Selbstverständlich

Letzte Woche wurden drei Bankkunden zu Geldstrafen verurteilt, weil sie einem bewusstlos im Vorraum der Bank liegenden Rentner nicht geholfen hatten, sondern ihn ignorierten, scheinbar gleichgültig ihr Geld aus dem Automaten zogen und wieder verschwanden. Erst ein weiterer Kunde hatte nach Hilfe gerufen – zu spät, der Rentner starb wenig später.

„Richtig so, was sind das nur für Menschen“, so in etwa die allgemeine Empörung über den Vorfall, man beklagt die zunehmende Verrohung der Gesellschaft, und so weiter. Selbstverständlich hätte jeder andere dem Rentner geholfen, schließlich hat doch heute jeder ein Telefon in der Tasche. Wie kann man nur so herzlos und egoistisch sein.

Wirklich selbstverständlich?

Einige der Beklagten gaben an, sie hätten den Rentner für einen Obdachlosen gehalten, der im Bankvorraum seinen Rausch ausschläft. Das ist natürlich ein schwaches Argument. Hat ein Mensch weniger Anspruch auf Hilfe, weil er obdachlos ist? Und doch: Wie oft habe ich schon beim Geldziehen Obdachlose im Automatenraum angetroffen, gerade im Winter. Oft schlafen sie, in einem fleckigen, abgerissenen Schlafsack, daneben ihre Habseligkeiten in Discounter-Plastiktüten. Habe ich mich jemals nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, auch nur darüber nachgedacht, ob sie vielleicht akut Hilfe benötigten? Ich gebe zu: nein. Vielmehr war ich froh, wenn sie schliefen und mich nicht stattdessen um etwas Kleingeld anhielten.

Nun soll der Rentner schon äußerlich nicht dem Erscheinungsbild eines Obdachlosen entsprochen haben: saubere Kleidung, keine Plastiktüten, kein strenger Geruch; zudem lag er nicht zurückgezogen in einer Ecke des Raumes, sondern direkt vor dem Geldautomaten, so dass die Kaltherzigen, wie auch die Bilder der Überwachungskamera zeigen, über ihn hinweg steigen mussten, um ihre Geschäfte zu erledigen.

Vielleicht war es dieses diffuse Warum-ich-Gefühl: Womöglich hat der Mann ja eine ansteckende Krankheit. Oder: Wie war das nochmal mit der stabilen Seitenlage? Der Erste-Hilfe-Kurs liegt schon so lange zurück, wie schnell macht man was verkehrt. Außerdem kommt bestimmt gleich einer, der genau weiß, was zu tun ist. Und ich muss ja auch noch meinen Bus erreichen.

Hätte ich geholfen? Ja bestimmt. Wahrscheinlich. Vielleicht. Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht.

Letzten Samstag hatte ich eine Stunde Aufenthalt auf dem Karlsruher Hauptbahnhof. Da es mich nach einer Zigarette gelüstete, ging ich den Bahnsteig ab bis zum Raucherbereich am Ende. Während des Rauchens entdeckte ich eine einsame große Tasche neben einer Sitzbank, kein Mensch weit und breit. Jeder weiß: Sowas muss man in Zeiten erhöhter Terrorgefahr melden. – Ich hatte bereits über fünf Stunden Bahn- und Busfahrt hinter und noch zweieinhalb vor mir. Wenn ich jetzt diese – wahrscheinlich harmlose – Tasche meldete, wurde vielleicht der Bahnhof auf unabsehbare Zeit geräumt, kein Zug würde mehr abgehen, ich käme Stunden später nach Hause, wenn überhaupt noch an diesem Tag. Außerdem: Warum sollte ein Attentäter seine Bombe ausgerechnet ganz am Ende des Bahnsteigs platzieren, wo sie vielleicht Sachschäden anrichtet, aber nur wenige Menschen trifft, wenn überhaupt welche?

Ich meldete die Tasche nicht, stattdessen zog ich mich nach der Zigarette in die Bahnsteigmitte zurück für den Fall, dass das Ding doch hochging, und freute mich, als mein Zug pünktlich abfuhr. Offenbar lag ich mit meiner Annahme über die Harmlosigkeit der Tasche richtig, jedenfalls habe ich später nichts von einem Bombenalarm in Karlsruhe gehört.

Und doch weiß ich: Es war grundfalsch, feige und höchst egoistisch von mir, die Tasche nicht zu melden. Dafür schäme ich mich.

Woche 38: Schokoladenpudding, Atomwaffen und Penisbilder

Montag: Hardcore-Wineporn

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Dienstag: Wie die Zeitung berichtet, sind in Eisenhüttenstadt mehrere Flüchtlinge aus einer Erstaufnahmeeinrichtung spurlos verschwunden. Zuletzt sollen sie dabei beobachtet worden sein, wie sie in Autos mit Bielefelder Kennzeichen stiegen. Somit stellt sich die Frage, ob die sogenannte Bielefeld-Verschwörung vielleicht doch mehr ist als ein mittlerweile reichlich abgenutzter Internetwitz.

Mittwoch: Aus gegebenem Anlass bitte ich um Verständnis dafür, dass ich Umzugshilfeersuchen grundsätzlich unbeantwortet lasse. Grund dafür ist ein unschöner Vorfall, der schon einige Jahre zurückliegt. Damals konnte und wollte ich bei einer gleichlautenden Anfrage nicht nein sagen. Beim Heruntertragen eines Kühlschranks in den Keller passierte es dann: Mein Rücken gab ein gut hörbares Knacken von sich, danach litt ich wochenlang. Daher mein guter Rat an alle Umzügler: Es gibt hierfür Unternehmen mit gut qualifizierten Mitarbeitern, deren Lohn leider oft im umgekehrten Verhältnis steht zu der Hochachtung, die ihre schwere Arbeit verdient. Ja, die kosten Geld. Aber tut euch und euren Freunden den Gefallen, fahrt notfalls einmal weniger in den Urlaub.

Donnerstag: Neuer Rekord bei multipler Niesattacke: Einundzwanzig, nach Verzehr von Schokoladenpudding.

Freitag: Der Vatikanstaat hat den Anti-Atomwaffenvertrag unterschrieben. Dem Himmel sei Dank, eine Sorge weniger um diese Welt.

Samstag: Die Schweden nennen die Aufregung kurz vor Beginn einer Reise „Resfeber“. Kenne ich gut. Bei mir setzt sie spätestens am Vortag des Reiseantritts ein und endet frühestens, wenn das Siebengebirge ins Blickfeld kommt. In Indonesien sagt man indessen „Gemas“ zu dem Gefühl der Liebe oder Zuneigung, das einen dazu bewegt, jemanden so fest umarmen zu wollen, bis er quietscht. (Aus: „Einzigartige Wörter“ von David Tripolina)

Sonntag: Ein gewisser Michael Buchinger, dem Vernehmen nach hauptberuflich Youtuber, widmet in seinem Buch „Der Letzte macht den Mund zu“ (laut Aufkleber ein SPIEGEL-Bestseller) ein ganzes Kapitel seiner Empörung über ein ihm unverlangt zugesandtes Penisbild. Machte ich um jeden Penis, der mich im Laufe der Jahre per Gayromeo oder Grindr erreichte, ein derartiges Aufheben, könnte ich damit ein Buch von eineinhalbfacher Bibelstärke füllen.

Woche 37: Reisen, schnarchen, schreiben und etwas Porno

Montag: Es mag meinem Alter geschuldet sein, dass mich unter Menschen mit zahlreichen bunten, verplombten Bändchen am Unterarm, die vom Alter her meine Kinder sein könnten, die Anrede „Alter“ irritiert, insbesondere unter Mädchen. – Dienstreise nach Leipzig. Die zuverlässige elektronische Anzeige von Platzreservierungen scheint die Bahn auch im September 2017 noch vor größere Herausforderungen zu stellen. Nun könnte ich etwas schreiben von bedruckten Pappschildchen, die zu Bundesbahnzeiten in Halterungen oberhalb des Fensters gesteckt wurden, aber das möchte bestimmt niemand lesen.

Dienstag: In der Frühe mehrfach vom eigenen Schnarchen geweckt worden. „Das Spielen eines Blasinstruments kann beim Schnarchproblem helfen“, so steht es in einem Magazin, welches ich auf dem Nachttisch im Hotel vorfand. So logisch das auch erscheinen mag, so bin ich mir doch ziemlich sicher, dass meinen Schlafbegleitern das Schnarchen gegenüber einem nächtlichen Trompetensolo das kleinere Übel ist.

Mittwoch: Die schwedische Gruppe A-ha geht laut einem Zeitungsbericht nächstes Jahr auf Akustik-Tour. Aha. Durch was war der Erfolg der drei Herren denn bislang sonst begründet? Durch ihre Optik?

Donnerstag: „Das Leben ist kein Ponyhof“, wird Güter H. aus B. im Radio zitiert, der auf der Facebook-Seite von WDR 2 gepostet hat. Für derartige Information zahlt man gerne Rundfunkgebühr. – Unterdessen wird die Renovierung der Beethovenhalle noch ein Milliönchen teurer, steht in der Zeitung.

Freitag: Freitagnachmittag, Büroschluss. Während ich mich mit Gedanken ans bevorstehende Wochenende trage, tragen andere ihr Laptop nach Hause. Übrigens: Alles hat Grenzen, auch meine tiefe Abneigung gegen die unnötige Verenglischung diverser Begriffe. So ist ein Laptop ein Laptop, niemals fände das Wort „Klapprechner“ den Weg über meine Lippen. Doch es geht noch dämlicher: „Schleppi“ als Verniedlichung der von Zeitgenossen mit speziellem Humor gerne verwendeten Bezeichnung „Schlepptop“. Okidoki.

Samstag: „Nach der Re­gel Schrei­ben nach Hö­ren kann man üb­ri­gens ei­nem Schul­kind schnell er­klä­ren, dass der Satz „wia woln spiln gen“ wie folgt ge­schrie­ben wer­den muss „wir wo­len spi­len ge­hen“, schreibt Bernd L. aus Sankt Augustin in einem Leserbrief. Damit ist eindrucksvoll belegt, zu was diese zweifelhafte Methode führt.

Sonntag: „Gesellschaftsfähig wird Pornographie aber niemals werden. Auch ihr Vorläufer, die Modelleisenbahn, war nie wirklich gesellschaftsfähig.“ (Max Goldt, Wenn man einen weißen Anzug hat)

Woche 36: Das geht gar nicht

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Montag: In Beuel gibt es die Musikschule „Metronom“. Das ist, finde ich, ein sehr schöner Name für eine Musikschule. Allemal schöner als „Sekundreibung“ oder „forzato“.

Dienstag: Vorteil einer Bahnreise: Man kann unterwegs arbeiten. Man muss es aber nicht.

Mittwoch: Gewiss ist Fernweh kein Schmerz, welcher mich plagt. Als ich jedoch am Morgen aus geschäftlichen Gründen mit dem IC nach Duisburg fuhr, fragte ich mich einen kurzen Moment, wie es sei, einfach im Zug sitzen zu bleiben. Andererseits – was sollte ich um zwölf Uhr sechzehn in Norddeich Mole? – Auf der Rückfahrt aus Duisburg tat ich, was ich während Zugfahrten am liebsten tue: aus dem Fenster schauen. Auf einer Wiese erblickte ich ein Pferd, welchem man eine Art Mantel mit Zebramuster übergeworfen hatte. Ich weiß nicht, ob Pferde zur Schamempfindung in der Lage sind; wenn ja, dann hatte dieser Gaul allen Grund dazu.

Donnerstag: Nachdem im Radio Max Giesinger mal wieder die frustrierte Mutter hatte tanzen lassen, berichtete man von Julian, achtzehn Jahre alt und somit erstmals zur Wahl berechtigt. „Was macht das mit ihm?“, fragt die Radiofrau.

Freitag: Am Mittag brach mir bei Köttbullar in der Kantine ein Zacken aus der Krone. Backenzahn unten links, vier.

Samstag: „Vor­ne im Au­to qual­men, wenn hin­ten Kin­der sit­zen – das geht Ex­per­ten zu­fol­ge gar nicht.“, steht in der Zeitung. Ein Lob dem Expertenscharfsinn und dem Journalismus, der das aufgedeckt hat. Die Tage wurde übrigens ein SPD-Experte zitiert. Bemerkenswert, auf welchen Gebieten es alles Experten gibt.

Sonntag: „Ausspähen unter Freunden – das geht  g a r  nicht„, so einst Frau Merkel. Ging dann aber doch irgendwie. Was hingegen  g a r  nicht geht sind kleine Stoffbärchen an Rucksäcken erwachsener Menschen.

Woche 35: Perlen der Poesie

Montag: Beim Abendglas auf dem Balkon frage ich mich, warum so viele Menschen auf diesen Sommer schimpfen. – „Make More Happen“, so die gleichfalls rätselhafte Schlussformel der Radioreklame eines Schreibwarenlieferanten.

Dienstag: Wahre Perlen der Poesie verbergen sich oft, von der kulturell interessieren Öffentlichkeit unbemerkt, im olfaktorisch herausfordernden Umfeld betriebsinterner Bedürfniseinrichtungen.

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Mittwoch: Wer hat bahnreisenden Menschen eigentlich eingeredet, es sei akzeptabel, die Füße auf dem Sitz gegenüber abzulegen, wenn man sich zuvor seiner Schuhe entledigt hat?

Donnerstag: Je lauter die Lache desto Arschloch. Alte Businessregel.

Freitag: Ebenso herzerfrischend wie Luftgitarre spielen oder Dirigieren zu einer Symphonie vom Plattenspieler ist das stumme Mitsingen der Kopfhörerbegleitmusik beim Laufen. An die irritierten Blicke entgegenkommender Passanten gewöhnt man sich.

Samstag: Die Presse schafft es immer wieder, durch Bilder zu irritieren. Ein Klassiker ist der Olympiasieger, der aus unerfindlichen Gründen dazu genötigt wird, auf seiner Goldmedaille herumzukauen. Wozu, und warum immer wieder? Kein Mensch würde je freiwillig in eine Goldmedaille oder andere Gegenstände von ähnlich geringer Bekömmlichkeit seine Zähne treiben. Heute hinterließ der Bonner General-Anzeiger mit der Bebilderung eines Artikels über kostenpflichtige Schwimmbadparkplätze mindestens ein fragendes Gesicht, nämlich meins:

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Was will uns der Bildautor damit sagen? Beträgt die Nutzungsgebühr eines Parkplatzes etwa achtzig Euro, und ist der Nutzer gehalten, diese in bar zu entrichten, indem er sie nach Verlassen des Parkplatzes einfach dort ablegt?

Sonntag: „Ein Tagebuch erlaubt formale Mogeleien sämtlicher Art. Es ist die freieste literarische Form, die es gibt.“ (Max Goldt, Wenn man einen weißen Anzug hat“)