Gedanken zum Gedenken

friedhof

Nicht ohne Grund gilt der November als grauer, stiller Monat: Der Himmel trübe, die Sonne zeigt sich seltener und ihre Strahlen spenden kaum noch Wärme an des Menschen Haut, weshalb er sich in Schals und dicke Jacken hüllt, nachdem er schon vor Wochen kurze Hosen und Flip Flops im Schrank verstaut hat (nun gut: während ich diese Zeilen nachfeile, ehe ich sie dem Leser zumuten möchte, strahlt die Sonne von einem blauen Himmel bei milden elf Grad – der November ist auch nicht mehr, was er mal war); die Kraniche haben sich kreischend in den Süden verzogen, ebenso die Rentner, die es sich leisten können; die meisten Bäume haben sich ihres Laubes entledigt, welches nun gelb-matschig den Gehsteig vergoldet, sofern es nicht von Laubbläsern weggelärmt wurde; Eisdielen haben geschlossen, die Scheiben von innen mit speiseeismotivlich bedrucktem Packpapier verklebt, oder das Lokal beherbergt vorübergehend eine Boutique für Damenbekleidung, was die Frage aufwirft, wo der Damenbekleidungshändler im Sommerhalbjahr seinem Geschäft nachgeht. Vielleicht packt er ja im März alles in einen Lieferwagen und macht sich damit auf nach Madagaskar, während über ihm die Rentner und Kraniche kreischend zurückkehren.

Im November gedenkt der Mensch seiner Toten, hierzu hat er den Volkstrauertag und den Totensonntag erfunden. Weiß der Himmel, warum ausgerechnet im November, gestorben wird schließlich das ganze Jahr, der Sensenmann packt ja nicht im März seine Sense ein und düst ab nach Mauritius. Aber wahrscheinlich bildet die Novembertrübe mit den allgegenwärtigen Blattleichen dem Gedenken einen passenderen Rahmen als sommerliches Freibadwetter.

Der Tod übt eine unerklärliche, diffuse Faszination auf mich aus. So gilt meine Aufmerksamkeit den Todesanzeigen in der Zeitung, insbesondere den Geburtsdaten der Verblichenen. Ist jemand meines Alters oder gar jünger dabei, überkommt mich eine Art wohliger Schauer, genauer erklären kann ich das nicht, es ist dieser gewisse Grusel, der mit dem Gefühl der näher kommenden Einschläge einhergeht, eine innere Stimme, die da flüstert: »Siehst du, Freundchen, fühl dich nicht so sicher, auch dein Name könnte hier bald schon stehen«, worauf dann ein diabolisches Lachen wie am Ende von Michael Jacksons ‚Thriller‘ folgt. Vielleicht ist es ein ähnlicher Grund, der Menschen veranlasst, Splatterfilme oder Tatort zu kucken, die AfD zu wählen oder Helene Fischer zu hören. Haaaaahahahahahar…

Oder bin ich lebensmüde? Also nicht im Sinne größter auswegloser Verzweiflung, sondern eher nach dem Grundsatz »Wer saufen kann, kann auch arbeiten«, Verzeihung: »Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören«, also eine positive Lebensmüdigkeit, falls es das gibt. Ja ich gebe zu, schon über Selbsttötung nachgedacht zu haben. Also nur theoretisch, ohne jegliche konkrete Absicht – keine Sorge, ich hege zurzeit keine Suizidabsichten, habe sie mangels Grund auch noch niemals gehegt und bin guter Hoffnung, dass es nicht dazu kommen wird. Und falls doch, wüsste ich schon, wie ich es anstellte, ganz ohne Schmerzen, Blut und Sauerei; zum einen, weil ich schmerz-, wärme- und kälteempfindlich bin, zum anderen, um denjenigen, die mich finden, den Tag nicht völlig zu versauen.

Was mögen meine letzten Worte sein? Vielleicht einfach nur »Oh oh…« oder »Ach du Scheiße«, oder »Zicke zacke Kranich- (bzw. Rentner-)Kacke« oder »Ich will ein Eis«, woraufhin mir mit tränenerstickter Stimme bedeutet wird, das sei schwerlich möglich, es sei November und die Eisdielen geschlossen. Doch nein: die am Kaiser-Karl-Ring hat noch geöffnet, kein Packpapier, keine Damenwäsche; die Zugvögel bleiben angesichts der milden Winter ja auch immer öfter hier. Man eilt also los, mir eine Portion Eis zu holen, und was sage ich, nachdem mir der Becher gereicht wurde? Vielleicht: »Das Eis hat keine Konsistenz.« Diesen Satz hörte ich vor einiger Zeit ein etwa achtjähriges Mädchen nörgeln, welches mit seinem Vater zuvor die oben besungene Eisdiele aufgesucht hatte. Was veranlasst etwa achtjährige Mädchen, solche Sätze zu sagen? Mit acht war mir das Wort ‚Konsistenz‘ unbekannt, aber heute reifen die Blagen ja immer früher heran. Vielleicht sage ich am Ende aber auch einen klugen Satz, den mir niemand zugetraut hätte und der, unter Tränen notiert, später oft zitiert wird, neben »Mehr Licht« und »Störet meine Kreise nicht«.

Wird man mir eine Todesanzeige in der Tageszeitung spendieren, wenn ja, was wird darin stehen? Bitte nicht »Plötzlich und unerwartet« oder so was. Vielleicht sollte ich mal gelegentlich einen Entwurf dazu erstellen, dazu ist es nie zu früh. Gleiches gilt für einen Grabsteinspruch, sofern meine Hinterbliebenen meine bleiche Hülle für eines Grabsteines würdig halten. »Wenn es am schönsten ist…«, siehe oben, finde ich gar nicht so schlecht. Ist mir aber egal, meinetwegen können sie nach meinem Ableben die noch brauchbaren Organe und sonstigen Körperteile entnehmen (der Organspenderausweis befindet sich in meinem Portmonee rechts) und den Rest entweder der Kadaververwertung zuführen oder, und das fände ich stilvoll, verbrennen und die Asche durch die Feuerbüchse einer Dampflok der Harzer Schmalspurbahn auf dem Weg zum Brocken jagen, oder gerne auch einer Lok der Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth auf dem Weg nach Rödelheim. Aber dem steht wohl das deutsche Bestattungsrecht entgegen; was das angeht, verstehen die ja leider wenig Spaß.

Wie mag die Trauerfeier ablaufen? Da ich mittlerweile der hierfür traditionell zuständigen Institution den Rücken gekehrt habe, wohl ohne Kreuz und Pastor. Wer also wird die Trauerrede halten, und was wird er / sie sagen? Aber wieso überhaupt Trauer, vielleicht sind die ja alle froh, wenn ich mein Schirmchen endlich zugeklappt habe, wer mag es ihnen verübeln? Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann eine Feier, die den Namen verdient: mit Musik von ABBA oder Oasis oder dieses Zeug, was die den ganzen Tag in Frankreich auf Radio Nostalgi spielen, meinetwegen auch mit Werbe- und Nachrichtengeplapper zwischendurch; außerdem keine schwarze Kleidung und kummervolle Mienen, dafür reichlich Bier und Wein, und Cola für die Kinder, und Häppchen.

Wie alt will ich werden? Keine Ahnung. Siebzig? Achtzig? Gar noch älter? Oder sind siebenundvierzig Jahre genug? Wenn es am schönsten ist… siehe oben. Irgendwann wird der Tod anklopfen, oder klingeln, oder er trifft per E-Mail oder Facebooknachricht ein, was weiß ich; zum Glück weiß heute niemand, wann. Aber dass er kommt, das ist – trotz Gentechnik und Gesundheits-Apps – sicher und trotz aller damit verbundenen Unannehmlichkeiten auch gut so. Und was danach kommt, darüber habe ich mir schon vor längerer Zeit meine Gedanken gemacht.

Meeting Minutes: Verbale Hohlraumversiegelung – 11. Fortschreibung

Grauen11

Aus mir unerklärlichen Gründen verirrten sich in der vergangenen Woche viele Menschen auf mein Blog, besonders die Liste des Grauens schien es den derart verirrten angetan zu haben, jedenfalls erreichten mich dazu zahlreiche Kommentare und Ergänzungsvorschläge. Hierfür bedanke ich mich ganz herzlich! Da zudem das Zettelchen inzwischen beidseitig vollgeschrieben ist, erscheint es mir an der Zeit, die Liste mal wieder fortzuschreiben. Die neuen Einträge finden Sie ab der Nummer 244, aber auch die älteren wurden teilweise überarbeitet – es lohnt sich also, die ganze Liste zu lesen. Quasi lohnenswert sozusagen.

***

1.) „Okay…“ mit anhebender Stimmmodulation auf der zweiten Silbe. Mein absoluter Spitzenreiter.
1a) „Okodoki“ – die kleine, nicht minder schlimme Schwester von 1.)
2.) „Gesundheit!“ Verdammt, lasst mich doch einfach in Ruhe niesen!
3.) „Geht das zusammen oder getrennt?“
4.) „nicht wirklich“
5.) „Wir müssen die Leute mit ins Boot holen“
6.) „Wir müssen die Leute abholen“
7.) „Da bin ich ganz bei dir/Ihnen“
8.) „Da bin ich fine mit“ (oder „fein“?)
9.) „Gerne!“ als Antwort auf „Danke“
10.) „Mahlzeit!“ – der Klassiker.
11.) „Da sind wir gut unterwegs“
12.) „Da sind wir gut aufgestellt“
13.) „Kein Thema!“
14.) „Herausforderung“, auch wenn es ein scheiß Problem ist.
15.) „Halloo…??“ mit Empörung vorgebracht, statt „Wie bitte?“
16.) „Ich freue mich auf…“ im Zusammenhang mit geschäftlichen Terminen/Angelegenheiten/was auch immer. Das glaubt ihr doch selbst nicht!
17.) „Das ist so was von [beliebiges Adjektiv]“
18.) „Ich sag mal…“
19.) „Na Urlauber…?“ am ersten Tag nach dem Urlaub. Als wenn es nicht so schon schlimm genug wäre, wieder arbeiten zu müssen!
20.) „Das geht g a r nicht!“ Wirklich nicht.
21.) „Wie [beliebiges Adjektiv, zumeist jedoch ‚geil‘] ist d a s denn??“
22.) „Am Ende des Tages…“
23.) „Das macht Sinn“
24.) „Super-GAU“, genau so unsinnig wie „das einzigste“
25.) „Quantensprung“. Ich nehme an, 95% derjenigen, die das Wort benutzen, kennen dessen eigentliche Bedeutung nicht.
26.) „mit Migrationshintergrund“ trieft nur so vor politischer Korrektheit.
27.) „Du, damit habe ich kein Problem.“ („Aber bleib mir weg damit!“)
28.) „wünsche … gehabt zu haben!“
29.) „Wer mich kennt, weiß, dass ich [blablabla]…“ Gerne von Vorständen und ähnlich „wichtigen“ Personen genutzt
30.) „Da müssen wir jetzt Gas geben“
31.) „Das habe ich auf dem Schirm“
32.) „spannend“ im Zusammenhang mit irgendwelchen halbwichtigen geschäftlichen Angelegenheiten
33.) „Ich bin im Moment lost“
34.) „An der Stelle…“ als Füllfloskel
35.) „Und äh…“ als Satzeinleitung, vor allem, wenn danach sekundenlang nichts mehr kommt
36.) „Dafür nicht“ als Antwort auf Danke
37.) „sexy“ in geschäftlichen und somit völlig unerotischen Zusammenhängen
38.) „Wir müssen die Kuh vom Eis holen“ (Auch schon gehört: „die Crux vom Eis“)
39.) „Ins offene Messer laufen“
40.) „Im Tal der Tränen“
41.) „Da müssen wir Geld in die Hand nehmen“
42.) „Das Projekt auf die Straße bringen“
42a) „Die PS auf die Straße bringen“
43.) „Auf Augenhöhe diskutieren“
44.) „Erdrutschartiger Sieg“ – Journalistenquatsch, ebenso wie
45.) „Ein Schluck aus der Pulle“ und
46.) „Geld in die Kassen spülen“.
47.) „Lohnenswert“ – dieselbe Wortfamilie wie „das einzigste“
48.) „Yummie“ – heißt wohl so viel wie lecker, was bei genauer Betrachtung nicht viel besser ist.
49.) „Zeitfenster“ – bitte geschlossen halten, es zieht.
50.) „Otto Normalverbraucher“, der Schwager von Max Mustermann.
51.) „Spaß beiseite“ – wer das sagt, hat wohl auch sonst nicht viel Freude.
52.) „Da bin ich leidenschaftslos“ und
53.) „Da bin ich schmerzfrei“ – mir tut es verdammt weh.
54.) „wtf“ = „What the fuck“. Gerne auf Twitter genutzt, ebenso wie
55.) „#fail“ – ja, mangelhaft!
56.) „Nennen Sie mal eine Hausnummer.“ Bitte: 19b, Hinterhaus.
57.) „Das ist mit mir nicht zu machen.“ Politikersülze.
58.) „Wir müssen jetzt unsere Hausaufgaben machen.“
59.) „Ich mache mal den Vorsitz“ – beliebter Scherz, wenn nur noch ein Platz an der Stirnseite frei ist
60.) „… bis der Arzt kommt“
61.) „Da krieg‘ isch so’n Hals!“
62.) „Das haben wir ihnen ins Stammbuch geschrieben.“
63.) „Das stimmen wir bilateral ab.“
64.) „eine undurchsichtige Gemengelage“
65.) „[beliebiges Substantiv] wird bei uns groß geschrieben.“ Nicht nur bei euch.
66.) „Roundabout“ klingt ungefähr scheiße.
67.) „Er/sie erfindet sich immer wieder neu.“ Beliebte Feuilletonfloskel.
68.) „Das meint“ – meint „das bedeutet“ zu bedeuten, tut es aber nicht.
69.) „Ich speichere mal aus“ – klingt nach mentalem Stuhlgang.
70.) „Wer hat da den Hut auf?“
71.) „Ich sehe das mehr durch die […]-Brille.“
72.) „Das ist kein Showstopper.“
73.) „Da werden Pflöcke gesetzt.“
74.) „Das werfen wir denen (= andere Abteilung etc.) über den Zaun.“
75.) „Wir könne hier nicht auf der grünen Wiese planen.“
76.) „Das ist Brot und Butter“ – mir vergeht dabei der Appetit.
77.) „Wer sind hier die Player?“ – geht spielen.
78.) „Das haben wir im Scope.“
79.) „Lach doch mal!“ – eher zum Heulen.
80.) „Topic overflow“ – was mag es bedeuten? Für Hinweise wäre ich dankbar.
81.) „Wir müssen die Anforderung aufbohren.“
82.) „Wir müssen hier ja nicht das Rad neu erfinden.“
83.) „Ich schicke Ihnen mal einen Draft.“
84.) „Das muss absolut wasserdicht sein“. – Hauptsache, ihr seid ganz dicht.
85.) „Da können wir Honig saugen.“
86.) „nullachtfuffzehn“
87.) „Wenn wir dieses Fass jetzt aufmachen…“ – dann Prost Mahlzeit.
88.) „Das ist kein Hexenwerk“ – was für den Phrasenscheiterhaufen.
89.) „Umgekehrt wird ein Schuh draus.“ – Sonst ist es ein Huhcs??
90.) „Haben wir dafür schon das Go?“ – Geht mir weg!
91.) „Da bekommen wir ein Thema.“
92.) „Ich forwarde Ihnen das mal eben.“
93.) „Da sehe ich uns im Lead.“
94.) „Der Prozess wird noch nicht gelebt.“
95.) „Da muss ich mich erst mal aufschlauen.“
96.) „Das ist so 1990 [oder sonstiges beliebiges Jahr]“
97.) „Wir sind not amused“ – in der Tat wenig amüsant
98.) „Wie ist das gesettet?“
99.) „Leg dich wieder hin“ am Ende eines Telefonats – ein Klassiker
100.) „Wir brauchen da eine gute Storyline.“
101.) „Ein absolutes No Go!“ – geht wirklich nicht.
102.) „Ein absolutes Must Have!“ – also ich muss das nicht haben.
103.) „Das ist doch eher ein Nice To Have.“ – s. Nr. 102
104.) „Wir sollten dazu eine kurze TelKo machen.“
105.) „Wir sind hier doch nicht bei Wünsch dir was!“
106.) „Kannst du mich dazu kurz briefen / debriefen?“
107.) „Sind Sie morgen früh im Office?“
108.) „O-Saft“, „A-Saft“ – was für A-Löcher.
109.) „Das ist kein Dealbreaker“. Klingt trotzdem zum Kotzen.
110.) „Darauf haben wir uns committed.“
111.) „Sie können mich jederzeit anrufen.“ Ebenso verlogen wie
112.) „Für Fragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“
113.) „Wir sollten das nicht mit der Gießkanne verteilen.“
114.) „Das ist alles in trockenen Tüchern.“ Auch gehört: „in grünen Tüchern“
115.) „Wir können da noch Synergien heben.“
116.) „Wir sollten das zeitnah erledigen.“
117.) „Wir sollten uns nächste Woche noch mal zusammentelefonieren.“
118.) „Wir phonen morgen.“ Oder „fonen“? Der Duden kennt beides (noch) nicht.
119.) „Mailen Sie mir einfach einen Zweizeiler.“
120.) „Ich schick Ihnen das mal kommentarlos zu.“
121.) „Da müssen wir wohl eine Sonderlocke drehen.“
122.) „Wir müssen das proaktiv kommunizieren.“
123.) „Nachhaltige Maßnahmen“
124.) „Wir müssen das frühzeitig eskalieren“
125.) „Tschö mit Ö“ – wie blöd!
126.) „Ganzheitliche Betrachtung“
127.) „Sounding Board“ – Ja, hat irgendwas mit viel überflüssigem Geräusch zu tun.
128.) „Das ist nicht in Stein gemeißelt“
129.) „Haben wir das auf der Agenda?“
130.) „an“ anstelle von „mit“, häufig in scheinbar gehobener Gastronomie. Beispiel: „Currywurst an Pommes“
131.) „Erstellen Sie einen Forecast.“
132.) „Den Ball zuspielen“
133.) „Ich mache da noch ’ne QS drüber“
134.) „Handlungsfelder erkennen“
135.) „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ – achtsilbiges Wortschaumgebäck für „jetzt“ (1 Silbe)
136.) „zu keiner Zeit“ – viersilbiges Wortschaumgebäck für „nie“
137.) „Der Plan ist auf Kante genäht“
138.) „exorbitant“
139.) „Was sind unsere lessons learned?“
140.) „Pros & Cons“
141.) „Da ist noch Spielraum / Luft nach oben“ – höfliche Umschr
eibung von „ziemlich scheiße gelaufen“
142.) „einen Workaround definieren“
143.) „erst mal die Füße stillhalten“
144.) „Das System läuft performant.“
145.) „Das wären ein neues Feature“
146.) „Trouble shooting“
147.) „Die Timeline ist sportlich.“
148.) „Das müssen wir noch mal festklopfen.“
149.) „Das ist keine Rocket Science.“
150.) „Sonst fällt uns das auf die Füße.“
151.) „Das ist ein ganz normaler Vorgang.“ – Umschreibung für: „Wir wissen, dass wir Mist gebaut haben, können das aber nicht zugeben.“
152.) „Das ist eine Blaupause.“ Nur im Suff zu ertragen.
153.) „Nicht, dass daraus ein Flächenbrand entsteht.“
154.) „Da haben wir ein Gap.“
155.) „An welcher Stelle ist das Bottleneck?“
156.) „Das habe ich schon eingetütet.“
157.) „Das machen wir on the fly“.
158.) „Das habe ich schon angetriggert.“
159.) „Kann man das später umswitchen?“
160.) „Wir werden das ergebnisoffen diskutieren.“ – uns von unserer Meinung jedoch nicht abbringen lassen.
161.) „Lösungsorientierter Ansatz“ – ja was denn sonst?
162.) „Walkthrough“
163.) „Ich habe heute einen harten Anschlag.“ – eher einen Knall.
164.) „Wir wollen kein Fingerpointing betreiben.“ Doch, genau darum geht es, um nichts anderes!
165.) „Was macht das mit dir?“ – Es kotzt mich an.
166.) „Wir müssen das von allen Seiten beleuchten.“
167.) „Da müssen wir noch mal gegentreten.“
168.) „Guter Hinweis!“ – Kurzform für „Sie sind wohl ein ganz Schlauer, was?“
169.) „Wir fahren hier auf Sicht.“ – heißt: Wir haben keine Ahnung, was wir hier tun.
170.) „Das lief völlig geräuschlos.“
171.) „Können wir das umshiften?“
172.) „Das haben wir uns auf die Fahne geschrieben.“
173.) „Ich habe das in den Stiel gestoßen.“ – klingt unzüchtig bis schmerzhaft.
174.) „Wann ist das Kick-Off?“
175.) „Das machen wir hands on.“
176.) „Was sind die quick wins?“
177.) „Das ist so Mainstream“
178.) „Das ist so old school“
179.) „Was sind dabei die Painpoints?“ – das tut weh.
180.) „Das Projekt ist ongoing.“
181.) „Wie sind wir da gestafft?“
182.) „Operation am offenen Herzen“
183.) „Wir müssen die Kuh zum Fliegen bringen“ – eher eine Fehlfloskel, aber witzige Vorstellung
184.) „Ehrlicherweise“ – also war alles Bisherige gelogen?
185.) „Das ist nicht skalierbar.“
186.) „No show“ – bleibt mir weg damit
187.) „Townhall Meeting“ – aufgeblähter Begriff für Informationsveranstaltung
188.) „Welchen Ampelstatus hat das Projekt?“
189.) „genau“ als Füllwort / Satzüberleitung ohne vorangegangene Frage
190.) „Ich habe das auf dem Radar.“ – klingt nach geistigem Blindflug
191.) „… und Co.“ statt „und so weiter“
192.) „Einen Tod müssen wir sterben“ – aber vorher viel Mist anhören.
193.) „Das ist ’ne Menge Holz“
194.) „Da müssen wir ziemlich dicke Bretter bohren“ – ja, die vor dem Kopf zuerst.
195.) „Wir haben den nächsten Meilenstein erreicht“
196.) „Ich nehme das mal mit.“
197.) „Sie müssen das ganz neu denken!“
198.) „Schaun mer mal“ – in keiner Weise kaiserlich
199.) „Passt schon“ – ich hatte mehr erwartet.
200.) „Eine rote Linie ist überschritten“
201.) „Wie man auf Neudeutsch sagt“ – darauf folgt garantiert kein deutsches Wort.
202.) „Wir groß ist das Delta?“
203.) „Das quantifizieren wir per Augenintegral“
204.) „Da haben wir kein Issue.“
205.) „Ich habe morgen noch einen Slot frei.“
206.) „Der Drops ist gelutscht.“
207.) „Das ist work in progress.“
208.) „Können Sie mich morgen kurz anteasern?“
209.) „Da müssen Sie Ihre volle Leistung abrufen!“
210.) „Können wir uns da mal synchronisieren?“
211.) „Haken dran.“
212.) „So viel wie nötig, so wenig wie möglich.“
213.) „Diese Lösung ist convenienter.“
214.) „Das ist hier der Enabler.“
215.) „Alles gut?“ – nein, gar nicht gut.
216.) „aka“, auch bekannt als ‚alias‘
217.) „Der Prozess ist etwas sonderlockig.“
218.) „Ist das all over gelevelt?“
219.) „Wann ist die Deadline?“
220.) „Unsere Mitarbeiter sind unser Aushängeschild.“ Deshalb stehen sie im Regen.
221.) „All Hands Meeting“
222.) „Dieses Internet(z)“
223.) „Was ist da unser Zeithorizont?“
224.) „Wie händeln wir das?“
225.) „Du bekommst da noch Input von mir.“
226.) „Wir müssen das endlich durch die Tür bringen“. Macht sie am besten hinter euch zu.
227.) „Das klären wir im Vorfeld.“
228.) „Gibt es dafür ein Benchmark?“
229.) „Ich erstelle dazu einen One Pager.“
230.) „Hier die Meeting Minutes zu unserem Gespräch.“
231.) „Verzeihung, Freudsche Fehlleistung.“
232.) „Das ist state of the art.“
233.) „Wir sollten dazu einen Proofe of Concept durchführen.“
234.) „Wir fliegen da voll unter dem Radar.“
235.) „Haben Sie das schon angestoßen?“
236.) „quasi“ – an sich nicht schlimm, doch zunehmend eine echte Epidemie.
237.) „sozusagen“ – siehe Nr. 236
238.) „Da muss ich jetzt mal zwischengrätschen.“
239.) „Notfalls brauchen wir dafür erstmal eine händische Lösung.“
240.) „Ich bin da ambivalent.“
241.) „Jetzt gehts ans Eingemachte.“
242.) „Wir sollten das schon mal vorschattieren.“
243.) „Was sind unsere findings daraus?“
Neu:
244.) „Machen Sie mal einen Aufschlag.“ Da möchte man direkt zuschlagen.
245.) „Das Argument kaufe ich.“ Bitte sehr, macht einsfünfundneunzig.
246.) „Shit happens.“ Auch wird viel Scheiß geredet.
247.) „Rüchtüüüg…“ – richtig abgedroschen.
248.) „Reichsbedenkenträger können wir nicht gebrauchen.“ Leute, die dieses Wort absondern, noch weniger.
249.) „Das Thema können wir abbinden.“
250.) „Stillstand bedeutet Rückschritt.“
251.) „Never ever!“ möchte ich das hören.
252.) „Machen Sie da mal ein Preisschild dran.“
253.) „Last (but) not least“ – ein Klassiker, leider wird es dadurch nicht besser, genau so wie
254.) „nichtsdestotrotz“ – kotz.
255.) „in Schlagdistanz“ – oh ja gerne, komm her!
256.) „Die Lösung ist quick and dirty.“
257.) „Bitte halten Sie mich im Loop.“ Im WAS??
258.) „fyi“ – ihr seid ja sooo cool.
259.) „Ich kriege da keinen Anpack dran.“
260.) „Ich stelle das (an andere Abteilung o.ä.) durch.“ Und ich drehe durch.
261.) „schlagmichtot“ (statt „was weiß ich“). Wie gerne würde ich!
262.) „Chapeau!“ Genau so überflüssig wie
263.) „Da gehen wir d’accord“
264.) „Ja nee…“ – was nun, ja oder nein?
265.) „Das ist der Urschleim.“ Ekelig.
266.) „Die Sache fliegt.“ Siehe auch Nr. 183
267.) „Das wird kein Kindergeburtstag.“ Eher Kindergarten.
268.) „Wir brauchen belastbare Zahlen.“
269.) „Wir nehmen Ihr Anliegen sehr ernst.“ Floskel für „Sie nerven!“
270.) „Das Ende der Fahnenstange ist erreicht.“
271.) „Das sehe ich noch nicht.“ Aber wir müssen es leider hören.
272.) „Fit wie ein Turnschuh“ – Unfug, siehe hier.
273.) „Auf Wiederschauen.“ Was soll das sein?
274.) „Das ist immer eine feste Bank.“ – nicht sehr vertrauenserweckend.
275.) „sprich“ im Sinne von „das heißt“
276.) „irgendwie“ – der Bruder von „quasi“ (Nr. 236) und „sozusagen“ (Nr. 237)
277.) „Ich adressiere das.“ Siehe auch Nr. 260.
278.) „Das würde ich sofort unterschreiben.“
279.) „Das ist ganz großes Kino.“ Nur der Film ist leider scheiße.
280.) „Das Thema sehe ich bei Ihnen verortet.“
281.) „Nach dem Prinzip ‚slide the elephant‘“
282.) „Geben Sie mir bitte bis Mittwoch ein Feedback.“
283.) „Das habe ich noch auf dem Zettel.“ – Mehr ich für heute nicht.

Das war es für dieses Mal. Wie immer bin ich für Feedback*, sprich Vorschläge und Ergänzungen sehr dankbar. Oder Widerspruch, falls Sie irgendwie nicht d’accord mit der Liste sind – ich nehme das sehr ernst. Auf Wiederschauen.

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* Als
ich es hier schrieb, merkte ich, dass es in der Liste fehlte, daher als Nr. 282 ergänzt.

Stöckchen: Neunzehnhundertachtundachtzig

Frau serotonic hat ein virtuelles Stöckchen gefangen, mit welchem sie aufgefordert wurde, in ihrem Blog einen Blick zurück auf ihr persönliches Jahr 2003 zu werfen. Da ich das für eine schöne Idee halte, rief ich bereitwillig „hier“, als sie sich anschickte, das Stöckchen weiter zu werfen. Und da ich schon ein alter Sack bin und die Stöckchenwerferin das offenbar weiß, wies sie mir das Jahr 1988 zu – ganz schön lange her. Aber nach einem Blick ins Tagebuch und auf diverse Musikkassetten gelingt auch mir dieser Rückblick mühelos. Alsdann:

Mein Jahr 1988

Alter: süße 21 Jahre.

Beziehung: Weit entfernt von einer solchen, dafür verzweifelt auf der Suche. Zeitweise ahnte ich bereits, dass ich möglicherweise in die falsche Richtung schaute, was ich aber ein weiteres Jahr lang mehr oder weniger erfolgreich verdrängte.

Beruf: Im August beendete ich meinen Vorbereitungsdienst für den „mittleren nichttechnischen Postdienst“ und durfte mich nach erfolgreich bestandener Laufbahnprüfung fortan mit der Dienstbezeichnung „Postassistent zur Anstellung“ schmücken. Damals war es noch einfach, die Frage „Was machst du beruflich“ zu beantworten: Schalterbeamter bei der Deutschen Bundespost.

Musik: Nichts bestimmtes, dieses Zeug der späten Achtzigerjahre halt. Hier eine repräsentative Auswahl: „Ship Of Fools“ von World Party, „Standing On Higher Grounds“ von Alan Parsons Projekt, „True Faith“ von New Order, „Ayla“ von Flash And The Pan, „Never Tear Us Apart“ von INXS und „Heart´s Desire“ von Gerry Rafferty (B-Seite von „Shipyard Town“. Wenn Sie nicht wissen, was eine B-Seite ist, scheuen Sie sich nicht, zu fragen.)

Haare: Weiß ich nicht mehr genau, leider (oder zum Glück) gibt es von mir so gut wie keine Bilder aus der Zeit. Vermutlich etwas länger als heute. Jedenfalls war es morgens immer ein Kampf mit Geltube und Fön, den ich meist verlor – selten lagen sie so, wie ich es gerne gehabt hätte.

Aufenthaltsort: Bielefeld-Stieghorst, in meinem Elternhaus, inklusive Verpflegung und Wäscheservice gegen ein geringes monatliches Entgelt, welches „Kostgeld“ genannt wurde. Bis zur ersten eigenen Wohnung sollten noch fünf Jahre vergehen, auch wäre daran mit meinem schmalen Jungbeamtensalär 1988 noch gar nicht zu denken gewesen.

Fazit: Insgesamt war 1988 kein schlechtes Jahr für mich, jedoch liegt es mir fern, mich in jene Zeit zurück zu sehnen. Früher war nicht alles besser, nur vieles anders.

Wenn Sie nun auch das Stöckchen fangen wollen – die Adresse finden Sie oben.

Über Glück, Überraschungen und ein Klärwerk

Es heißt, Laufen lasse Glückshormone summen, jedenfalls nach einer längeren Strecke. Wahrscheinlich ist meine Laufstrecke zu kurz für derartige Empfindungen. Ja, es macht schon Spaß, aber Glücksgefühle, so wie als Kind, wenn das Christkind das ersehnte blaue Fahrrad gebracht hatte? Zittern vor Glück ob des Bewegungsrausches? Ich hatte übrigens tatsächlich als Kind ein blaues Fahrrad, so ein schwerfälliges Klapprad mit Rücktrittbremse und ohne Gangschaltung, jedoch bekam ich es zum Geburtstag statt zu Weihnachten; es brachte auch nicht der ‚Geburtstagsmann‘ (dessen Existenz man mir in frühen Jahren tatsächlich glaubhaft zu machen suchte, als Pendant zum allseits bekannten und von mir lange nicht in Frage gestellten Weihnachtsmann), sondern meine Eltern kauften es in meinem Beisein im Bielefelder Quelle-Kaufhaus, ohne jedes Überraschungsbrimborium. Ja, das gab es wirklich mal: Quelle-Kaufhäuser. Heute gibt es nicht mal mehr Quelle. Bielefeld hingegen schon, entgegen anderslautenden, einem zweifelhaften Humor entsprungenen Behauptungen. Interessanterweise hat Bielefeld sogar einen Stadtteil namens Quelle, Postleitzahl 33649. Na gut, so interessant ist das nun auch wieder nicht.

Apropos Geburtstagsüberraschung: Ich bin meinen Mitmenschen aus tiefstem Herzen dankbar, dass sie mich noch nie mit einer Überraschungsparty zu beglücken sich verpflichtet fühlten, denn das erscheint mir als eine der missglücktesten Gutgemeintheiten. Du kommst nach einem langen Arbeitstag, an dem du dich gegenüber kollegial-persönlichen, telefonischen und auf allen denkbaren elektronischen Medien überbrachten Glückwünschen dankbar zeigtest, endlich mit einer angenehmen Müdigkeit nach Hause, freust dich auf Sofa, Porno und Wein, hast die Schuhe noch nicht aus, schon klingelt es und eine Meute fällt ungefragt in deine Wohnung, bringt CDs von Lady Gaga und Helene Fischer, Olivenöl und Balsamico-Essig in aufwändig verpackten Flaschen, Chips, Dosenbier sowie jede Menge guter Laune, während deine eigene sich schlagartig verzieht, durch das Fenster oder die Lüftung deines fensterlosen Klos. Ehe sie dein Sofa und die Küche in Beschlag nehmen, vollkleckern und in Rauch hüllen, grölen sie „Happy Birthday“, wobei sie den hohen Ton im dritten „Happy Birthday“ nicht treffen, derweil dein gequältes Grinsen dein Missfallen nur unzureichend zu verbergen vermag. Lieber keine Freunde als solche.

Nein, so richtige Glücksgefühle kommen mir selten beim Laufen. Wenn mein iPod „This Corrosion“ von den Sisters Of Mercy oder „Down Among The Dead Man“ von Flash And The Pan spielt, dann beglückt mich das schon etwas, weil diese beiden Lieder und ein paar andere zufällig denselben Takt aufweisen wie mein Laufschritt, das fühlt sich dann so ein bisschen wie Tanzen an, was ja auch irgendwie glücklich machen kann, aber nicht unbedingt muss: Mit fünfzehn zwangen mich meine Eltern in eine Tanzschule, weil das zu der Zeit angeblich alle machten. Ich hasste es und brach nach dem Grundkurs angewidert ab. Gut so, denn das dort vergeblich zu erlernen angestrebte habe ich seitdem nie gebraucht beziehungsweise verstand es, angetragene Paartanzwünsche freundlich aber bestimmt abzulehnen. Nur einmal, auf meiner Hochzeit, da musste ich. Die Feier wurde trotzdem noch ganz schön.

Manchmal begleiten mich beim Laufen statt Glücksrausch merkwürdige Gedanken: Eine meiner regelmäßigen Laufstrecken führt an den Rhein, unter der Nordbrücke hindurch bis zum Hafen, dann eine Schleife um das Klärwerk und wieder am Rhein entlang zurück, deshalb bezeichne ich diese Strecke als ‚Hafenschleife‘, wenn ich den Lauf abends in meinem Tagebuch dokumentiere (in Abgrenzung zur ‚Nord-‚, ‚Süd-‚ und ‚großen Brückenrunde‘ sowie zur ‚kleinen‘, ‚mittleren‘ und ‚großen Rheinauenschleife‘ – nicht so wichtig). Dabei wäre hier ‚Klärwerkschleife‘ zutreffender, doch will man wirklich die Begriffe ‚Hafen‘ und ‚Klärwerk‘ gleich-, das eine gar durch das andere ersetzen? Man stelle sich vor, Lale Andersen hätte dergleichen getan in ihrem weltberühmten Schlager „Ein Schiff wird kommen“ („Ich bin ein Mädchen aus Piräus und liebe den Hafen, die Schiffe und das Meer…“). Auch der sprichwörtliche Hafen der Ehe verlöre erheblich an Reiz. Obwohl – so mancher soll ja nach zwanzig Ehejahren einen spürbaren Klärungsprozess durchlaufen haben.

Ich sollte vielleicht weiter und länger laufen.

Ausgedachtes: Noch einmal Sommer

IMG_2295 19.51.18Angesichts des schönen Spätsommerwetters, welches uns dieses Wochenende vergoldete, erinnerte ich mich einer Geschichte, die ich bereits vor längerer Zeit schrieb. Hier das erste Kapitel. Ich wünsche viel Vergnügen!

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An diesem Samstag schien der Herbst eine Pause einzulegen und dem Sommer einen letzten Auftritt zu gewähren: Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel und ließ das Laub der Straßenbäume gelb leuchten, das Thermometer am Küchenfenster zeigte schon vormittags vierundzwanzig Grad, und die Menschen in der Stadt zeigten sich noch einmal in kurzen Hosen und Röcken, T-Shirts und Sandalen, die sie längst für den nächsten Sommer in ihren Schränken verstaut hatten, ließen noch einmal, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr, die Sonne an die schon wieder bleiche Haut.

Schon morgens, als er die Tageszeitung und die Post aus dem Briefkasten holte, war Günther Aschheim der Kastenwagen mit der Beschriftung eines bekannten Autovermieters aufgefallen, der vor dem Haus nebenan stand, die geöffneten Heckklappen gaben den Blick frei auf Möbel, Kartons und anderen Hausrat, vier Jungs im Studentenalter schleppten die Sachen ins Haus. Kein ungewöhnlicher Anblick, das Haus war überwiegend von Studenten bewohnt, die Bewohner wechselten häufig. Nur der alte Herr Bruchsal, dem das Haus gehörte, wohnte seit eh und je dort, Hochparterre links, und würde es wohl bis an sein Lebensende tun, ein eigenartiger, doch stets gut gelaunter Kauz, seit vielen Jahren verwitwet, das Zusammenwohnen mit den jungen Leuten schien auch ihn jung zu halten, zudem konnte er von den Mieteinnahmen offenbar gut leben; das Einsammeln von Pfandflaschen aus den öffentlichen Papierkörben, bei dem man ihn regelmäßig beobachten konnte, war wohl mehr Marotte als Notwendigkeit.

Aschheim war um kurz nach sieben wach und sofort aufgestanden, so wie fast vierzig Jahre lang, als er jeden Morgen zur Universität ging, daran hatte sich seit seinem Ruhestand nichts geändert. Erika, seine Frau, war gerne immer noch ein bis zwei Stunden liegen geblieben. Aschheim bereitete ihnen dann das Frühstück, holte Brötchen, kochte Kaffee und las in der Zeitung, bis Erika aus dem Bad kam. Er genoss diese ruhige Stunde morgens, alleine, in der er mit niemandem sprechen musste.

Seine Arbeit, die dem Tag Struktur gab, fehlte ihm sehr, und das Gefühl, als Größe in seinem Fachgebiet der Chemie anerkannt zu sein, gefragt zu werden. Vor allem aber vermisste er die jungen Leute, die Studenten, die seine Vorlesungen besucht hatten, die Doktoranden, die er betreute – er war beliebt und begehrt als Dozent und Doktorvater, das wusste er, noch heute hielt er Kontakt zu mehreren seiner ehemaligen Doktoranden, die längst selbst an Hochschulen lehrten oder sich in gehobenen Positionen großer Chemiekonzernen befanden; wenn sich einer von ihnen bei ihm meldete, sei es, weil er Rat suchte, oder nur, um den Kontakt zu pflegen, spürte Aschheim etwas in ihm aufblühen.

Seit vier Jahren war er nun raus aus dem aktiven Unibetrieb, hielt sich jedoch über das Internet fachlich auf dem Laufenden, betreute eine Zeit lang noch einige Forschungsprojekte und veröffentlichte hin und wieder Artikel in Fachzeitschriften, auch hielt er noch ein paar wenige Vorlesungen als Gastdozent, doch je länger er raus war, desto weniger Anfragen kamen. Das Buchprojekt „Chemie im Alltag“, das er begonnen hatte, kam nicht so recht voran, er spürte, wie seine Energie nachließ, und das beunruhigte ihn. Nein, er wollte noch kein altes Eisen, Schrott sein, fühlte sich noch nicht wie ein Rentner, der die Vorzüge und Bequemlichkeiten des Ruhestandes genoss.

Bis zu ihrer Trennung ging es ihnen gut, sie waren gesund, abgesehen von den üblichen Verschleißerscheinungen und ein paar nicht erstzunehmenden Wehwehchen, das Haus war längst abbezahlt, ebenso das Ferienhaus auf Gran Canaria, und zu seinen nicht gerade schmalen Pensionsbezügen kamen noch die Honorare, die Erika für ihre Tätigkeit als Klavierlehrerin an der Jugendmusikschule und ihre Publikationen über Johannes Brahms bekam. Ihren Beruf als Lehrerin am Gymnasium hatte sie schon vor Jahren aufgegeben, weil ihr irgendwann die Kraft fehlte, zwischen renitenten Schülern, statusbesessenen Eltern und der Schulverwaltung zerrieben zu werden. Stattdessen arbeitete sie nun freiberuflich, gab dreimal die Woche Klavierunterricht und konnte bereits mehrere Artikel in Fachzeitschriften und Magazinen platzieren, ihr Buch über Brahms verkaufte sich gut, auch für den WDR war sie schon tätig.

Ihre Kinder, Felix, der ältere, und Katja hatten das Elternhaus längst verlassen, waren verheiratet und hatten selbst Kinder, Felix arbeitete als Personalreferent bei einem großen Unternehmen in Hamburg, Katja als Anwältin in Leipzig. Sie konnten stolz auf die beiden sein, und waren es auch. Und dass sie sich außer zu Weihnachten sonst nur noch unregelmäßig, vielleicht vier- oder fünfmal im Jahr, sahen, damit hatten sie sich abgefunden, das war eben so.

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Zum Gesamtwerk bitte hier entlang: http://www.netnovela.de/noch-einmal-sommer#.VFZXPocYmlV