Woche 11/2023: Ein bisschen Störgefühl und explodierende Baugenehmigungen

Montag: Das Wort zum Montag las ich hier bei Herrn S.: »Hin und wieder tut er einfach so, als würde er sich über irgendeinen Stuss aufregen, redet dann einfach auch mal empört daher. Sonst denken die Leute, man ist keiner von ihnen. Gerade auf Arbeit ist das wichtig.« Besser kann man das Leid der beginnenden Arbeitswoche kaum auf den Punkt bringen.

Worüber ich mich nicht mehr aufrege sind Kollegenanfragen per Teams-Chat, wann ich Zeit hätte, um über irgendeinen Stuss zu sprechen, anstatt kurz in den Outlook-Kalender zu schauen und eine Einladung zu senden. Überhaupt ignoriere ich Teams-Chatnachrichten grundsätzlich; ich benötige neben Mail und Telefon (und zwar in der Reihenfolge) keinen weiteren Kommunikationskanal.

Nach Rückkehr von der Mittagspause roch es in der Eingangshalle des Werks nach nassem Hund. Ein Geruch, der sich mir, obwohl nie Hundebesitzer, eingeprägt hat: Im Schwiegerelternhaus lebte die Labradordame des Liebsten. Aika, so ihr Name, zeichnete sich nicht nur durch nahezu unerschütterliche Gutmütigkeit aus, sondern auch durch ihre Vorliebe für Gewässer aller Art. Näherte man sich mit ihr unangeleint einem Teich, Bach oder einer Pfütze, war sie nicht davon abzuhalten, sich in die Fluten zu stürzen und darin zu toben. Bis sie des Tobens müde zurückkehrte, nass und mit Entengrütze im Fell, und sich erst in unmittelbarer Nähe des Menschen ausgiebig schüttelte. Dementsprechend roch es in dem Haus, noch lange nach ihrem Ableben. Woher der Geruch heute Mittag kam, war nicht zu ergründen, er bestärkte mich indessen darin, vorerst weiterhin von Hundehaltung Abstand zu nehmen.

Dienstag: Bonner Oper und Schauspielhaus erhalten laut Zeitung nunmehr vierzig Millionen Euro jährlich an städtischen Zuschüssen. Vierzig Millionen, damit eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe sich angemessen vergnügen kann. Zu recht, befindet ein Kommentator, schließlich seien die Besucher nicht nur Angehörige elitärer Kreise. Das schließt er daraus, dass das Garderobenpersonal an Opernabenden nicht unter der Last schwerer Nerzmänteln ächze und im Parkhaus nicht nur Porsches stünden. Was man auch mit vierzig Millionen Euro im Jahr tun könnte: vier bis fünf Vorstandsmitglieder von Dax-Konzernen vergüten. Auch darüber rege ich mich nicht mehr auf, ich merke nur an.

Porsche meldete übrigens für das vergangene Jahr eine Steigerung des operativen Ergebnisses um mehr als siebenundzwanzig Prozent. Ich will jetzt nicht schon wieder auf der FDP rumhacken, die kann da vermutlich nichts für. Jedenfalls läuft irgendwas schief.

Ich empfinde es immer wieder als Privileg, bei Bedarf zu Fuß ins Werk gehen zu können. Heute hatte ich Bedarf.

Was Positives: Heute ist Steak-und-Blowjob-Tag, das sollten Sie wissen, Allgemeinbildung ist so wichtig. Für mich gab es indessen mittags Currywurst, geblasen hat nur der Wind ums Mutterhaus, und zwar ziemlich heftig.

Abends fertigte ich einen Tagebucheintrag über das Wetter und menschliche Launenhaftigkeit, den ich hier nicht wiedergeben kann. Ich bitte um Verständnis.

Mittwoch: Für nächste (das heißt, wenn Sie es lesen: diese) Woche Donnerstag einen Inseltag gebucht. Das hebt schon jetzt (da ich es schreibe) die Laune deutlich.

Heute ist Internationaler Tag zur Bekämpfung der Islamfeindlichkeit. Ich bin kein Feind des Islams, doch ich gestehe: Ich misstraue ihm. So wie ich dem Christentum und überhaupt allen Religionen misstraue. Es ist mir rätselhaft, warum derart viele Menschen deren Verheißungen und Märchen Glauben schenken und im Namen dieses Glaubens anderen, die nicht oder anders glauben, die Kehle durchschneiden oder sie auf dem Scheiterhaufen rösteten. Oder ihnen das Recht aberkennen, zu lieben, wen sie wollen. Der Staat muss sich davon fern halten, er darf das nicht unterstützen. Das heißt nicht, dass Religionsgemeinschaften verboten werden müssen. Wenn sie sich treffen wollen, um ihren Gott oder wen auch immer zu preisen, sollen sie das tun. Modelleisenbahn-, Folklore- und Schützenvereine sind ja auch erlaubt, wobei es bei letzteren schon fragwürdig ist, dass sie zur Ausübung ihres Hobbys, das absurderweise als Sport anerkannt ist, scharfe Waffen benutzen dürfen.

Abends wurde ich gefragt: „Kubicki? Haben Sie was mit dem Politiker zu tun?“ Antwort: „Nein. Und wenn, würde ich es nicht zugeben.“

Donnerstag: Deutschland verpasst im Verkehrssektor die Klimaziele, wer hätte das gedacht. Dazu der zuständige Verkehrsminister: „Die Antriebswende ist eingeleitet und ihr Hochlauf nimmt immer mehr zu.“ Zunehmender Hochlauf – dann kann ja nichts mehr schief gehen.

Gehört in einer Besprechung: „Ich hab da ein bisschen Störgefühl.“ Wer nicht, lieber Kollege, wer nicht.

Jedes Jahr freue ich mich erneut an diesem Tag, da Gummar Namenstag hat. Gesetzt den Fall, jemand heißt wirklich so: Wie oft im Leben mag er wohl, während er still seine Eltern verflucht, sagen: „Nein, mit Doppelemm in der Mitte“?

Aus einem Zeitungsartikel: »Immer wieder gibt es Streit und Diskussionen über die Anerkennung von Sportarten. Darts, Schach, eSports – Wir haben Spieler aus der Region mit den Vorwürfen konfrontiert.« Abgesehen von der durchaus berechtigten Infragestellung erscheint die Wortwahl fragwürdig, wenngleich mittlerweile allgemein üblich. Warum bezeichnen die Medien fast jede Meinungsverschiedenheit immer gleich als Streit? Und wieso Vorwürfe? Was ist den Leuten vorzuwerfen, die den oben genannten Beschäftigungen nachgehen? Laut dem Bericht erkennt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) eSports nicht als Sport an, da ihm »ein gemeinnütziger und demokratischer Ansatz« fehle; weiter: »Gewinnorientierte, global agierende Unternehmen stünden im Vordergrund und würden allein über Regeln, Inhalte und Spielformen entscheiden.« Aha. Demnach wäre Fußball auch kein Sport, oder was ist die FIFA anderes als ein gewinnorientiertes, global agierendes Unternehmen, das über alles entscheidet? Sportschützen und -angler werden in dem Artikel übrigens nicht erwähnt. Denen wäre durchaus einiges vorzuwerfen.

Freitag: Aus logistischen Gründen, die darzulegen Ihnen erspart sei, fuhr ich morgens mit der Bahn ins Werk. Mir gegenüber saß ein etwa zwölfjähriger Junge, der mit einem Zauberwürfel beschäftigt war, was man nur noch selten sieht. Er ging dabei mit unglaublicher Geschwindigkeit und Fingerfertigkeit vor, nur kurz vor dem Ziel scheiterte er zunächst und begann von vorne. Fast war ich geneigt, ihn zu fragen, ob ich es mal versuchen darf. Am Ende, kurz bevor er mit seiner Begleiterin ausstieg, gelang es ihm, die Farbenreinheit des Würfels herzustellen, zufrieden packte er ihn in den Rucksack. Ich war beeindruckt. (Beim Aufschreiben war mir so, als hätte ich sowas hier schon mal geschrieben. Und richtig: Im April 2018 notierte ich eine ähnliche Beobachtung.)

„Hat noch jemand einen Nachbrenner?“, so die Frage am Ende einer Besprechung. Was soll das sein? Eine Spirituose? Oder eine Flatulenz?

Samstag: »Baugenehmigungen brechen zu Jahresbeginn ein« titelt die Zeitung. Bei wem und ob sie etwas gestohlen haben, blieb offen.

Ein neues Wort gelernt, gelesen auf einer Erklärungstafel zu einem städtischen Beet am Rheinufer: „Trittsteinbiotop“. So kann man einen geschotterten Vorgarten auch bezeichnen.

Anschrift an einem Schaufenster: »Stricken und Drucken für Bonn«. Neben Menschenketten für den Frieden und Laufen gegen den Hunger nun auch noch das.

Sonntag: Ich habe den Eindruck, die örtliche Rabenpopulation hat in letzter Zeit stark zugenommen. Oder sie „explodiert“, wie die Presse schreiben würde; vermutlich können sogar Baugenehmigungen mit lautem Knall explodieren. Zurück zu den Raben, sie sind mir sehr sympathisch. Das mag früher, also so richtig früher, nicht dieses Siebziger- oder Achtziger-Früher, anders gewesen sein, da wurden sie wegen ihrer Schwärze als Vorboten von Tod und Verderben gehalten*. Wer mag es den Leuten verdenken, wenn sie alles glaubten, was man ihnen erzählte. Es gab ja noch kein Internet.

*Unbelegte und -recherchierte Behauptung

Zum Schluss noch ein paar Bilder der Woche:

Irgendwann wird mich meine Pareidolie in den Wahnsinn treiben
Auch eine repräsentative Adresse entscheidet häufig über den Geschäftserfolg eines Unternehmens.
Mehr Bio ist kaum denkbar, allerdings nur für größere Wohnungen mit toleranter Nachbarschaft empfehlenswert

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die FDP verboten werden muss.

***

Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 31/2022: Kunst kommt von komisch

Montag: »Anti dunkle Augenringe« las mein morgenmüdes Auge während des Zähneputzens auf der Tube eines Pflegeproduktes, das auf der Badablage der Furchenglättung harrt. Augenscheinlich wird es auch in den Marketingabteilungen zunehmend schwieriger, gutes Personal zu finden.

»Siegen ist echt hässlich« hat jemand an einen Lampenpfahl im Rheinauenpark geschrieben. Ob die südwestfälische Stadt gemeint ist oder der Vorgang des Gewinnens ist nicht erkennbar. Über die Schönheit der Stadt erlaube ich mir kein Urteil, da ich erst einmal dort war und sie mir weder als besonders schön noch unschön in Erinnerung geblieben ist. Ein Sieg hingegen kann, je nachdem, wer wen worin geschlagen hat, ganz schön hässlich sein.

Dienstag: Morgens beim Starten des Rechners (manche nennen es „hochfahren“, warum auch immer, so wie andere einen Grill grundsätzlich „anschmeißen“, ich schweife ab) startet auch automatisch Teams. Hier ist es wichtig, als erstes das grüne Häkchen gegen den roten Punkt zu ersetzen, denn grün zieht, wie Licht das Ungeziefer, Leute an.

Manchmal, ganz selten, heute Abend etwa, hätte ich größte Lust auf dieses „Ich geh mal Zigaretten holen“. Geht aber nicht, da ich seit drei Jahren nicht mehr rauche. Stattdessen holte ich Pizza und lieferte sie selbstverständlich ordnungsgemäß zu Hause ab.

Mittwoch: »Der Klimawandel könnte nach Ansicht von Experten im schlimmsten Fall zum Aussterben der Menschheit führen«, steht in der Zeitung. Was genau wäre daran so schlimm?

Nach dem Mittagessen hielt mich Hitze nicht von einem Spaziergang durch den Rheinauenpark ab, wo sich der Teich langsam wieder füllt.

Die ersten Gänse nehmen es dankbar zur Kenntnis.

»Ob ich das heute auch noch kann, muss ich mal ausprobieren, er liegt noch hinter mir im Regal.« So endete neulich mein Rückblick auf Achtzigerjahre, gemeint war der Zauberwürfel. Ich kam bislang noch nicht dazu, man hat ja ständig den Kopf voll mit unwichtigen anderen Dingen. Gestern erkundigte sich Thomas nach dem Stand, woraufhin ich mir den Würfen vornahm und ihn gründlich verdrehte. Nach zwei Anläufe war er wieder farbenrein. Manches verlernt man einfach nicht, und wenn es noch so unnütz ist. Wobei ich das Vorgehen nicht verbal beschreiben könnte, nur die groben Schritte: 1) Seitensteine der ersten Ebene positionieren und gegebenenfalls drehen, dann 2) die Ecksteine der ersten Ebene, 3) Seitensteine der mittleren Ebene, 4) Seitensteine und 5) Ecksteine der dritten Ebene. Wie man aber beispielsweise einen Eckstein der dritten Ebene umpositioniert oder dreht, kann ich zwar mit dem Würfel in der Hand tun, theoretisch beschreiben jedoch nicht. Wer es wissen möchte, findet es hier.

Danke der Nachfrage.

Donnerstag: In der Kantine gab es Sonnenblumenkern-Schnitzel vom Schweinerücken. Die zunächst vegane Anmutung bezog sich nur auf die Panade und hat nicht weiter gestört.

Mitschrift aus einer ansonsten in deutscher Sprache abgehaltenen Besprechung: „… damit wir on the same page sind … gehen wir straight forward … betrachten das out of the box … müssen zunächst den impact framen … Vielen Dank, challenge accepted.“ Manchmal glaube ich, die machen das nur, um mir Blognahrung zu geben.

Ansonsten war es wieder ein heißer Tag. Wie lange noch wird man Sonnenschein mit Wärme als „schönes Wetter“ bezeichnen?

Freitag: Gestern Abend gewitterte es, zunächst draußen leicht, später drinnen etwas heftiger. Dadurch war es heute nicht mehr so heiß, mittags fand ich es geradezu kühl, was bei meiner übersensibel eingestellten Gänsehautsteuerung aber nicht viel heißt. Auch die häusliche Stimmung war wieder entspannt; machmal hilft so ein Donnergrollen.

Aufgrund der angenehmen Temperatur lief ich abends eine Runde am Rhein entlang. Beziehungsweise an dem, was davon zur Zeit noch übrig ist.

Der Tag klang aus in der Weinbar des Vertrauens, wo gelacht wurde, als Frau Wirtin sich selbst als „Flaschenputtel“ bezeichnete.

Samstag: Ein Tag voller Annehmlichkeiten, Begegnungen und Getränke ohne nennenswerte Blogabilitäten. Und ein achter Jahrestag. Manchmal staunt man, wie schnell die Zeit vergeht und wie lange schon etwas funktioniert.

Sonntag: Morgens, als ich noch im Tuche lag, machte das Datengerät den Ton, den es immer macht, wenn sich der Status der Corona-Warn-App ändert. In diesem Fall von rot auf grün; die rote Meldung war, wenig verwunderlich, nach dem Besuch des Rolling-Stones-Konzert in der vergangenen Woche gekommen. Mittlerweile nehme ich diese Statusmeldungen, auch die bösen von grün auf rot, nur noch schulterzuckend zur Kenntnis, ehe es demnächst vielleicht wieder losgeht. (Der Ton ist übrigens derselbe, wie wenn mir bei Twitter jemand ein Herzchen schenken, jemand Neues folgen oder mich erwähnen würde. Aufgrund stark reduzierter Twitteraktivität und mangels Gefolge kommt das nicht mehr vor. Das ist nicht schlimm.)

„Man muss für sich herausfinden, was für einen gut ist“, hörte ich im Schankgarten einer Südstadt-Gaststätte, wo ich beim Sonntagsspaziergang kurz Einkehr hielt, jemanden sagen. Ein wahrer und wichtiger Satz; auf meiner persönlichen Liste des Gutseienden stehen Spaziergänge mit Einkehr ziemlich weit oben.

Ansonsten gesehen:

Kunst kommt von komisch
Eher zweifelhafter Humor in der Südstadt

Diese mittlerweile zahlreicher Städter Häupter bedeckenden Anglerhüte halte ich übrigens für einen modischen Irrtum.

Bin ich der einzige, der diese mit Fingern geformte Herzchengeste hochgradig dämlich findet?

***

Ich wünsche Ihnen eine angenehme neue Woche, kommen Sie gut durch das schöne Wetter.

Die Achtziger – Stürme der Jugend

Hier der zweite Teil meiner persönlichen Rückschau auf die Jahrzehnte. Nach den Siebzigern folgen die

Achtzigerjahre

Auch in den Achtzigern, vor allem der ersten Hälfte, galten wesentliche Teile meines Interesses der Eisenbahn. Die Bahnstrecke am Haus meiner Großeltern wurde bereits 1980 stillgelegt, wenig später die Gleise zwischen Göttingen und Dransfeld abgebaut. Aber es gab noch genug andere Strecken, nicht weit von meinem Elternhaus die Nebenbahn von Bielefeld nach Lemgo, der nun meine Aufmerksamkeit galt. Mein Freund U., genauso bahnverrückt, und ich lernten den Bundesbahner S. kennen, der im nahen Bahnhof Hillegossen als Fahrdienstleiter Dienst tat. Mit der Zeit freundeten wir uns mit ihm an, wir verbrachten oft ganze Nachmittage dort, duften in den Dienstraum, der dem niedrigen Bahnhofsgebäude vorgebaut war, was Bahnfremden normalerweise nicht gestattet war. Mehr als einmal erhielt S. deswegen einen Rüffel seines Chefs, wenn der aus Bielefeld zur regelmäßigen Dienstkontrolle erschien und wir nicht mehr rechtzeitig den Raum verlassen konnten.

Bahnhof Hillegossen, Blickrichtung Bielefeld

Wir durften sogar über die großen Hebel die Weichen und Signale bedienen, was für S. vermutlich ein Disziplinarverfahren nach sich gezogen hätte, wenn der Chef es mitbekommen hätte. Viel passieren konnte dabei nicht, durch uns wären wohl keine Züge entgleist oder zusammengestoßen, die alte Sicherungstechnik war sehr zu zuverlässig, außerdem achtete er darauf, dass wir alles richtig machten.

U. und ich bereisten viele Bahnstrecken, die von Bielefeld ausgehenden Nebenbahnen nach Lemgo, Osnabrück, Paderborn und Münster, aber auch Strecken weiter weg, vor allem wenn sie kurz vor der Stilllegung standen, einige auch am letzten Betriebstag vor der Betriebseinstellung; die Deutsche Bundesbahn legte in den Achtzigern sehr viele Strecken still. In den Sommerferien kauften wir uns ein Tramper-Monatsticket, mit dem man einen Monat lang innerhalb Deutschlands beliebig viel und weit mit der Bahn fahren konnte. Dabei bereisten wir so manche Strecke, die heute längst von der Karte verschwunden ist und deren Trasse allenfalls noch mit dem Fahrrad befahren werden kann.

Auch die Modelleisenbahn blieb eine meiner liebsten Beschäftigungen: In unserem Garten wuchs die L.G.B.-Bahn mit jedem Meter Gleis, den ich von meinem Taschengeld kaufen konnte, bis sie den Garten ganz umrundete, auch die Zahl der Loks und Wagen wuchs mit jedem Geburtstag und Weihnachten. Als mir mein Patenonkel zur Konfirmation den ersehnten Schienenbus schenkte, war alles andere um mich herum vergessen. Auf unserem Dachboden baute ich an einer großen HO-Bahn, die nach Fahrplan und Fahrdienstvorschrift der Bundesbahn fuhr, so wie wir es in Hillegossen gelernt hatten. Während des Bastelns lief im Radio auf WDR 2 die Sendung „Unterhaltung am Wochenende“, deren Höhepunkt stets die „Kleine Dachkammermusik“ von und mit Hermann Hoffmann war, der sämtliche Rollen – er selbst, seine Frau, Otto de Fries, Pankratius Schräuble, Herr Schlotterbeck und einige andere – sprach.

Schließlich wurde ich Mitglied im Verein Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth, der bei Gütersloh eine schmalspurige Museumseisenbahn mit richtigen Dampfloks betrieb (und heute noch betreibt). Dort verbrachte ich jahrelang die meisten Wochenenden, arbeitete mich hoch vom Schaffner bis zum Lokführer. Selten war ich mehr mit Stolz erfüllt als an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal eigenverantwortlich eine Dampflok fahren durfte, auch wenn die Dampfkleinbahn nicht viel mehr war als ein großer Schienenkreis um eine Gaststätte, vergleichbar meiner L.G.B.-Bahn, nur im Maßstab 1 : 1.

Der stolze Junglokführer auf seinem Stahlross

Bei aller Bahnbegeisterung entging mir nicht, dass es auch außerhalb des Schienenkreises Interessantes zu erleben und entdecken gab, zum Beispiel im körperlich-zwischenmenschlichen Sektor. So brach langsam die Stimme um eine Oktave nach unten, wie bei den anderen Jungs auch, außer dem bedauernswerten J., der bis zum Abitur kindlich piepste.

Zudem begannen an diversen Stellen Haare zu wachsen, zunächst nur spärlich und im Vergleich zu manchem Mitschüler spät, wie eigene Recherchen in Form diskreter Seitenblicke in der Umkleide vor und nach dem Sport und Schwimmunterricht ergaben. Ich hasste den Schulsport mit zunehmendem Alter immer mehr, vor allem Mannschaftssportarten, insbesondere dann, wenn zur Unterscheidung meine Mannschaft mit freiem Oberkörper spielte. Wiesen andere Jungs bereits beachtliche Muskeln und breite Schultern auf, blieb bei mir zunächst alles schmal und mager. Im zwölften Schuljahr lag die Sportstunde gar im Nachmittag, das hieß, nur für Volley- oder Basketball musste ich nachmittags nochmal los. Absurderweise konnte man – im Gegensatz zu Mathe, Deutsch und Englisch – Sport erst nach dem ersten Halbjahr des dreizehnten Schuljahres abwählen. Zu meiner letzten Sportstunde brachte ich Sekt mit und überreichte dem Sportlehrer, der eigentlich ganz in Ordnung war, einen selbstgeschriebenen Antisporttext:

(Entstanden 1986)

Als ich an dem Tag die Sporthalle verließ, schwor ich mir, nie wieder freiwillig eine zu betreten. (Erst Ende der Neunziger begann ich wieder freiwillig mit Sport, Laufen. Ohne Bälle und Sieg, dafür im Sommer manchmal mit freiem Oberkörper.)

Auch in meinem Gesicht wuchsen zunehmend Haare, die irgendwann so zottig abstanden, dass regelmäßige Rasuren unvermeidbar wurden. Nur den Flaum über der Oberlippe verschonte ich aus unerfindlichen Gründen lange Zeit. Wenn schon keine Bizeps, dann wenigstens einen Bart.

Erstmals entwickelte ich so etwas wie Eitelkeit, jedenfalls meine Frisur betreffend. Bis ungefähr sechzehn war sie mir egal, ich ließ es wachsen, und wenn ich mal zum Friseur ging, sagte ich „nicht so kurz“. So ging es nicht weiter: Ich ließ die Haare kürzer schneiden und versuchte, sie in eine Form zu bringen, wie ich es bei anderen bewunderte, leider zumeist ohne Erfolg, da sie aufgrund einer natürlichen Welle einen schwer zu brechenden eigenen Willen aufwiesen. Auch diverse Produkte wie Gel und Brisk führten nur selten zum gewünschten Ergebnis. Erste sehr viel später wuchs sich dieses Problem aus.

Vorher
Nachher

Ein weiteres körperliches Dauerhadern galt meinen Füßen, die aufgrund familiärer Vererbung sehr krumm und hässlich geraten waren, daher zeigte ich sie höchst ungern öffentlich, etwa in Schwimmbädern. Dass mein Bruder und die meisten Cousins und Cousinen ähnlich ausgestattet waren, tröstete mich nicht, wenn ich auf die makellosen Laufwerke meiner Mitschüler schaute. Zudem rochen sie sehr streng, was wohl daran lag, dass auch in den Achtzigern das tägliche Brausebad in unserem Haushalt noch unüblich war.

Weitere Möglichkeiten, die der eigene Körper bietet, kannte ich zunächst nur aus den begeisterten Berichten von Mitschüler F., mit dem ich kurz zuvor noch Fallgruben im Sandkasten gegraben hatte, und es dauerte noch etwas, bis auch ich selbst verstand, was er meinte. Er hatte nicht zu viel versprochen. Den erhöhten Verbrauch an Papiertaschentüchern versuchte ich so gut es ging vor den Eltern zu verbergen, ich weiß nicht, inwieweit es gelang.

Ab und zu kam es zu gegenseitigen Fummeleien mit anderen Jungs, was laut den Lebensberatungsseiten diverser Zeitschriften (Oma las die Freizeit-, Papa die Neue Revue; zur BRAVO hatte ich nur selten Zugang) in dem Alter ganz normal war und nichts zu bedeuten hatte bezüglich eventueller Präferenzen.

Auch das Verhältnis zum anderen Geschlecht hatte sich seit der Grundschulzeit gewandelt. Mehrere Jungs (einschließlich F.) hatten auf einmal eine Freundin, und auf den Feten tanzten sie mit den Mädchen, wenige Jahre zuvor noch gleichsam andere Wesen, Klammerblues zu El Lute von Boney M. Auch in mir erwachte gewisses Interesse, vielleicht nur halbherzig, mindestens die andere Hälfte schlug immer noch für die Bahn, und das war nicht gerade etwas, womit man zarte Bande knüpfen konnte, nahm ich an. Außerdem, welches Mädchen wollte schon mit so einem mageren Hänfling wie mir etwas anfangen. Es gab durchaus ein paar Mädchen, derer näherer Bekanntschaft ich nicht abgeneigt gewesen wäre – A., die Tochter des Pfarrers unserer Gemeinde, später S. von meiner Schule und ein paar andere, auch wenn ich im Ernstfall nicht gewusst hätte, wie ich Bahn und Beziehung hätte vereinbaren können.

Daher trank ich auf den Feten lieber Alkohol, und das nicht zu knapp. Ab der Oberstufe feierte an fast jedem Wochenende irgendwer, ein wesentlicher Inhalt dieser Feten war es, möglichst viel Bier, Apfelkorn und andere fruchthaltige Spirituosen aus dem Hause Berentzen zu verzehren. Oder wir trafen uns zu viert bei R., der schon eine eigene Wohnung im Haus seiner Eltern hatte, wo wir uns mit Fünfliter-Partyfässern und Sekt die Zeit vertrieben. Mehr als einmal konnte ich mich am nächsten Tag nicht mehr an alle Details erinnern, vor allem wie ich nach Hause gekommen bin, während ich mich im Halbstundentakt bis in den Nachmittag hinein erbrach. „Geysirtag“ nannte ich diese Tage, an denen ich mir fest vornahm, künftig weniger zu trinken. Bis zum nächsten Wochenende. Gerne waren wir auch zu Gast beim Griechen kurz vor Oldentrup, wo wir fast in die Familie integriert waren und wo es selten bei nur einem Bier und einem Ouzo blieb.

Mit siebzehn begann ich mit dem Rauchen. Allerdings nicht Zigaretten, sondern Zigarillos. Das erschien mir zum einen etwas extravaganter, zum anderen glaubte ich, da man sie nicht inhalierte, wären sie weniger gesundheitsschädlich. (Erst mit vierzig stieg ich auf Zigaretten um, dazu kommen wir in den Zweitausendern.) In den Achtzigern war es selbstverständlich, auch in Gaststätten und Restaurants zu rauchen, wobei meine Zigarillos die Luft erheblich verpesteten.

Ein eher dunkles Kapitel war die Tanzschule, zu der ich von meinen Eltern gedrängt wurde, weil fast alle Freunde auch dorthin gingen. Jeden Samstag. Ich hasste es aus tiefstem Herzen, hatte weder Lust, ein Mädchen zum Tanzen auffordern, noch konnte und wollte ich die zu erlernenden Tanzschritte und Bewegungsabfolgen verinnerlichen. Das muss ziemlich komisch ausgesehen haben. Nach dem Grundkurs war damit Schluss für mich, die Freunde machten noch weiter. Am Abend des Abschlussballs beschloss ich, nie wieder eine Tanzschule zu betreten, wenige Wochen später trat ich dem Dampfkleinbahnverein bei, der mich fortan samstags gut beschäftigte.

Und dann war da noch dieser gewisse Punkt, der immer wieder aufleuchtete, anfangs nur schwach. Etwas heller strahlte er, wenn ich in der Schule P. sah, zwei Jahrgangsstufen unter mir, von dem etwas ausging, das mich in seltsamer Weise faszinierte und nicht sein konnte, nicht sein durfte. Auch nachmittags nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien ging er mir nicht aus dem Kopf. Was mochte er jetzt gerade tun? Hatte er eine Freundin? Welch unschöner Gedanke. Ich erhöhte meine Aktivität bei der Dampfkleinbahn.

Erst Jahre später, 1989, kam ich zu der Erkenntnis, dass meine Beziehung zum anderen Geschlecht allenfalls auf freundschaftlicher Basis fußen konnte, was weder Eltern noch Kollegen erfahren durften, am wenigsten mein Vater. Und noch viel später hatte ich zum ersten Mal einen Freund, das erzähle ich Ihnen in den Neunzigern.

Ich begann, regelmäßig Tagebuch zu schreiben, bis heute. Zur Vermeidung unerwünschter Mitleser brachte ich mir selbst die deutsche Schreib- oder Sütterlinschrift bei, mit Hilfe des Mathebuchs. Es gab dort im Kapitel Vektorrechnung eine Gegenüberstellung aller Buchstaben in deutscher und arabischer Schreibweise, weil Vektoren mit deutschen Buchstaben bezeichnet werden. Schon damals hatte ich keine Ahnung, wozu man Vektorrechnung braucht, aber das galt ja für das meiste, was man auf dem Gymnasium lernen musste.

Neben dem Tagebuch schrieb ich auch andere kürzere Texte, siehe oben den Sporttext, inspiriert durch die Lektüre von Ephraim Kishon. Zunächst schrieb ich sie mit der Hand vor, dann tippte ich sie mit der Schreibmaschine ab. Da es noch kein Internet und Blog gab, machte ich damit nichts weiter und gab die Schreiberei bald wieder für längere Zeit auf.

Auch in modischer Hinsicht vollzog ich Mitte der Achtziger einen Wandel: Statt Jeans nur noch Baumwollhosen mit Bundfalte, bevorzugt in schwarz oder grau, dazu überwiegend schwarze Jacken und weiße Turnschuhe. Später wurde die Oberbekleidung zeittypisch bunter: Die Fernsehserie „Miami Vice“ inspirierte uns, nun Jacket mit Schulterpolstern zu tragen, gerne auch in bunt kariert. Erst viel später kaufte ich mir erstmals wieder Jeans.

Mit siebzehn begann ich, das Führen eines Kraftfahrzeuges zu erlernen. Dabei legte ich kein großes Geschick an den Tag, auf dem Fahrersitz fühlte ich mich nicht besonders wohl, woran sich bis heute nicht viel geändert hat. Die Nachricht vom Tod meines ersten Fahrlehrers kam überraschend, wobei ich jeden mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Fahrstunde, die wenige Stunden vor seinem Ableben stattgefunden hatte, ausschließe. Immerhin bestand ich die Führerscheinprüfung auf Anhieb, konnte mich jedoch nicht erinnern, jemals zuvor derart nervös gewesen zu sein wie am Tag der praktischen Prüfung. Und derart erleichtert, als mir der freundliche Herr vom TÜV den grauen Führerschein aushändigte, damals zurecht als „Lappen“ bezeichnet.

Führerscheinfoto

Die erste Praxis erfuhr ich mit dem Auto meiner Eltern, einem roten VW-Derby, der mit seinen sechzig PS ganz gut beschleunigte. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn alleine ohne väter- oder brüderliche Begleitung fahren durfte, von da an fuhr ich ihn sogar recht gerne. Ich mochte den Wagen sehr und es tat mir leid, als wir uns Jahre später trennten, weil er erheblich in die Jahre gekommen war und sein Motor nur noch widerwillig ansprang.

Mein roter Blitz

Nach dem Abitur, das ich ohne größere Anstrengung einigermaßen hinbekam, fiel ich in ein soziales Loch: Die Wege trennten sich, viele meiner Mitschüler und Freunde gingen zur Bundeswehr (die mir aufgrund glücklicher Umstände erspart blieb), machten Zivildienst oder verließen Bielefeld zum Studium oder zur Berufsausbildung. Und ich sah P. nicht mehr täglich, schlimmer: gar nicht mehr. Ab und zu, immer seltener gab noch mal einer eine Fete, wo man sich sah, aber das war nicht mehr dasselbe wie früher, weil die meisten über ihre Bundeswehrerlebnisse berichteten.

Im September nach dem Abitur begann ich die Ausbildung bei der Post. Mein Berufswunsch aufgrund eines schon frühen Sicherheitsbestrebens war Beamter, daher hatte ich mich zuvor bei mehreren Behörden beworben. Mein Wunsch-Arbeitgeber, die Bundesbahn, war leider nicht an einer Zusammenarbeit interessiert, daher freute ich mich sehr über die Zusage des anderen Staatsunternehmens, wenn auch zunächst nur in der mittleren Beamtenlaufbahn, durch mein Abitur hätte ich eigentlich Zugang zum gehobenen Dienst gehabt. Aber egal – ich fühlte mich bei der Post gut aufgehoben und identifizierte mich sehr mit dem Unternehmen: Die Dienstkleidung mit dem gelben Horn auf dem Ärmel trug ich gerne, und wenn ich irgendwo im kleinsten Dorf das gelbe, rot umrandete Behördenschild mit dem Bundesadler und dem Wort POST darunter sah, erfüllte es mich mit gewissem Stolz. Daran änderte sich nach bestandener Laufbahnprüfung nichts, trotz recht kargem Gehalt blieb ich Postler mit Leib und Seele.

Nicht nur in meiner kleinen, auch in der großen Welt fanden die Achtziger statt:

Helmut Kohl wurde Bundeskanzler und blieb es für sehr lange Zeit. So bestimmte er nicht nur die Richtlinien der Politik, sondern nahm im Laufe der Jahre an Körpervolumen erheblich zu, was ihm den despektierlichen Beinamen „Birne“ einbrachte. Auch sonst versorgte er viele Kabarettisten zuverlässig mit Material für ihre Bühnenprogramme.

Ende April 1986 explodierte in Tschernobyl ein Atomreaktor. Mit Wind und Wolken erreichte die Katastrophe bald auch uns: Vor dem Verzehr von Wild und Pilzen wurde abgeraten, und sobald ein paar Regentropfen fielen, suchten wir schnell einen Unterstand als Schutz vor der Gefahr, die wir weder sehen noch riechen konnten.

Atomare Gefahr drohte auch in Form von Raketen und Bomben, mit denen sich USA und UdSSR gegenseitig ihre militärische Stärke versicherten, die allgemeine Angst vor dem alles auslöschenden Atomkrieg wuchs. Zur gleichen Zeit starben durch sauren Regen aufgrund zunehmender Umweltverschmutzung immer mehr Bäume, das Wort „Waldsterben“ wurde zu einem der großen Themen der Zeit. Hieraus entstand eine breite Friedens- und Umweltbewegung mit zum Teil skurrilen Erscheinungsformen. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis kleideten sich Männer plötzlich in farbigen Latzhosen und ließen sich Haare und Bärte lang wachsen. Und die Partei „Die Grünen“ zog in den Bundestag ein.

Kurz vor Ende der Achtziger lösten sich die DDR und der Ostblock auf, im November 1989 fiel die Berliner Mauer und kurz darauf die innerdeutsche Grenze. Noch heute bekomme ich feuchte Augen, wenn ich die Fernsehbilder vom Abend der Maueröffnung sehe, die unfassbare Freude in den Gesichtern der Menschen, die von einem Tag auf den anderen frei waren und reisen durften, wann und wohin sie wollten. Dass diese Wende nicht nur die von Helmut Kohl in Aussicht gestellten „blühenden Landschaften“, sondern auch zahlreiche Verlierer vor allem im Osten mit sich brachte, wurde erst später deutlich.

Ein Rückblick auf die Achtziger erfordert zwingend eine Betrachtung der damaligen Musik, von der Neuen Deutschen Welle bis Modern Talking. Zahlreiche Musikkassetten wurden gefüllt während verschiedener Hitparaden im Radio, immer mit der Hand am Aufnahmeknopf des Kassettenrekorders, bis der blöde Moderator ins Lied reinquatschte. Hier eine unvollständige Aufzählung der für mich bedeutendsten Interpreten, deren Musik ich heute noch gerne höre: Electric Light Orchestra, Pet Shop Boys, Nik Kershaw, Tears For Fears, Wham, Madonna, Duran Duran, A-ha, Traveling Wilburys.

Weiterhin ein kurzer Rückblick auf das Fernsehprogramm: Neben dem schon erwähnten Miami Vice schauten wir Dallas, Falcon Crest, Denver Clan, Der Fahnder (meine erste Begegnung mit Altoids-Pfefferminzbonbons), Alf, und Formel Eins, wo erstmals Musikvideos zu sehen waren.

Zum Schluss sei noch ein Gegenstand besungen, der wohl wie kaum etwas anderes als Symbol für die Achtziger steht: Rubiks Cube, der Zauberwürfel. Jeder musste ihn haben, deshalb war das Original bald ausverkauft. Für manchen war er eher ein Zauderwürfel, weil er ohne Anleitung kaum zu ordnen war, ohne ihn zu zerlegen und nach Farben wieder zusammenzusetzen. Nachdem der SPIEGEL eine Anleitung veröffentlicht hatte, konnte auch ich ihn lösen, bald auch ohne Anleitung. Ob ich das heute auch noch kann, muss ich mal ausprobieren, er liegt noch hinter mir im Regal.

Woche 16: Konjektaneen aus dem Thesengenerator

Montag: Laut Zeitungsbericht wird Sankt Martin in Nordrhein-Westfalen nun als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Warum ausgerechnet in NRW, geht aus dem Artikel nicht hervor. Weiterhin wurden anerkannt: das Brieftaubenwesen, die Haubergswirtschaft (was auch immer das ist), der Köln-Düsseldorf-Konflikt, die Bolzplatz-„Kultur“ sowie das Knüpfen von Flechthecken. (Eines davon habe ich mir ausgedacht, Sie dürfen gerne raten, was. Tipp: Die Flechthecken sind es nicht.)

Dienstag: Am Morgen in der Bahn sah ich einen etwa zehnjährigen Jungen, der, anstatt sich mit seinem Telefon zu beschäftigen, einen klassischen, analogen Zauberwürfel zu ordnen suchte. Mir ging das Herz auf, und mein Hirnradio spielte Don’t you forget about me.

Mittwoch: Sensation: Eine Zeitungsannonce verkündet die Eröffnung(!) eines neuen Teppichhaus in Bonn.

Das neueste Tröpflein im konzerninternen Floskelgewölk scheint „agil“ zu sein, das nächste große Digitalding „Blockchain“. Nach allem, was ich bisher darüber gelesen habe, weiß ich nur, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, was das ist und kann und wozu es gut ist. Der Junge mit dem Zauberwürfel von gestern könnte es mir bestimmt erklären.

Donnerstag: „Geduld ist auch eine Art von Energie“, stand neulich irgendwo. So gesehen war der Energieaufwand für die von Verzögerungen im Betriebsablauf arg gebeutelte Bahnfahrt im RE 1 von Dortmund nach Köln immens, während derer ich aus dem Fenster schaute und nämliches zusammenhangloses Wortgemisch in mein Notizbuch schrieb: alte Industriehalle, warm, Böschung, Kontrolle, grün, Hochspannungsmast, Dortmund-Marten Süd, blühende Zierkirsche, Graffiti, Regenrückhaltebecken, Sendemast, Beton, stillgelegte Bahntrasse, Forsythien, Fabrikschornstein, langsam, Öltanks, Kleingärten, Reklame, Stellwerk, Bochum-Langendreer, Silo, Gartencenter, hässliches Haus, Sonnenkollektoren, heruntergekommen, Siedlung, schneller, Felder, Autobahn, Sonnenschirm, Hochhaus, Mülltonnen, Brücke, Fachwerk, Gestrüpp, wilder Müll, Bochum Hbf, Gleisbauzug, „Mäckes“, Musical, hackenfrei, warten, Apotheke, kurze Hosen, weiter, abellio, Hotspot, Parkhaus, Kastanie, Kirchturm, trostlos, Container, Diesellok der Baureihe 261 (V 60) in ozeanblau-beige, Tennisplätze, Durst, Stahl, Wattenscheid, Birken, Baumarkt, Kopfhörer, Baracken, Fitnesscenter, Lärmschutzwand, Halde, Siedlung, Friedhof, Tankstelle, Umspannwerk, Essen, Beine, Haare, persönliche Gegenstände, Aldi, Neubau, Altbauten, Straßenbahn, Müllcontainer, Andrang, Kinderwagen, voll, Krawatte, warten, Raucherbereich, weiter, Postamt, Kran, Lagerhaus, Mauer, Gasometer, Moschee, Wald, Teich, blauer Himmel, Mülheim an der Ruhr, Mietfahrräder, Pferdeschwanz, Schrotthändler, Mannesmann, Styrum, Windrad, Kanal, Bunker, Duisburg, Balkone, Satellitenschüssel, Eurobahn, Garagen, Martini, Fernsehturm, Pfeifen, Strohhut, wech, Güterhallen (verfallen), Loveparade, Straßenbahndepot, Kühltürme, Sonne, Vollbremsung, Kreuzung, Ziegenpeter, Torwand, Paletten, Spedition, Paketzusteller, Allee, Rapsfeld, Misteln, Pferde, Strohballen, Traktor, Kopfsteinpflaster, Flughafen, Skytrain, Stacheldraht, Tunnel, dunkel, Aufzug, Rollkoffer, Anzugträger, Sommerflieder (vertrocknete Blüten), jabbelndes Kind, warten, Durchsage (keine), Überholung durch ICE, Düsseldorf, Verspätung, Löwensenf, nun plärrendes Kind,  Fußballplatz, Park, Gärten, Plastikmüll, Benrath, Autohaus, Tannenschonung, Bauernhof, Trinkhalle, See, Leverkusen, Tristesse, Packstation, Drahtfabrik, Köln-Mülheim (hach), Monobloc-Stühle, Dixiklo, Deutz, Messehallen, Rhein, Liebesschlösser.

Freitag: „Mit Fremden unterhält man sich nur, wenn es absolut nicht zu vermeiden ist oder wenn man betrunken ist“, so schrieb Max Goldt in seinem Buch „Die Chefin verzichtet“. Ebenfalls bei Max Goldt las ich folgenden Satz, den er einem gewissen Dieter Steinmann zuschreibt: „Sich unerwünschter Gespräche einigermaßen anstrengungslos verweigern zu lernen, das sollte Schulfach sein.“ Wie richtig beide Aussagen sind, zeigte sich am Abend gegen Ende unseres Restaurantbesuchs anlässlich des Liebsten Geburtstages. Während sich die Wirtin beim Servieren des Desserts uns gegenüber positiv-neutral über die nebenan untergebrachten Flüchtlinge äußerte, glaubte die Dame vom Nebentisch, Teil eines Ehepaares im Pensionsalter aus Bad Godesberg, sich einmischen zu müssen mit Konjektaneen aus dem AfD-Thesengenerator. Kostproben: „Die sollen erstmal unser Grundgesetz lesen.“ – „Wenn das so weitergeht, herrscht bei uns bald die Scharia.“ – „Haben Sie Unterwerfung von Houellebecq gelesen? So wird es hier bald sein, wenn wir nicht aufpassen!“ Es liegt mir fern, anderen Menschen ihre Meinung abzusprechen, und wenn sie noch so abweichend ist. Das verpflichtet mich jedoch nicht, mit ihnen zu diskutieren, schon gar nicht nach vorzüglichem Mahl. Zum Glück kam bald das Taxi, das die beiden in ihre Villa brachte, wo sie vielleicht Steuern hinterziehen.

Samstag: „Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“, so der Titel eines Films in den Siebzigern oder Achtzigern, so genau weiß ich das nicht mehr, die Zeit vergeht ja so schnell. Man hört ein Lied im Radio, denkt sich, kuck an, oder: hör nur, bestimmt auch schon zwanzig Jahre alt, dann, weil man gerade nichts besseres zu tun hat, vielleicht sind die Kinder schon aus dem Haus oder man verzichtete ganz auf Nachzucht, recherchiert man ein wenig und stellt fest, der Song lief schon vor über dreißig Jahren. Man denkt darüber nach, was vor dreißig Jahren sonst noch war: In wen war man verliebt, mit wem zog man durch die Kneipen, was war gut, was schlecht, welche Weichen stellte man richtig, welche falsch, das Leben glich weichentechnisch ja eher noch dem Gleisvorfeld des Kölner Hauptbahnhofs (wohingegen es heute eher einer eingleisige Strecke in Richtung Sonnenuntergang ähnelt); oder einer Backmischung, bei der man die eine Zutat weglässt, dafür die andere hinzufügt, weil man zum Beispiel Kokosflocken verschmäht, dafür Rosinen liebt. Man überlegt, was damals sonst los war in der großen Welt, sofern man sich in jungen Jahren schon dafür interessierte. Wobei ich glaube: Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Offenbar hatte ich bei der Zuteilung meiner ziemlich großes Glück. Heute morgen um sieben war sie jedenfalls in Ordnung. Um elf aber auch noch.

Sonntag: Meine Abneigung gegen den übermäßigen Gebrauch des Wörtchens „okay“ brachte ich schon zum Ausdruck. Während ich es in der klassischen Verwendung als Bestätigungs- und Verstänsnislaut durch Businesskasper und Angehörige der „Generation Genau“ kaum noch wahrnehme, vielleicht ist es inzwischen auch zu einer Gewöhnungslapalie verkümmert, lese und höre ich es immer häufiger in der attributiven Verwendung, zum Beispiel „Ich hatte einen ganz okayen Tag“. Obzwar der aktuelle Duden meint, das sei okay, finde ich es nach wie vor recht unschön.

KW16 - 1

Antrag auf Einführung eines neuen geflügelten Wortes

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Gibt es eigentlich dieses Pokémon noch, oder hat es schon der Aufforderung „Go“ Folge geleistet? Zugegeben: Als es vor einigen Monaten aufkam und junge Menschen dazu zwang, nahezu orientierungslos massenhaft über Friedhöfe, Autobahnauffahrten und durch Vorgärten zu irren, befand ich mich in vorderster Front der darüber lästernden, stimmte sogleich ein im Chor derjenigen, die das Einfangen virtueller Monster als sinnlose Zeitverschwendung zu verdammen nicht müde wurden.

Doch bedenke, mahnte mich die innere Stimme, womit du selbst vor etwa fünfunddreißig Jahren wertvolle Stunden vergeudetest! Vielleicht wäre aus dir ein angesehener Investmentbanker oder bedeutender Waffenlobbyist geworden, hättest du stattdessen deine Nase in die Seiten deiner Schulbücher gehalten! Wir erinnern uns: Um 1980 dachte sich der ungarische Ingenieur Ernö Rubik einen etwa handgroßen Würfel mit verschiedenfarbigen Seiten aus, der aus 26 in allen Richtungen gegeneinander verschiebbaren Einzelelementen bestand. Hiermit wollte er meiner Erinnerung nach Studenten irgendwelche geometrischen Zusammenhänge veranschaulichen, wer es genauer wissen will, kann es ja nachwikipedieren.

Schon sehr bald erkannte jemand den immensen Unterhaltungswert dieses an sich zwecklosen Gegenstandes als Geduldsspiel, es kam zur Massenproduktion unter der Bezeichnung „Rubiks Cube“ oder „Zauberwürfel“, plötzlich musste jeder so ein Ding haben, und trotz des recht hohen Verkaufspreises von etwa zwanzig Mark waren sie zeitweise ausverkauft, so wie heute das neue iPhone.

An das iPhone dachte Anfang der Achtziger freilich noch niemand, und niemand litt unter dem Ringxiety-Effekt, jenem trügerischen Gefühl, das Mobiltelefon habe vibriert, obwohl man es gar nicht dabei hat. Um zu kommunizieren, musste man sich entweder treffen oder die mannigfache Produktpalette der Deutschen Bundespost in Anspruch nehmen: Man telefonierte entweder von einer der noch zahlreichen postgelben Telefonzellen aus oder, sofern vorhanden, vom heimischen Hausanschluss, wo ein grauer Apparat mit Wählscheibe ungefähr von der Größe eines Graubrotes das Bindeglied zur Außenwelt darstellte. Der klingelte auch noch richtig, mit einer metallenen Schelle in seinem Inneren. Heutige Telefone machen alle möglichen Töne, von Grillenzirpen über Bremsenquietschen bis Helene Fischer, trotzdem heißt es in Ermangelung eines neuen, passenden Wortes noch immer klingeln. Zwar gab es schon so etwas wie Mobiltelefonie, das konnte sich jedoch niemand leisten. Und das Internet gab es noch nicht mal als Wort.

Wollte man nicht sprechen, schrieb man sich Briefe oder Postkarten – musste es schneller gehen, Telegramme. Die füllte man im Postamt aus, einige Stunden später wurde dem Empfänger die schriftliche Nachricht per Eilbote zugestellt, auf Wunsch und gegen Aufpreis auch mit musizierendem Schmuckblatt. Das Telefax fand erst später weitere Verbreitung.

Wer es ausgefallener mochte, frönte dem etwas skurilen Hobby Amateurfunk. Mit Hilfe eines riesigen Antennengestrüpps auf dem Hausdach konnte sich der Amateurfunker von seiner Dachkammer aus mit Hobbykollegen aus aller Welt über das Wetter unterhalten.

Doch zurück zum Zauberwürfel. Einen durchmischten Würfel wieder auf einfarbige Seitenflächen zu drehen, war ohne Anleitung nahezu unmöglich. Eine solche druckte der SPIEGEL in einem seiner Hefte ab, welche per Fotokopie bald flächendeckend zur Verfügung stand. Ich benötigte zwei Tage und stieß zahlreiche Flüche aus, ehe ich es endlich hinbekam. Doch durch stetige Übung hatte ich die Handgriffe bald drauf, schon nach einer Woche benötigte ich die Anleitung nicht mehr, konnte den Würfel fast blind ordnen. Es kam zu Wettkämpfen, wer konnte es am schnellsten. Zu meinen besten Zeiten schaffte ich es in unter drei Minuten.

Leider waren die Würfel für einen derartigen Dauerbetrieb nicht ausgelegt – durch die sich aneinanderreibenden Kunstoffflächen leierten sie bald aus und hakten, was der Geschwindigkeit abträglich war. Vielleicht war das aber auch Teil des Geschäftsmodells, denn was blieb einem anderes übrig, als sich einen neuen Würfel zu kaufen, wollte man weiterhin durch seine Fingerfertigkeit hervorstechen? Die Profis schmierten daher Fett oder Graphitpulver zwischen die beweglichen Innenflächen, danach knarzte der Würfel aber nicht mehr so schön beim Drehen.

Kürzlich fiel mir mein alter Zauberwürfel nach Jahren staubfangenden Regalliegens wieder in die Hände. Sollte ich es mal versuchen? Ich sollte und drehte ihn, ausgeleiert und abgegriffen, erstmal gründlich durcheinander. Dann begann ich, so wie ich es einst gelernt hatte: erst die obere Ebene, dann die mittlere, schließlich die untere, und siehe da, es klappte noch auf Anhieb, sogar die berüchtigten zweiundzwanzig Züge zur korrekten Positionierung eines Ecksteines in der dritten Ebene. Daher beantrage ich hiermit die Einführung eines neuen geflügelten Wortes: „Das ist wie Zauberwürfel, verlernste nie.“

Inzwischen ist Rubiks Zauberwürfel zu einem beliebten Symbol der Achtzigerjahre geworden. Als eher ängstlich-vorsichtiger Mensch gehe ich ungern Wagnisse ein. Gleichwohl wage ich zu bezweifeln, dass Pokémon Go zum Sinnbild der Zwanzigzehner oder in fünfunddreißig Jahren noch bekannt sein wird. Man wird seine Zeit dann wohl anderweitig verschwenden.