Woche 28: Der Urmeter muss wegen akuter Verkürzung neu definiert werden

Liebe Leserin, lieber Leser, hier mein persönlicher, absolut subjektiver und in keiner Weise maßgeblicher Rückblick auf die Woche vom 6. bis 12. Juli 2020.

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Montag: Letzter Tag auf dem Schiff. Nach kurzem Zwischenhalt in Winningen, einem recht schönen, touristisch nicht allzu überbelichteten Moselort, erreichten wir nachmittags Bonn, wo für uns die Reise endete.

„Genießen Sie die letzten Züge“, sagte der Kreuzfahrtleiter nach Ablegen in Winningen zum überwiegend älteren Publikum. Wie immer war er gekleidet in weißer Hose, weißen Sportschuhen und Polohemd in der türkisen Unternehmensfarbe. In Verbindung mit der Schutzmaske erinnerte er an einen Pfleger, was ja hier nicht völlig abwegig war. „Ich meinte natürlich die letzten Züge Ihres Urlaubs“, fügt er vorsichtshalber hinzu, man weiß ja nie, wer da wieder was in den falschen Hals kriegt.

Das überwiegend osteuropäische Personal an Bord weckte übrigens zum Teil gewisse Assoziationen. Vielleicht habe ich in früheren Jahren einfach zu viele tschechische Pornos gekuckt.

Auf die allerletzte Etappe nach Köln am nächsten Morgen in urlaubsunublicher Frühe verzichteten wir aus naheliegenden Gründen, das Abendessen an Bord nahmen wir selbstverständlich noch mit, ist ja bezahlt.

Fazit: Sehr zu empfehlen, machen wir wieder.

Das vergangene Woche gezeigte Brückenlimbo in Wehlen wurde vom Liebsten hier noch einmal in bewegten Bildern festgehalten.

Dienstag: In Nachschau auf unsere Reise träumte ich vergangene Nacht vom Bordrestaurant. Zum Abendessen wurden Kaninchenhälse angeboten. „Da könnte ich mich reinlegen“, sagte die Tischnachbarin.

„Was Deutschland angeht: Corona ist vorbei. Das Thema ist durch. Ich persönlich bin nicht bereit, bei einer solchen „Infektionslage“ (und so kann man sie ja kaum noch bezeichnen) eine Maske anzuziehen“, schreibt Guido M aus B in einem Leserbrief an den General-Anzeiger. Der Mann hat offenbar die Welt verstanden, nun erklärt er sie allen.

Dazu passend schreibt Frau Nessy:

„Diese seit Jahren zunehmende Erwartung, von jeglichem Ungemach frei zu sein – auf Kosten Anderer. Auf dem Fahrradweg parken, damit man nicht 300 Meter weit laufen muss. Mit dem Auto in die Stadt fahren, weil man den ÖPNV als ranzig empfindet. Drei Flugreisen im Jahr unternehmen, weil man auch wirklich mal ausspannen möchte. Keine Maske im Geschäft tragen, weil es darunter so stickig wird. Dieses wehleidige Gejammer der Privilegierten – ich krieg’n Hals. Setzt eure Masken auf, Desirée und Frank-Dieter! Und wenn ihr schwitzt: Denkt halt an was Kaltes.“

Aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die ich mit zwei Tagen Verspätung durchblätterte: „Unfallchirurgen schlagen Alarm: Dank der Hochleistungsmedizin überleben immer mehr Schwerverletzte.“ Erschreckend.

Mittwoch: Jair Bolsonaro ist positiv auf Covid-19 getestet worden. Somit einer von zwei Menschen auf der Welt, bei denen ich glaube, es hat den richtigen getroffen; wer der andere ist, können Sie sich vielleicht denken. Wobei, wenn ich darüber nachdenke, fallen mir noch ein paar weitere ein, Deutsche sind nicht unter den Opfern. Was Bolsonaro betrifft, hoffe ich auf ein paar unerquickliche Symptome. Andernfalls stellt er sich hin und behauptet, er habe es ja gleich gesagt, nur eine leichte Erkältung, mehr nicht. Das wäre ein fatales Signal nicht nur für Menschen wie Guido M aus B.

„Hey ich bins, Janine Kunze“, kräht die Frau in der Radioreklame. Früher wusste ich nicht, wie man Janine Kunze schreibt, heute frage ich mich: Wer ist Janine Kunze?

Donnerstag: Kürzlich wütete ich hier über Radfahrer, die während der Fahrt auf ihr Datengerät schauen. Heute sah ich eine Radfahrerin, die in der Fußgängerzone mit beachtlicher Geschwindigkeit neben sich einen großen vierrädrigen Rollkoffer bewegte. Das hat mich dann doch ein wenig beeindruckt.

Im Zusammenhang mit Fahrradunfällen durch Autofahrer, die beim Öffnen der Tür nicht auf Radfahrer achten, las ich zum ersten Mal den Begriff „Dooring“. Wer hat sich das nun wieder ausgedacht?

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Mittags brachen wir auf zum Elternkurzbesuch nach Ostwestfalen. Ein Spaziergang mit meiner Mutter führte zu dem Wäldchen nicht weit vom Elternhaus im Bielefelder Osten, wo wir als Kinder gerne hingingen, unbegleitet von Erwachsenen und mobil unerreichbar, von wo wir manchmal erst zum Abendessen zurückkehrten, undenkbar heute. Inzwischen sind die Wege im Wald zugewuchert, anscheinend geht da keiner mehr hin.

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Nach wochenlanger Autobahnabstinenz merkte ich einmal mehr, wie sehr mich das Fahren Rasen und Drängeln auf deutschen Autobahnen anstrengt, auch als Beifahrer. Fragte mich die bekannte Fee nach den drei Wünschen, so trüge ich ihr dieses auf: 1) ein generelles Tempolimit von 120 km/h; 2) strenge Kontrollen des Tempos, der Abstände, der Geräuschentwicklung (letztere vor allem bei Motorrädern und Poseräffchenwagen) und der Benutzung von Datengeräten am Steuer; 3) saftige Strafen bei Verstößen, mindestens Geldstrafen, die richtig wehtun, bis hin zu temporären und dauerhaften Fahrverboten. Unterdessen hörte ich im Autoradio, die kürzlich beschlossene Verschärfung des Bußgeldkataloges wurde ausgesetzt, angeblich wegen Formfehlern. Wann tritt dieser besch Scheuer endlich zurück?

„Fußball lebt durch seine Fans“, erkannte ich aus den Augenwinkeln an einen Brückenpfeiler geschrieben. Spontan fielen mir dazu die Bilder in der Tagesschau neulich ein nach dem Spiel von Werden Bremen, glaube ich, gegen wasweißich, kenne mich da nicht aus und es interessiert mich auch nicht. Jedenfalls ließen die dort gezeigten „Fans“ einige Schlüsse über das „Leben“ des Fußballs zu.

Genug gewütet für heute.

Freitag: Am letzten Urlaubstag verließ ich freiwillig und problemlos um sieben Uhr des Bettes Behaglichkeit und nahm mir eine mehrstündige Alleinzeit, die ich waldwandernd auf der zweiten Etappe des Rheinsteig-Wanderwegs von Königswinter nach Bad Honnef verbrachte. Nach dem Drachenfels fuhren zwei mittelalte* Herren auf Mountainbikes** an mir vorbei, nach einigen hundert Metern hielten sie an und kuckten irgendwas an einem der Räder. Als ich mit kurzem Gruß an ihnen vorbeiging, bemerkte ich, es waren elektrische Fahrräder, wie diese rasenden Elektrorentner sie haben, nur eben als Mountainbike. Was es alles gibt.


* Also unwesentlich älter als ich

** Ein von mir als weitgehend alternativlos akzeptierter Anglizismus. „Bergfahrrad“ klingt jedenfalls ziemlich blöde.

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Ein Männlein grinst im Walde

Samstag: Am frühen Nachmittag besuchte ich das Bonner Stadtmuseum, um mir die Ausstellung „Fotografien aus dem Corona-Alltag“ anzuschauen. Sehenswert.

Auf dem Weg dorthin beobachtete ich die Leute in der Fußgängerzone beim ein-Meter-fünfzig-Abstand-halten. 2020 wird wohl auch als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem der Pariser Urmeter wegen akuter Verkürzung neu definiert werden musste. (Dasselbe gilt für Autos, die Fahrräder überholen.)

Sonntag: Ansonsten gehört und notiert:

„Du brauchst hier gar nicht rumzubrüllen, man bekommt dich ja gar nicht übertönt!“

„Abends werden die alten faul … oder wie heißt das?“

„Bist du allergisch gegen Bienenstich?“ – „Nein, den esse ich ganz gerne.“

„Deswegen geht ihr auch an meine Cremes. Ich sehe aus wie ein Scheißhaus, und ihr habt den perfekten Taint.“

Gelesen im SPIEGEL:

„Eine große Schwäche von mir ist, dass ich mich schwertue, andere Menschen zu ertragen. Vor allem wenn sie in größeren Gruppen auftauchen.“

(Hans Joachim Schellnhuber, Klimaforscher)

Zur aktuellen Rassismusdebatte in Amerika:

„Was wir tun können? Weiterhin diskutieren und nicht automatisch empört sein, wenn jemand eine andere Meinung äußert. Wir werden nie alle einig sein können.“

(Daniel Kehlmann, Schriftsteller)

„Als würde Helene Fischer aus Protest gegen Überfischung auf ihren Nachnamen verzichten.“

***

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in eine möglichst angenehme neue Woche.

Woche 44: Womöglich peinlich berührt

Montag: Es ist kalt geworden, weshalb ich wieder mit der Bahn statt mit dem Fahrrad zum Werk fahre, die, am Rande gelobt, bezüglich Zuverlässigkeit heute keinen Grund zur Beanstandung bot. Stattdessen zwei Erkenntnisse bei der Betrachtung der Mitreisenden. Erstens: Die schlimmsten Entstellungen entstehen oft durch Frisuren. Zweitens: Es ist kein Wunder, wenn die Welt, in der alle nur noch auf ein Datengerät starren, immer bekloppter wird.

Dienstag: In einer Besprechung höre ich mehrfach das Wort „Zielbild“. Was soll das sein? Ein Bild von einem Ziel? Etwas, das nur wie ein Ziel aussieht?

„Wir haben uns dazu intensiv zusammengesetzt„, sagt ein anderer. Darüber möchte man auch nicht näher nachdenken.

Mittwoch: Statt Ziel- hier ein Herbstbild, entstanden kurz vor Ankunft im Werk:

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Für gewöhnlich werden öffentlich geführte Telefonate von Unbeteiligten als eher störend empfunden. Nicht so heute Abend im Bonner Hauptbahnhof. Nachdem der Zugansager den Regionalexpress nach Koblenz angesagt hatte, vergaß er offenbar, das Mikrofon zu deaktivieren, oder sich zu muten, wie Menschen es auszudrücken pflegen, wenn sie sich smart fühlen wollen. Was sonst eine Zumutung ist, zauberte zahlreichen Menschen auf den Bahnsteigen ein Lächeln ins Gesicht, als sie hörten, wie der Ansager mit Nicki oder Micki telefonierte, etwa so: „Alles klar bei dir, Nicki? … Ja … Nein, nicht? Dann ist das eben so, Nicki …“ und so weiter. Also nichts für fremde Ohren Interessantes oder gar Intimes, mehr so das Übliche, was man auf der Straße und in der Bahn täglich zu hören bekommt und was keiner Notiz würdig erschiene. Doch in dieser Situation gereichte es zahlreichen Menschen zur Freude. Bald verstummte der Lautsprecher mitten im Satz, der Sprechende hatte wohl seinen Fehler bemerkt und – womöglich peinlich berührt – schnell den Mikrofonknopf gedrückt, wohingegen das Lächeln der Wartenden noch etwas länger anhielt.

Donnerstag: Heute lächelte ich bereits am frühen Morgen beim Rasieren, obwohl das aus unlängst genannten Gründen seit geraumer Zeit in einer inhäusigen Baustelle erfolgt. Der Grund für meine Freude kam aus dem Radio, ich beschrieb ihn schon mal hier.

Auch die Lektüre der Tageszeitung hob mir die Mundwinkel ein wenig: „Drei Wochen nach dem Anschlag in Halle hat das Bundeskabinett ein Neun-Punkte-Paket beschlossen, um Betroffene von Hass und Drohungen im Netz, aber auch real vor der Haustür besser zu schützen.“ Haustüren sind ja schon lange eine völlig unterschätzte Quelle des Ungemachs.

„Staat muss mit weniger Geld auskommen“, steht auf der Titelseite derselben Ausgabe, bereits drei Seiten weiter diese Überschrift: „Mehr Geld für den Bund“. Die Zeiten sind sehr schnelllebig geworden.

Freitag: Allerheiligen. Ich muss nicht ins Werk, weil die Katholiken heute irgendwas feiern. Da mir als bekennendem Agnostiker nichts besonders heilig ist, mache ich es mir auf dem Sofa bequem, schaue dem jungen November zu, wie er mit Regen, Wind und Herbstestrübe Einzug hält, und lese. Nämlich in der Kulturbeilage des SPIEGEL ein Interview mit dem norwegischen Schriftsteller Jo Nesbø, wo er dieses sagte:

„Ein Schriftsteller wie ich besitzt keinen besseren Zugang zu Wissen und Informationen als seine Mitmenschen. Das macht es ein bisschen altmodisch und lächerlich, Schriftsteller nach ihrer Meinung zu wichtigen Weltproblemen zu fragen.“

Danach beendete ich die Lektüre des Buches „Das Ende vom Ende der Welt“ von Jonathan Franzen, von dem ich mir mehr oder was anders versprochen hatte, weshalb es demnächst Ihrer Abholung aus einem öffentlichen Bücherschrank anheim gestellt wird. Dennoch fand ich auch darin zwei zitierenswerte Sätze:

„Es stimmt, dass die effektivste Einzelmaßnahme, die ein Mensch treffen kann, nicht nur im Kampf gegen den Klimawandel, sondern auch zur Erhaltung der Biodiversität, darin besteht, keine Kinder zu kriegen.“

[…]

„Selbst in einer Welt, in der alles stirbt, wächst neue Liebe nach.“

Den zweiten Satz könnte ich mir gut in meiner Todesanzeige oder auf meinem Grabstein vorstellen. Wobei – der erste passte auch.

Samstag: Apropos Grabstein – „Stirb, du Hund“, hörte ich jemanden sagen, der mir in der Fußgängerzone begegnete. Da ich ihn nicht kannte und mir auch sonst keiner Schuld bewusst bin, durch was ich seinen Groll auf mich gezogen haben könnte, nehme ich an, die Anrede galt nicht mir, sondern war Teil der Unterhaltung mit seiner Begleiterin. Aber man weiß ja nie in dieser immer bekloppteren Welt.

Sonntag: WDR 2 sendet mittags den „Tatort-Check“ als Appetitanreger auf den „Tatort“ am Abend auf ARD, wo Millionen ihn mit großer Begeisterung anschauen und am Montag im Büro darüber reden. Einen Porno-Check hörte ich indessen noch nie, weder öffentlich-rechtlich noch privat, denn Porno ist bäh. „Porno hat mit echtem Sex nichts zu tun“ – „Porno zeigt nicht die Wirklichkeit“ – Ich mag es nicht mehr hören und lesen! Porno bedeutet gerade nicht, dass Frauen mit hochhackigen Schuhen spitze Schreie ausstoßen, während sie von dickbäuchigen Männern mit schmierigen Haaren von hinten an der Küchenanrichte penetriert werden, und auch nicht, dass alte Männer mit haarigem Rücken schlanken körperrasierten Jünglingen ihren Dings in Körperöffnungen treiben. Es gibt auch gute Pornos, die der Wirklichkeit sehr nahe kommen, und es gibt echten Sex, der gefilmt einen ziemlich guten Porno ergäbe, glauben Sie mir, ich kann das beurteilen, ohne prahlerisch wirken zu wollen. Was sagt das über uns aus, wenn die Betrachtung heimtückischer Morde breite gesellschaftliche Anerkennung findet, während es die Jugend gefährdet, anzusehen, wie zwei oder mehr Menschen den natürlichsten Spaß der Welt miteinander haben?

Woche 38: Über manches will man gar nicht so genau nachdenken

Montag: „Viel wertloses Gebrumme, Gewedel und Gemache ist in der Welt“, schreibt Max Goldt. So wie dieses:

„Wir sind überzeugt, dass diese verschlankte Struktur des Vertriebs in Deutschland die richtige Basis darstellt, um effizienter zusammenzuarbeiten und Synergien für den Kernmarkt Deutschland in Zusammenarbeit mit anderen Funktionsbereichen zu heben.“ — „Wir sind überzeugt, dass die geplante Neuausrichtung der IT die richtige Basis darstellt, um sowohl der geänderten Grundanforderung an die IT-Funktionen gerecht zu werden, als auch dazu beiträgt, dass Markteintritte verkürzt werden und zukunftsweisende Technologien proaktiv bereitgestellt werden können.“ 

Ich bin überzeugt, derartiges rhetorisches Schaumgebäck ist genauso wenig geeignet, jemanden zu beeindrucken wie die lauten Coupés der Autoposeräffchen.

Dienstag: Auf dem Heimweg vom Werk begegnete mir ein Gedanke wider die political correctness beziehungsweise „pseudokorrekte Inquisition“, wie es die Schriftstellerin Eva Menasse nennt, als vor mir eine junge Dame mit äußerst ausladendem Gesäß die Treppe hinauf ging, anstatt die Rolltreppe daneben zu nutzen. Da dachte ich: Recht so, das tut dir gut.

Im Rewe gibt es etwa fingerhutgroße Nutellagläser mit fünfundzwanzig Gramm Inhalt zu neunundneunzig Cent das Stück. Ich frage mich: Wer braucht so etwas? Zweifellos klar ist mir hingegen der Verwendungszweck ebenfalls dort erhältlicher sogenannter Baumstämme, eigentlich als adventliches Naschwerk gedachter Nougatriegel mit Marzipankern, welcher drei Stück zu erstehen ich nicht umhin kam.

Wie die Wissenschaft festgestellt hat, führt die umstrittene Methode „Schreiben lernen nach Gehör“ tsu schlächtaren Ergehbnisen als die klassische Methode Buchstabe für Buchstabe. Ich möchte nicht behaupten, es immer gewusst zu haben, aber diese Erkenntnis überrascht mich ungefähr so sehr wie der Ausgang eines Pornos.

Mittwoch: Am Morgen schrecke ich von der Radiomeldung hoch, es gebe immer weniger Schülerlotsen in NRW. Kein Wunder. Wann fordern alarmierte Umweltschützer endlich ein konsequenteres Vorgehen gegen SUV-Mutti-Taxis?

„Ich bin da eher so die cremige“, höre ich während meines mittäglichen Verdauungsspaziergangs eine mir entgegenkommende Frau zu ihrer Begleiterin sagen. Über manches will man gar nicht so genau nachdenken.

Donnerstag: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Mitführen von Fahrrädern in Stadtbahnen während der Berufsverkehrszeiten generell verboten gehört, zudem ganztägig bei Temperaturen über fünf Grad ohne Regen und Sturm.

Freitag: Am Vormittag machte ich beim Lesen eines Dokuments Bekanntschaft mit dem schönen Wort „Sprachkonserve“. Welch wunderbare Vorstellung gebiert diese Entdeckung: Zu Zeiten, da mir die gesprochenen Worte mühelos entströmen, etwa nach fünf Bier oder der zweiten Flasche Wein, sammle ich diese in Dosen. Dann, während maulfauler Zeiten, namentlich am frühen Morgen oder während unvermeidlicher Telefonate, öffne ich eine Dose und alles läuft von selbst.

Von Dose zu Hose: Die Zeitung listet die Unwägbarkeiten auf, welche den Briten im Falle eines ungeordneten Brexit bevorstehen. Neben einem Sperma-Engpass, weil Verzögerung bei der Einfuhr dänischer Samenspenden zu erwarten sind, droht auch die Notwendigkeit, auf Zigarettenschachteln neue Warnbilder anzubringen, „weil die Rechte für die derzeit verwendeten abschreckenden Fotos bei der EU liegen“, so die Zeitung. Der Hinweis „Rauchen schädigt die Fruchtbarkeit Ihrer Samenzellen“ gewinnt so deutlich an Schrecken.

Samstag: „Jetzt sind wir mit dem Innenausbau gut unterwegs„, sagt der den Umbau einer Bonner Gaststätte begleitende Architekt gegenüber der Zeitung. Wie reist man mit einem Innenausbau, und wohin?

„Der ist noch ganz hart, ich habe ihn gerade erst reingesteckt“, höre ich ich am Abend einen jungen Mann sagen. Nicht was Sie nun wieder denken – es ging um ein Kaugummi.

Sonntag: Passend zum kalendarischen Herbstanfang regnet es ohne Unterlass, was mich nicht davon abhielt, meinen sonntäglichen Spaziergang zu machen. Während ich diese Zeilen – nach erforderlichem Wechsel von Hose und Socken – zu Ende führe, prasseln über mir die Tropfen auf das Glasdach des Erkers, und der untere Teil unserer Straße versinkt langsam in einem See. Regen – nach dem dauerhaften Sommergewese hat man ja fast vergessen, wie schön das ist.

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Gerne darf er sich noch einige Stunden halten. Es ist eine besondere Unterart von Glück, wenn die Tropfen zur Nacht beim Einschlafen gegen das Fenster trommeln. Da ich hierfür das in letzter Zeit häufig zu lesende dänische Wort „Hugge“ nicht weiter strapazieren möchte, schlage ich für diesen speziellen Wohlfühlmoment die Bezeichnung „Schlummerprassel“ vor.

 

Natürlich normal

Ich werde erpresst. Wirklich, oder „ohne Scheiß“, wie meine Kollegin gerne zu sagen pflegt, wo andere „Spaß beiseite“ sagen. Montagmorgen fand ich nämliche Mail in meinem Eingang:

„Gutеn Tаg,

Mаsturbiеrеn ist nаtürlich nоrmаl, аbеr wеnn dеinе Fаmiliе und Frеundе dаvоn zеugеn, ist еs nаtürlich еinе grоßе Schаndе.

Ich hаbе dich еinе Wеilе bеоbаchtеt, wеil ich dich in еinеr Wеrbung аuf еinеr Pоrnо Wеbsitе durch еinеn Virus gеhаckt hаbе.

Wеnn Siе dаs nicht wissеn, wеrdе ich еs еrklärеn. еin Trоjаnеr gibt Ihnеn vоllеn Zugriff und Kоntrоllе übеr еinеn Cоmрutеr (оdеr еin аndеrеs Gеrät). Dаs bеdеutеt, dаss ich аllеs аuf Ihrеm Bildschirm sеhеn und Ihrе Kаmеrа und Ihr Mikrоfоn еinschаltеn kаnn, оhnе dаss Siе еs bеmеrkеn. Sо hаbе ich аuch Zugаng zu аll dеinеn Kоntаktеn.

Ich hаbе еin Vidео gеmаcht, dаs zеigt, wiе du аuf dеr linkеn Bildschirmhälftе mаsturbiеrst und аuf dеr rеchtеn Hälftе siеhst du dаs Vidео, dаs du gеrаdе аngеsеhеn hаst. Auf Knорfdruck kаnn ich diеsеs Vidео аn аllе Kоntаktе Ihrеr E-Mаil und Sоciаl Mеdiа wеitеrlеitеn.

Wеnn Siе diеs vеrhindеrn möchtеn, übеrwеisеn Siе еinеn Bеtrаg vоn 500 EUR аuf mеinе Bitcоin-Adrеssе.

Schritt 1: Gеhеn Siе zu <…> und еrstеllеn Siе еin Kоntо.

Schritt 2: Bеstätigеn Siе Ihr Kоntо mit Ihrеm Rеisераss оdеr Pеrsоnаlаuswеis.

Schritt 3: Zаhlеn Siе dаs Gеld аuf Ihr Cоinbаsе Bitcоin Kоntо übеr Ihrе Krеditkаrtе оdеr Ihr Bаnkkоntо еin.

Schritt 4: Schickеn Siе diе Münzеn аn diе untеn аngеgеbеnе Bitcоin-Adrеssе:

<…>
Sоbаld diе Zаhlung еingеgаngеn ist, löschе ich dаs Vidео und du wirst niе wiеdеr vоn mir hörеn. Ich gеbе Ihnеn 3 Tаgе, um diе Zаhlung zu mаchеn. Dаnаch wissеn Siе, wаs раssiеrt. Ich kаnn еs sеhеn, wеnn Siе diеsе E-Mаil gеlеsеn hаbеn, dаmit diе Uhr jеtzt tickt.
Es ist Zеitvеrschwеndung, mich аn diе Pоlizеi zu mеldеn, dа diеsе E-Mаil wеdеr in irgеndеinеr Fоrm nоch in mеinеr Bitcоin-Adrеssе nаchvеrfоlgt wеrdеn kаnn. Ich mаchе kеinе Fеhlеr. Wеnn ich fеststеllе, dаss Siе еinеn Bеricht еingеrеicht оdеr diеsе Nаchricht аn jеmаnd аndеrеn wеitеrgеgеbеn hаbеn, wird dаs Vidео sоfоrt vеrtеilt.

Grüßе!“

Ich nehme das sehr ernst, zumal ich – und nun sehen Sie mich leicht errötet – die Existenz dieses Filmes nicht völlig ausschließen kann. Wie der Erpresser ja selbst schreibt: Es ist ,natürlich normal‘, fast jeder tut es, auch wenn es nur wenige zugeben. Ich hingegen (Achtung, Wortspiel:) stehe dazu, warum auch nicht. Auch verschmähe ich nicht einen gut gemachten Porno, wüsste nicht, was daran verwerflicher sei als beispielsweise an einem Tatort.

Aber nun fünfhundert Euro zahlen? Für was? Wer weiß, wobei der mich sonst noch alles gefilmt hat: beim Spielen mit der Modelleisenbahn vielleicht, beim Popeln, Kacken, oder bei Missachtung einer roten Fußgängerampel, alles Verrichtungen, welche man ungern gefilmt weiß. „Das machen doch alle!“, höre ich Sie nun gähnen, also das mit der Ampel, meinen Sie. Gewiss, aber das kann im Falle des Erwischtwerdens ganz schön teuer sein, während man sich jederzeit straffrei für lau den Jürgen würgen darf, wenn man es nicht gerade auf der Freibadwiese oder in der Straßenbahn tut. Nein, keinen Cent werde ich anweisen, ist ja auch viel zu kompliziert mit diesem Bitcoingedöns; bis ich das geschafft habe, ist die Frist eh verstrichen.

Meine Kontakte haben sicherlich besseres zu tun, als mir im Zustand freudiger Erregung zuzuschauen, dennoch kann ich es ihnen nun möglicherweise nicht ersparen, sei es drum. Falls Sie zum ausgewählten Kreis der Empfänger gehören, wäre ich Ihnen dennoch dankbar, wenn Sie der rechten Bildschirmhälfte etwas mehr Aufmerksamkeit widmen und von Erstaunens- oder Beifallsbekundungen Abstand nehmen.

Grüße

Woche 15: Manches möchte man gar nicht so genau wissen

Montag: Für den Kaffee aus dem Automaten der Etagen-Kaffeeküche gilt dasselbe wie für den Schnaps, den die Oma einst nach üppigem Mahl trank: Ich mag ihn nicht, aber ich muss ihn haben.

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Dienstag: Während das Unternehmen nicht müde wird, die Wichtigkeit der Digitalisierung zu betonen, lässt es ins Fach eines jeden Mitarbeiters ein buntes Faltblatt legen mit dem Titel „So einfach ist Umweltschutz“. Etwa neunundneunzig Prozent dieser Zettel landen anschließend ungelesen im Papierkorb.

Mittwoch: Wie einfach Umweltschutz wirklich ist, zeigten zahlreiche Berufstätige in Düsseldorf, nachdem auf Veranlassung der Gewerkschaft Verdi Busse und Bahnen für eine bessere Entlohnung ihrer Lenker im Depot geblieben waren. „Die Leute werden kreativ: sie gehen zu Fuß“, so der Mann im Radio.

Donnerstag: „Das ist die Story dahinter.“ – „Ich bin da nicht im lead, kann aber gerne meinen input geben.“ – „Quick and dirty ist nicht so meins.“ Manches möchte man gar nicht so genau wissen. Manchmal, wenn alle um mich herum Seltsames reden, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als alleine zu sein und mir in aller Ruhe einen Porno anzuschauen.

Freitag: Irgendwann sollte ich mir mal abgewöhnen, lauten Autos und Motorrädern „Fahr zur Hölle!“ hinterherzurufen. Vielleicht bin ich diesbezüglich mit der Zeit empfindlicher geworden, aber mir scheint, dass deren Anzahl immer weiter ansteigt, vor allem die penisverlängernden sogenannten Sportwagen (was auch immer daran sportlich sein soll) mit komplexbeladenen Testosteronäffchen der Generation Knöchelfrei hinter dem Steuer, deren Hang zu riskanter Fahrweise mich immer wieder mit hilfloser Wut erfüllt. Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich die ihnen ohne Gegenleistung per Gesetz abnehmen und sie zwingen, bei der Verschrottung zuzuschauen; zudem würde ich die Herstellung und den Import solcher Karren verbieten, auch wenn Porsche dann zumachen muss. Zudem wäre es ein sinnvoller Beitrag zur Verminderung von Stickoxiden und Lärm. Aber mich fragt ja mal wieder keiner.

Samstag: „Selbst wenn man sich relativ gut kennt, ist das Bad oft ein Bereich, in dem man Abgeschiedenheit schätzt“, lässt sich ein gewisser Uwe Linke im Zeitungsinterview zitieren. Dem ist unbedingt beizupflichten. Hinzuzufügen wäre noch, und meinen beiden Lieblingsmenschen aufzutragen, es hundertmal an die Tafel zu schreiben: Bei Verrichtung größerer Geschäfte ist die Badezimmertür zu schließen, dazu ist sie nämlich da.

Sonntag: „Das war entzückend anzusehen, wenn auch nicht nicht sonderlich entzückend anzuhören, denn die Töne wichen aus, wenn Madrina auf sie zielte.“ (aus: „Monsieur Jean und sein Gespür für das Glück“ von Thomas Montasser, ein wunderbares Buch.) – Da fällt mir auf, dass ich die Singstar-Krähe von gegenüber lange nicht gehört habe. Normalerweise übt sie an sonnigen Tagen wie diesem bei geöffnetem Fenster stundenlang immer wieder dasselbe Lied. Vielleicht ist sie verzogen und quält nun andere. Oder jemand hat sie nachhaltig zum Verstummen gebracht.

Noch ein Jahresrückblick 2016

Das menschliche Zusammenleben ist begleitet von merkwürdigen Ereignissen, Zufällen und Gelegenheiten. Wer nun glaubt, die Welle der Jahresrückblicke sei überwunden, der sei um etwas Geduld gebeten, einer kommt noch. Die nachfolgenden Meldungen standen 2016 neben Prominentensterben, Präsidentenwahl, Putin, Pokémon und postfaktisch ebenfalls in der Zeitung.

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Januar
Die Stadt Bonn verteilt Strafzettel an Besucher der Neujahrsmesse, die ihren Wagen verbotenerweise neben dem Münster geparkt haben, „ohne Rücksicht auf die Menschen und ihre Gefühle und berechnend“, so ein betroffener Wildparker. Doch lässt die Stadt Barmherzigkeit vor Recht ergehen und verzichtet ausnahmsweise darauf, das Bußgeld in Rechnung zu stellen. Dies wiederum erzürnt andere Bürger, die zu recht fragen, ob Gottesdienstbesucher ein Sonderparkrecht genießen.

Februar
Nach einem Gerichtsbeschluss darf die russisch-orthodoxe Kirche in Nischni Nowgorod von den umgerechnet 5.000 Euro, die sie einer Firma für den Einbau eines neuen Heizkessels schuldet, 3.000 Euro einbehalten. Dafür müsse sie Gott um das Wohlergehen der Firmeninhaber und ihrer Familien bitten. Der Richter dürfte bei den Fürbitten auch nicht ganz leer ausgehen.

März
Die Sanierung der Beethovenhalle wird drei Millionen Euro teurer als geplant. Warum ist das der Zeitung eine Meldung wert? Die Sanierung bleibt im Kostenrahmen – DAS wäre eine Sensation.

In Florida schießt ein Vierjähriger auf seine Mutter, eine bekennende Waffenbefürworterin, die zuvor die Schießkünste ihres Sohnes auf Facebook gelobt hatte. Ob der Vorfall ihre Meinung zu Waffenbesitz beeinflusst hat, ist nicht bekannt.

April
Bleiben wir in Amerika. Mit Gun TV nimmt ein Verkaufssender für Waffen den Sendebetrieb auf. Wenige Tage später erschießt ein Zweijähriger in Milwaukee seine Mutter im Auto. Die geladene Waffe lag im Auto herum.

Der US-Bundesstaat Utah erklärt unterdessen Pornografie zu einer öffentlichen Gesundheitskrise.

Mai
Immer noch Amerika: Eine Dame verklagt Starbucks auf fünf Millionen Dollar Schadensersatz wegen angeblich zu viel Eis im Eiskaffee.

Juni
In Berlin klagt ein Anspruchsbürger gegen das Bezirksamt, weil die Grundschule seiner Tochter kein veganes Mittagessen anbietet. Die Klage wird vom Verwaltungsgericht abgewiesen.

Das nordrhein-westfälische Finanzministerium verteidigt Messebesuche von Mitarbeitern des landeseigenen Spielbankanbieters Westspiel als „zwingende Voraussetzung für einen marktgerechten Auftritt“. Unter anderem reiste eine sechsköpfige Delegation nach Las Vegas, wofür Kosten in Höhe von 17.000 Euro anfielen.

Juli
Eine Welle der Empörung rauscht durch Bonn, nachdem der Eigentümer des Beueler Brückenforums die Absicht kundgetan hat, das Gebäude grau zu streichen. Sogar die Politik beschäftigt sich mit dem Thema.

In Bendorf entgehen zwei Polizisten nur knapp ihrer Enthüllung. Als sie nach einer Beschwerde wegen Ruhestörung bei einer Damen-Geburtstagsfeier eintreffen, werden sie von den begeisterten Damen für Stripper gehalten. Ob Waffen zum Einsatz kommen, wird nicht berichtet.

August
Die Welt hält den Atem an: Nach despektierlichen Kommentaren von Fans über seine neue Freundin löscht der Promi-Kasper Justin Bieber sein Instagram-Konto.

Nachdem die Bundesregierung im Zuge des neuen Konzepts für die zivile Verteidigung die Bevorratung von Lebensmitteln empfohlen hat, kriegt sich die Twittergemeinde tagelang nicht ein in der Äußerung von Witzen über Hamsterkäufe.

September
Das Portal bestatter-preisvergleich.de kürt die schönste deutsche Bestatterin zur „Miss Abschied 2016“, was viele Vertreter der Branche zu Reaktionen veranlasst, die eine gewisse Humorlosigkeit erkennen lassen.

Oktober
Das Landratsamt Hof verbietet einer Dame, die sich Natalie Hot nennt, in ihrem Wohnhaus ihr Gewerbe auszuüben. Frau Hot bot einem zahlenden Publikum vor der Kamera ihren Körper zur Schau, was einige Nachbarn erzürnte. Laut Landratsamt sehe der Bebauungsplan eine gewerbliche Nutzung nicht vor. Eine freiberufliche Tätigkeit könne nicht anerkannt werden, weil „nicht er­kenn­bar ist, dass bei ei­nem Er­otik­chat im We­ge frei­er schöp­fe­ri­scher Ge­stal­tung Ein­drü­cke, Er­leb­nis­se und Er­fah­run­gen der Bau­her­rin durch das Me­di­um ei­ner be­stimm­ten For­men­spra­che zur un­mit­tel­ba­ren An­schau­ung ge­bracht wür­den“.

November
Nach der Übernahme durch Flixbus verschwinden die gelben Postbusse aus dem Straßenbild. Zum zweiten Mal in der deutschen Postgeschichte.

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Dezember
Skandal in England: Die neue Fünf-Pfund-Note enthält tierische Fette, was bei Vegetariern, Veganern und mehreren Religionsgemeinschaften heftige Proteste hervorruft. Die jüdischen Vertreter sehen es indes gelassen: Der neue Geldschein stelle kein Problem dar, so lange man ihn nicht isst.

Underdessen ist das Interesse an Schlüpfern aus dem Besitz von Queen Victoria gering. Trotz „gutem Zustand mit nur kleinen Verfärbungen“ zahlt kein Bieter das geforderte Mindestgebot von 4.000 bis 6.000 Pfund, so das Auktionshaus.

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Ein vorausschauender und sehr lesenswerter Jahresrückblick auf das Jahr 2066 ist in der Dezember-Sonderausgabe des SPIEGEL zu finden:

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Gedanken zur Wiedergeburt

Gestern war Totensonntag, der Tag an dem der Weihnachtsmarkt geschlossen bleibt, auf dass Glühwein und Eierpunsch die Menschen nicht davon ablenken, der Endlichkeit allen menschlichen Strebens zu gedenken. Als nur noch rudimentär religiöser Mensch hege ich gewisse Zweifel an der Verheißung des ewigen Lebens, was bei meinem Lebenswandel vermutlich ohnehin nur einen längeren Aufenthalt in einem großen Kessel voller siedendem Öl bedeutete. Insofern erscheint es mir nicht völlig unwahrscheinlich, dass nach dem letzten Atemzug für immer die Lichter erlöschen; den Rest erledigen Würmer und Mikroben oder das Krematorium – Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Sollte es mir jedoch vergönnt sein, nach meinem hoffentlich noch fernen Ableben erneut das Licht der Welt zu erblicken, so wüsste ich schon, als was ich es mir wünschte, wobei ich nicht weiß, ob man sich das aussuchen kann. Vielleicht kann man sich ja auf einem himmlischen Amt in eine Liste der freien Stellen auf Erden eintragen, vielleicht wird man auch einfach zugeteilt. So etwas erzählen sie einem ja nicht im Religions- oder Konfirmandenunterricht. Nein, nicht als Millionär, Pop- oder Pornostar, oder als majestetisch über Berg und Tal dahingleitender Adler. Mir genügte ein Dasein als Schwarzer Kellerpilz. Dieser lebt als dunkler Schimmelbelag in den Gewölben alter Weinkeller, wo er von den Winzern sehr geschätzt und keineswegs bekämpft wird, da er einen positiven Einfluss auf das Raumklima und dadurch das Entstehen edler Tropfen nimmt. Ich bräuchte nicht ins Büro zu fahren, mich nicht um sexuelle oder sonstige Abenteuer bemühen, stattdessen klebte ich still an meiner Kellerdecke und ernährte mich von den alkoholischen Ausdünstungen der Fässer. Gut, vom oben erwähnten Licht der Welt sähe ich nicht viel, doch das erscheint mir akzeptabel.

Ab und zu lauschte ich den Worten des Winzers, wenn er Besuchern etwas von Bouquet, Abgang und Aromen von dunklen Früchten und modrigem Leder erzählt, während sie ihm mit zustimmendem Nicken andächtig lauschen. Oder er sagt Sätze wie diesen:
„Für diesen Tropfen wünscht man sich einen Hals wie eine Giraffe, mit einer Wendeltreppe darinnen mit ausgetretenen Stufen, so dass sich Pfützen darin bilden.“

Ja, so ein Leben könnte mir gefallen. Und bis es so weit ist, genieße ich den Wein ganz profan aus einem Glas, beziehungsweise den Glühwein aus einem kitschigen Becher.

Für immer dreiunddreißig – über Jogginghosen, Sportsocken und Fußballerfrisuren

Vor ein paar Tagen hatten die Medien wieder Gelegenheit, das bei ihnen so beliebte Synonym ‚Modezar‘ weiter abzunutzen: Karl Lagerfeld feierte Geburtstag, möglicherweise seinen achtzigsten. Genau weiß man es nicht, auch weiß man nicht, ob er selbst es weiß; ist ja auch nicht so wichtig, das Alter ist nur eine Zahl, die manchmal erheblich vom Spiegelbild und dem persönlichen Eigenempfinden abweicht. Ich habe Verständnis für seine Zurückhaltung ob der Bekanntgabe seines Alters, fühle ich mich doch selbst seit Jahren wie dreiunddreißig, aber das ist ein anderes Thema, zu dem ich mich in frühestens zwei Jahren vielleicht mal äußern werde.

Vielleicht stehe ich nicht ganz alleine in dieser Welt mit meinem Eindruck, Karl Lagerfeld sei eine – nennen wir es mal – spezielle Person. Sein Auftreten, seine Bekleidung, seine Art zu sprechen heben ihn hervor als einen Menschen, wie ihn wohl nur die wenigsten in ihrem engeren Bekannten- und Familienkreis wissen. Ob man ihn deswegen mag, mag jeder für sich selbst entscheiden. Ich mag ihn, vor allem wegen des ihm zugeschriebenen Zitats: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“

Nun kenne ich diesen Ausspruch nur alleinstehend, aus dem Zusammenhang gerissen. Auch würde ich mich nicht als einen ausgewiesenen Kenner in Modefragen bezeichnen. Wie dem auch sei – er spricht mir aus der Seele. Sofort denke ich dabei an junge Männer (ja, es sind fast ausschließlich Jungs, sehr selten Mädchen), die dieses abscheuliche Teil aus hellgrauem Baumwollstoff tragen, oben vorne zwei Bommel zum Zuschnüren, unten umschmiegen Gummibunden die bloßen oder in weiße Sportsocken gehüllten Fußfesseln, wobei ich entgegen der herrschenden Modemeinungen weißen Sportsocken grundsätzlich und je nach Trageanlass (Sport, Porno) eine Daseinsberechtigung, gar eine gewisse Ästhetik zugestehe. Junge Männer also, mit tätowierten Unterarmen und dieser allgegenwärtigen Fußballerfrisur, an den Seiten kurz, oben länger und streng zur Seite gegelt, die Sätze wie „Alda, wo bist du“ und „Isch bin U-Bahn“ in ihr Mobilgerät nuscheln.

Unter Umständen, mit sehr viel Wohlwollen, kommt auch der Jogginghose eine gewisse Daseinsberechtigung zu, etwa an Winterabenden zu Hause auf dem Sofa vor dem Fernseher, wenn einen niemand sieht. Doch wie sehr muss ein Mensch sich selbst aufgegeben, jedes Gefühl für Selbstwahrnehmung verloren haben, wie verzweifelt über an Selbsthass grenzende Gleichgültigkeit um sein Äußeres muss er sein, wenn er in einem solchen Beutel das Haus verlässt?
Lieber Karl Lagerfeld, ich erhebe mein Glas Rosé auf Sie, mögen Sie noch viele Jahre lang die Welt mit modischen Kreationen bereichern, vor allem aber mit solch klugen Sätzen!

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Hinweis: Vorstehende Zeilen wurden nachträglich eingereicht für die wunderbare Aktion „Kleider machen Leute“ vom Wortmischer. Bitte lesen Sie hier:

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Nicht-Vorsätze für 2015

Silvester. Mit i, nicht y, auch wenn der Kater am nächsten Tag fast so sicher* ist wie Norbert Blüms Rente. Zeit für gute Vorsätze – darum erstellen viele Menschen in diesen Tagen wieder eine Liste mit den Dingen, die sie im neuen Jahr besser, öfter, weniger, gar nicht mehr oder überhaupt endlich machen wollen. Läsen sie diese Liste nach zwölf Monate erneut, stellten sie fest, dass sie nichts, aber auch gar nichts von alledem in die Tat umgesetzt haben. Tun sie aber nicht, sie haben die Liste spätestens Ende Februar vergessen.

 

Ich dagegen erstelle traditionell jahresendlich eine Liste mit Dingen, die ich im neuen Jahr nicht angehen, umsetzen, erreichen oder ändern will. Das Erfolgserlebnis am Jahresende ist garantiert. 2015 werde ich nicht:

 

+ Mein gelöschtes Facebookprofil wiederbeleben. Dieses Mal hoffentlich endgültig…

+ Ein Herbert-Grönemeyer-Konzert besuchen.

+ Ein Udo-Jürgens-Konzert besuchen – leider.

+ Mir die Achseln rasieren.

+ Urlaub in der Türkei machen. Es soll dort sehr schön sein, aber dieser größenwahnsinnige Herrscher ist mir unheimlich.

+ Eine Fernreise machen. Wenn auch Reisen für viele Menschen das Größte ist – ich würde Europa nur ungern verlassen. Nach Russland will ich auch nicht. Nicht, so lange Schwule dort um ihr Leben fürchten müssen.

+ Die Menschen verstehen, z.B. warum Mord am Sonntagabend höchste Familienfernsehkultur, Porno jedoch igitt ist. Oder was so schwer daran ist, Rad- und Fußwege ihrem jeweiligen Zweck entsprechend zu benutzen. Diese Aufzählung ließe sich beliebig verlängern, vielleicht schreibe ich im neuen Jahr mal einen eigenen Aufsatz dazu.

+ Mir Eiswasser über den Kopf gießen oder was auch immer Vergleichbares 2015 Trend sein wird, sei der Zweck auch noch so gut gemeint. Dazu gehört wohl auch

+ mir einen Schnauzbart wachsen lassen.

+ Aufhören zu rauchen.

+ Ein Haustier zulegen. Silberfische, Filzläuse und Fruchtfliegen zählen nicht.

+ Ohne Not billigen Wein trinken.

+ Vor 9 Uhr morgens freiwillig und ungefragt reden.

+ Danke sagen, wenn jemand in der vollen Bahn erst auf Anfrage seine Tasche vom Platz nimmt, auf dass ich mich setzen kann.

+ Nach Paris fahren – ich würde ja gerne endlich mal, aber irgendwie klappt das leider nie.

+ Eins der zahlreichen Bücher von oder über Helmut Schmidt lesen.

+ Elektronische Bücher statt solche aus Papier lesen. 

+ “Spaß beiseite“ sagen.

+ Jahresrückblicke lesen oder anschauen.

+ Einen vielbeachteten Blogtext verfassen.

 

Die Liste ist natürlich nicht vollständig, unter anderem habe ich auch nicht vor, mir die Haare grün zu färben, ein Auge auszustechen, mich vom Posttower zu stürzen, an Schleimmonster zu glauben oder mit Gips zu gurgeln. Aber das soll erstmal reichen. In diesem Sinne: ein gutes neues Jahr Ihnen allen!

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* Früher schrieb man auch „vorprogrammiert“, bis Sebastian Sick heraus fand, dass das doppelt gemoppelter Unfug ist. Seitdem schreiben Journalisten stattdessen gerne „programmiert“, was zwar korrekt im Sickschen Sinne ist, jedoch nicht schön oder gar originell. 

Über Glück, Überraschungen und ein Klärwerk

Es heißt, Laufen lasse Glückshormone summen, jedenfalls nach einer längeren Strecke. Wahrscheinlich ist meine Laufstrecke zu kurz für derartige Empfindungen. Ja, es macht schon Spaß, aber Glücksgefühle, so wie als Kind, wenn das Christkind das ersehnte blaue Fahrrad gebracht hatte? Zittern vor Glück ob des Bewegungsrausches? Ich hatte übrigens tatsächlich als Kind ein blaues Fahrrad, so ein schwerfälliges Klapprad mit Rücktrittbremse und ohne Gangschaltung, jedoch bekam ich es zum Geburtstag statt zu Weihnachten; es brachte auch nicht der ‚Geburtstagsmann‘ (dessen Existenz man mir in frühen Jahren tatsächlich glaubhaft zu machen suchte, als Pendant zum allseits bekannten und von mir lange nicht in Frage gestellten Weihnachtsmann), sondern meine Eltern kauften es in meinem Beisein im Bielefelder Quelle-Kaufhaus, ohne jedes Überraschungsbrimborium. Ja, das gab es wirklich mal: Quelle-Kaufhäuser. Heute gibt es nicht mal mehr Quelle. Bielefeld hingegen schon, entgegen anderslautenden, einem zweifelhaften Humor entsprungenen Behauptungen. Interessanterweise hat Bielefeld sogar einen Stadtteil namens Quelle, Postleitzahl 33649. Na gut, so interessant ist das nun auch wieder nicht.

Apropos Geburtstagsüberraschung: Ich bin meinen Mitmenschen aus tiefstem Herzen dankbar, dass sie mich noch nie mit einer Überraschungsparty zu beglücken sich verpflichtet fühlten, denn das erscheint mir als eine der missglücktesten Gutgemeintheiten. Du kommst nach einem langen Arbeitstag, an dem du dich gegenüber kollegial-persönlichen, telefonischen und auf allen denkbaren elektronischen Medien überbrachten Glückwünschen dankbar zeigtest, endlich mit einer angenehmen Müdigkeit nach Hause, freust dich auf Sofa, Porno und Wein, hast die Schuhe noch nicht aus, schon klingelt es und eine Meute fällt ungefragt in deine Wohnung, bringt CDs von Lady Gaga und Helene Fischer, Olivenöl und Balsamico-Essig in aufwändig verpackten Flaschen, Chips, Dosenbier sowie jede Menge guter Laune, während deine eigene sich schlagartig verzieht, durch das Fenster oder die Lüftung deines fensterlosen Klos. Ehe sie dein Sofa und die Küche in Beschlag nehmen, vollkleckern und in Rauch hüllen, grölen sie „Happy Birthday“, wobei sie den hohen Ton im dritten „Happy Birthday“ nicht treffen, derweil dein gequältes Grinsen dein Missfallen nur unzureichend zu verbergen vermag. Lieber keine Freunde als solche.

Nein, so richtige Glücksgefühle kommen mir selten beim Laufen. Wenn mein iPod „This Corrosion“ von den Sisters Of Mercy oder „Down Among The Dead Man“ von Flash And The Pan spielt, dann beglückt mich das schon etwas, weil diese beiden Lieder und ein paar andere zufällig denselben Takt aufweisen wie mein Laufschritt, das fühlt sich dann so ein bisschen wie Tanzen an, was ja auch irgendwie glücklich machen kann, aber nicht unbedingt muss: Mit fünfzehn zwangen mich meine Eltern in eine Tanzschule, weil das zu der Zeit angeblich alle machten. Ich hasste es und brach nach dem Grundkurs angewidert ab. Gut so, denn das dort vergeblich zu erlernen angestrebte habe ich seitdem nie gebraucht beziehungsweise verstand es, angetragene Paartanzwünsche freundlich aber bestimmt abzulehnen. Nur einmal, auf meiner Hochzeit, da musste ich. Die Feier wurde trotzdem noch ganz schön.

Manchmal begleiten mich beim Laufen statt Glücksrausch merkwürdige Gedanken: Eine meiner regelmäßigen Laufstrecken führt an den Rhein, unter der Nordbrücke hindurch bis zum Hafen, dann eine Schleife um das Klärwerk und wieder am Rhein entlang zurück, deshalb bezeichne ich diese Strecke als ‚Hafenschleife‘, wenn ich den Lauf abends in meinem Tagebuch dokumentiere (in Abgrenzung zur ‚Nord-‚, ‚Süd-‚ und ‚großen Brückenrunde‘ sowie zur ‚kleinen‘, ‚mittleren‘ und ‚großen Rheinauenschleife‘ – nicht so wichtig). Dabei wäre hier ‚Klärwerkschleife‘ zutreffender, doch will man wirklich die Begriffe ‚Hafen‘ und ‚Klärwerk‘ gleich-, das eine gar durch das andere ersetzen? Man stelle sich vor, Lale Andersen hätte dergleichen getan in ihrem weltberühmten Schlager „Ein Schiff wird kommen“ („Ich bin ein Mädchen aus Piräus und liebe den Hafen, die Schiffe und das Meer…“). Auch der sprichwörtliche Hafen der Ehe verlöre erheblich an Reiz. Obwohl – so mancher soll ja nach zwanzig Ehejahren einen spürbaren Klärungsprozess durchlaufen haben.

Ich sollte vielleicht weiter und länger laufen.