nach einer Stunde in Königswinter (nicht davor und nicht dahinter, ha ha), wo wir einen kurzen Landgang auf ein Glas Wein machten.

Bis jetzt zwei kleine Kritikpunkte. Erstens: Zum Essen wurde uns ein Vierertisch zugewiesen, was meiner westfälischen Abneigung, mich mit fremden Leuten unterhalten zu müssen, zuwiderläuft, wobei anzumerken ist, unsere Tischnachbarn, ein Paar aus Bayern, sind sehr nett. Zweitens: Frühstück gibt es nur bis 9:30 Uhr, was ein für Urlaubsverhältnisse unangemessen frühes Aufstehen erfordert.

Nachts um zwei legten wir in Königswinter ab, nächster Halt: Braubach.

Mittwoch: Vergangene Nacht träumte ich erst von intensivem Maschinenlärm im Norden von Gütersloh, der bis Bielefeld zu hören war, dann vom lauten Abbruch eines Wohnblocks neben meinem Elternhaus, begleitet von äußerst lustigen Dialogen der Abbrucharbeiter, die ich leider nicht wiedergeben kann, da vergessen. Interessanterweise spielt noch immer ein großer Teil meiner Träume in Bielefeld, und es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis auch die für die Traumerzeugung zuständige Hirnregion endlich im Rheinland ankommt. Grund für die geräuschthematischen Träume war übrigens das recht laute Brummen des Schiffs, das sich nachts stromaufwärts gen Braubach kämpfte. Daran muss ich mich noch etwas gewöhnen, oder zur Schlafvorbereitung ein Glas Wein mehr trinken.

Nach dem Frühstück machten wir einen kurzen Spaziergang durch Braubach, danach begaben wir uns auf das Sonnendeck, wo sich ein Mitreisender darüber empörte, dass kein Kellner heraufkommt. „Dann muss du eben unten bescheid sagen“, sagte seine Begleitung. „Das ist für mich nicht interessant“, seine Antwort. Einer hat halt immer was zu pissen.

Aus der Zeitung: „Jetzt müssen und können wir beweisen, dass Karneval auch ohne Alkohol und laute Musik geht“, sagt die Präsidentin des Festausschusses Bonner Karneval. Karneval ohne Alkohol und Musik. Das ist einen Tusch wert, wenn nicht gar eine Rakete.

Gegen zwölf Abfahrt nach Rüdesheim. Alle paar Meter eine Burg oder Ruine, dazu Erklärungen aus dem Bordlautsprecher. Wenn man hört, wann die von wem und wozu errichtet und wieder zerstört wurden, kann man nur zu dem Schluss kommen, früher waren die Menschen nicht weniger bekloppt als heute, nur anders.

Erkenntnis zu Rüdesheim: Wenn in ohnehin deprimierenden Touristenorten die Touristen ausbleiben, wirken sie nochmal so deprimierend. Dennoch hielten wir Einkehr für einen vorzüglichen Riesling.

(Die berühmte, sonst menschendurchtoste Drosselgasse)

Das Fotografierverbot, das ich erst jetzt bemerke, könnte ein Hinweis darauf sein, wie sehr man sich selbst schämt, so einen Unrat zu verkaufen.

Donnerstag: In den frühen Morgenstunden fuhr das Schiff nach Koblenz, wo es am Peter-Altmeier-Ufer festmachte. Falls Sie sich wundern wie ich zunächst: Nicht der amtierende Wirtschaftsminister ist Namensgeber, sondern ein früherer Ministerpräsident, wie der Liebste zu recherchieren so freundlich war.

Ansonsten gehen in Koblenz die Uhren anders.

Mittags setzten wir die Reise fort über die Mosel bis Cochem. Ich kann stundenlang oben auf dem Aussichtsdeck sitzen und, ob sonnenbestrahlt oder windumpustet, nichts weiter tun als in die Gegend zu kucken. Wenn man damit Geld verdienen könnte, gerne auch hauptberuflich.

Im Übrigen gilt für die touristische Attraktivität von Cochem ähnliches wie für Rüdesheim. Grundsätzlich sind das schöne Orte. Leider wurden deren Grelle und Lautstärke viel zu weit aufgedreht.

Freitag: Am Morgen Weiterfahrt in Richtung Trier. Einfach nur sitzen und kucken.

(Brückenlimbo in Bullay)

Eine Runde Extrem-Brückenlimbo in Wehlen:

Die Präzision, mit welcher der Schiffsführer die zahlreichen Schleusen durchfährt mit jeweils nur wenigen Zentimetern Platz zu den Seiten, ist bewundernswert. Vermutlich würde er auch ziemlich großen Ärger mit dem Eigner bekommen, wenn er in das neue Schiff eine Macke fährt.

Ankunft im Industriehafen zu Trier zwei Stunden vor Plan. Auch schön hier.

Samstag: Hier und da Unmutsäußerungen der Mitreisenden ob des wenig pittoresken Liegeplatzes im Hafen, fern der Trierer Innenstadt, die immerhin mit einem vom Veranstalter organisierten Bustransfer zu erreichen ist. Oder: „Aufstand der Silberlocken“, wie der Liebste es treffend ausdrückt.

Mir bereitet es unterdessen keinerlei Verstimmung, wenn beim Sitzen und Kucken der Blick nur auf ein Hafenbecken mit wenig Betrieb fällt. „Hafen Trier – unser Hafen bringts!“, steht an einem hohen Bunker. Ein Satz, der zum Nachdenken anregt.

Nachmittags Bus-Ausflug nach Luxemburg. Augenscheinlich eine sehr schöne Stadt, die wir nochmals besuchen wollen, gerne auch ohne eine geführte Tour, also mit mehr sehen, weniger hören. Bei Stadtführungen wird für für meinen Geschmack ja generell zu viel erzählt und zu wenig gegangen. Alle paar hundert Meter bleibt man stehen, da ist dann irgendein bedeutendes Bauwerk, eine geschichtsträchtige Gaststätte, eine wichtige Kirche oder ein Denkmal, und man wird mit wenig merkenswerten Fakten beworfen. Immerhin weiß ich nun, dass die Luxemburgische Flagge rot-weiß-himmelblau ist. Himmel-, nicht hellblau; hellblau kann ja jeder.

Sonntag: Aufgewacht in Bernkastel-Kues, wo freundlicherweise schon für uns geflaggt wurde.

Das Wetter zeigte sich zunächst leicht betrübt, die persönliche Stimmung indessen bestens.

Weinanbau, so weit das Auge reicht. Wie würde man das einem Außerirdischen erklären?

Wurde eigentlich schon untersucht, warum einander fremde Menschen winken, sobald sich ein Teil von ihnen auf einem Schiff befindet?