Hier ein erster Auszug aus meinem im Entstehen befindlichen, noch titellosen Bestseller. Ähnlichkeiten mit tatsächlich bestehenden Orten und Personen sind keineswegs zufällig.
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Zu Beginn der Neunziger gab es noch nicht die zahlreichen Möglichkeiten zur Kontaktknüpfung im Internet; um jemanden kennen zu lernen, musste man raus. Aber wohin? Hier konnte Martin glücklicherweise auf die Erfahrungen von Thorsten zurück greifen, der über die einschlägigen Mög- und Örtlichkeiten in Ostwestfalen und dem südwestlichen Niedersachsen bestens informiert war. Mit einer Mischung aus Faszination und ungläubigem Entsetzen hörte Martin zu, wenn Thorsten mit leuchtenden Augen von Pornokinos, Parkanlagen, Saunen und Autobahnparkplätzen berichtete. Nein, das alles kam für Martin nicht in Frage und wäre für den Anfang zu viel gewesen, niemals hätte er sich – ob in Thorstens Begleitung oder ohne – an einen solchen Ort getraut. Doch zum Glück ging es auch ein paar Nummern kleiner: Bars und Kneipen für das spezielle Publikum.
Muttis Bierstube lag, eher zufällig, ganz in der Nähe einer der oben erwähnten Parkanlagen. Hierher, also in die Kneipe, nicht den Park, führte ihn Thorsten an einem Samstagabend, nachdem er längere Zeit gebraucht hatte, Martin dazu zu überreden. Widerwillig folgte er ihm zu der äußerlich auf den ersten Blick ganz normalen Kneipe; erst vor der Tür bemerkte er den kleinen Unterschied: Man zog nicht einfach am Türknauf und ging hinein, sondern man klingelte, woraufhin sich in Kopfhöhe ein kleines Kläppchen in der schweren Eisentür öffnete und der Einlass Begehrende einer Gesichtskontrolle unterzogen wurde. Am liebsten wäre Martin auf der Stelle nach Hause zu seiner Modelleisenbahn gefahren. Doch offenbar waren dem Türwächter ihre Gesichter genehm oder jedenfalls nicht des Unfriedens verdächtig, und also ward ihnen aufgetan.
Das Unbehagen, das Martin schon vor der Tür beherrscht hatte, verdoppelte sich dahinter noch einmal, obwohl augenscheinlich alles ganz harmlos war: Niemand war nackt oder sonstwie unangemessen (un-)bekleidet, sieht man einmal von Seidenblousons und Cowboystiefeln ab, und niemand stürzte sich auf sie in unzuchtverdächtiger Absicht. Stattdessen spürte er Blicke von allen Seiten, in denen er so etwas wie „Sieh an, Frischfleisch“ zu lesen glaubte, die jedoch bald wieder von ihnen abließen und sich dem zuvor Betrachteten widmeten. Es war etwas dunkler als er es in Kneipen üblicherweise gewohnt war, Zigarettenrauch und Marianne Rosenberg erfüllten den Raum. Ein wenig fühlte es sich an wie ein Zoobesuch, wobei nicht hundertprozentig klar war, wer sich vor und wer hinter den Absperrungen befand.
Das fast ausschließlich männliche Publikum war größtenteils älter als die beiden, von teilweise erschütternder freiwilliger Hässlichkeit: Martin sah blond gesträhnte Föhnfrisuren, riesige Ohrringe, gestutzte Schnauzbärte, Brillen in extravagantesten Bauarten und sonnenstudiogegerbte Haut. Hatte er zuvor ein Klischee schwuler Männer in seiner Vorstellung, so sah er es hier in erschreckender Weise bestätigt: die nasal-affektierte Art, wie sie miteinander sprachen, manchmal aufkreischten, und wie sie mit abgeknickten Handgelenken ihre Zigaretten hielten. So sollte er nun auch sein, oder bald werden? Dieser Gedanke war Martin fast so unangenehm wie die Vorstellung einer eigenen Familiengründung mit Haus und Hund. Durch das Fenster blickte er auf Bielefelds zentralen Busbahnhof, dahinter die Leuchtschrift eines Ladens mit dem Namen „Restetruhe“, wo man tagsüber Stoffballen und Gardinen kaufen konnte.
Über der Theke leuchtete ein gelbes Blinklicht auf, jemand begehrte Einlass. Kurz darauf betraten zwei mittelalte Herren den Raum und wurden mit Kreischen und Küssen der geföhnten Schnauzbärte begrüßt. Nach einer guten Stunde und zwei Bier hatte Martin für seinen Geschmack genug gesehen und gehört, daher drängte er Thorsten zum Gehen.
„Was, jetzt schon? Es ist doch noch gar nichts los.“
„Mir brennen die Augen schrecklich vom Zigarettenrauch“, log Martin.
Es dauerte danach mehrere Monate, bis Martin die Bierstube erneut betrat, und zwar alleine, ohne Thorstens schützende Hand. Zuvor hätte er zahlreiche Gelegenheiten dazu gehabt, aber immer fand er Gründe, die Jagd auf ein anderes Mal zu verschieben: Müdigkeit, Einladung zu einem Geburtstag, Verabredung mit Freunden, Kopfschmerzen oder simple Unlust – der Gedanke an die mittelalten Schnauzbärte mit gefärbten Strähnen in den Föhnfrisuren war seiner Abenteuerlust nicht gerade förderlich. Doch der Wunsch, endlich jemanden kennen zu lernen, trieb ihn eines Samstags endlich aus seinem Zimmer. Im Gehen erzählte er seiner Mutter so beiläufig wie möglich etwas von einer Geburtstagsfeier bei Kollegen.
„Was, so spät noch“, so die Antwort, dabei war es gerade erst kurz nach neun, im Grunde viel zu früh für die Szene. Er hasste es, seine Eltern anzulügen, fragte sich, ob sie ihm glaubten; aber es ging nicht anders, nicht, so lange er noch bei ihnen wohnte.
Bald stand Martin wieder vor der Eisentür mit der kleinen Sichtklappe, wusste, wenn er jetzt den Klingelknopf drückte, leuchtete drinnen über der Theke das gelbe Blinklicht und verkündete einen Neuankömmling. Die Aussicht, gleich gutachterisch von allen Seiten beäugt zu werden, ließ ihn kurz zögern. Sollte er nicht lieber zurück nach Hause fahren, kam heute nichts im Fernsehen? Aber wie sollte er das nun wieder seiner Mutter erklären: Der Geburtstag ist erst nächste Woche, habe mich doch glatt im Datum vertan, so was dummes? Verdammt, gab es denn wirklich keine andere Möglichkeit? Nein, jedenfalls nicht heute, also klingelte er endlich. Die Klappe ging auf, ein Augenpaar prüfte kurz seine guten Absichten, dann öffnete sich die Tür und ein glatzköpfiger Kerl mit viel zu knappem T-Shirt flötete „Hereinspaziert!“
Martins Befürchtungen, von lüsternen Blicken durchbohrt zu werden, erfüllten sich nur teilweise, denn der Laden war fast leer, vielleicht eine Handvoll Besucher verteilten sich um die Theke und schauten der älteren Dame dahinter, vielleicht war das Mutti, beim Gläserspülen zu, während sie sich mit den Herren gespielte Boshaftigkeiten zuwarf. Es war eindeutig noch zu früh. Thorsten hatte ihm schon gesagt, man brauchte vor Mitternacht eigentlich gar nicht herzukommen.
Martin behielt die Jacke an und wollte sich gerade an den Kopf der Theke setzen, als Mutti ihn im Tonfall eines Berliner Busfahrers anraunzte: „Da kannst du nicht sitzen, Schätzchen, Norbert kommt gleich.“ Norbert? Martin sah das kleine Messingschild mit diesem Namen eingraviert, das auf Höhe des von ihm unachtsam anvisierten Barhockers an die Kante der Thekenplatte geschraubt war, und er spürte, wie er rot wurde, weil nun wieder alle Augen auf ihn gerichtet waren. Also nahm er Platz auf einem anderen Hocker in gebührendem Abstand zu Norberts Thron. Wer war dieser Norbert, warum hatte der hier einen eigenen Platz? Würde Martin den auch bekommen nach dreißigjähriger Stammgastschaft? Der Gedanke ließ ihn schaudern.
„Was darf ich dir bringen?“ fragte Mutti, nun gar nicht mehr unfreundlich, dennoch erweckte sie den Eindruck, sich mit ihr besser nicht anzulegen; obwohl von Gestalt her klein und eher hager, traute Martin ihr ohne weiteres zu, einen hier eigenhändig vor die Tür zu setzen, wenn man nicht artig war. Er bestellte eine Cola, zündete sich eine Zigarette an und ließ den Blick schweifen.
Zigarettenrauch und Verzweiflung lagen in der Luft; über der kleinen Tanzfläche, auf der niemand tanzte, drehte sich unbeirrt eine Diskokugel und warf ihre Lichtblitze an die Wände. Der Glatzkopf, der ihn hereingelassen hatte, stand am Musikpult hinter der Theke und kümmerte sich um die Beschallung mit Schlagern und aktueller Musik.
Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür, und ich weiß, er bleibt hier …
Die anderen Gäste waren durchweg älter, keiner von ihnen weckte Martins Interesse, und doch hätte er sich jetzt gerne unterhalten, man muss ja nicht gleich … Zwei unterhielten sich angeregt miteinander und tatschen sich dabei immer wieder an, was Martin irritierend fand. Einmal schauten sie zu ihm herüber, einer flüsterte dem anderen etwas ins Ohr, sie kicherten wie Schulmädchen, Martin wurde wieder rot, dann ließen sie wieder von ihm ab und würdigten ihn für den Rest des Abends kaum noch eines Blickes.
Am anderen Kopfende der Theke gegenüber saß ein schmieriger mittelalter Typ mit schulterlangen Haaren und aufwändiger Brille, der immer wieder zu Martin herüberschaute, während der, so gut es ging, den Blicken auswich. Kaum hatte Martin seine Cola leer, stellte Frau Mutti ihm das nächste Glas hin. Bevor er etwas sagen konnte, sagte sie „Du bist eingeladen“ und machte eine Kopfbewegung in Richtung Schmiertyp, der ihm daraufhin grinsend mit seinem Bier zuprostete. Dem Gebot der Höflichkeit folgend hob Martin sein Glas, nickte ihm knapp zu und nippte kurz. Leichte Panik kroch in ihm hoch. Was erwartete der jetzt von ihm, sollte er hingehen und sich artig für die Einladung bedanken? Womöglich sich betatschen lassen und später mit zu ihm fahren? So gerne Martin jetzt mit jemandem gesprochen hätte, der musste es nun wirklich nicht sein. Ehe er sich weitere Gedanken über eine angemessene Reaktion machen konnte, stand der Typ auf, kam zu Martin herüber und setzte sich auf den freien Platz zwischen ihm und Norberts Stammplatz.
„Hallo, ich bin Andreas, wie heißt du?“
„Martin“, antwortete er wahrheitsgemäß, mehr fiel ihm im Moment nicht ein.
„Martin …“ wiederholte der Typ. „Du bist sehr hübsch, Martin, weißt du das?“
Nein, das wusste er nicht, jedenfalls hatte es ihm bislang noch keiner gesagt. Gewiss, es gab wohl Hässlichere, im Großen und Ganzen war er mit seinem Spiegelbild ganz zufrieden, selbst morgens nach dem Aufstehen. „Danke …“ antwortete er knapp und ihm wurde heiß, vermutlich errötete er gerade wie eine Johannisbeere im August. Hätte er jetzt „du auch“ oder etwas in der Art erwidern sollen? Das wäre eine glatte Lüge gewesen, und lügen sollte man nicht. Das Gespräch stockte. Der Blick des Typen – wie heißt der noch, Andreas? – durchbohrte Martin, während er auf sein Colaglas starrte. Konnte es jetzt nicht klingeln, eine Horde gut aussehender Jungs hereinspazieren, und den Kerl von ihm ablenken? Oder noch besser Thorsten, der ihn erlöste? Aber der war jetzt vermutlich bei seinem Freund oder irgendwo in einem dunklen Park oder auf einem Autobahnparkplatz. Die Tatsache, in einer Beziehung zu leben, war für Thorsten kein Grund, nicht trotzdem mal an diesen Orten vorbeizuschauen, der andere musste das ja nicht unbedingt wissen. „Festhalten und weiter suchen“, so seine Philosophie. Martin musste noch viel lernen. Er schaute den Kerl kurz an, grinste verlegen, dann widmete er sich wieder der Cola.
„Warum bist du so schüchtern?“, nahm der Kerl den nächsten Anlauf. Dabei beließ er es nicht, er legte seine Hand auf Martins Unterarm und ließ sie nach oben wandern, Oberarm, Schulter, Rücken, Hinterkopf und den Rücken wieder hinunter. Angstschweiß brach Martin aus. Hunde und Wespen spüren es, wenn der Mensch Angst hat, hatte er mal gelesen. Eine Wespe hätte er jetzt erschlagen können, Andreas, oder wie der hieß, nicht ohne Weiteres.
Martin musste pinkeln, traute sich jedoch nicht runter zu den Klos, womöglich hätte sein Verehrer das missverstanden und wäre ihm gefolgt. Jedoch schien auch den, neben anderen Gelüsten, die Blase zu drücken.
„Ich bin gleich wieder bei dir, Martin, muss mal kurz für kleine Jungs“, sagte er, zwinkerte albern und ging Richtung Toilette. Kurz bevor er aus Martins Blickfeld verschwand, drehte er sich noch einmal zu ihm um und grinste ihn schmierig an.
Das war Martins Chance. „Ich möchte bitte bezahlen!“, rief er Mutti zu.
„Soll ich Andi was ausrichten?“, fragte sie, nachdem er bezahlt hatte, und zwinkerte ihm zu.
„Nicht nötig“, sagte er und sah zu, so schnell wie möglich hier raus zu kommen. Das war also die schwule Szene, von der er ab jetzt ein Teil war, ob er wollte oder nicht. Mit Aussicht auf die Restetruhe jenseits der Fenster.