Woche 52: Traumreisen und Tütensuppe

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Montag: Wo Menschen unterschiedlichen Charakters zusammenleben, kommt es mitunter zu Reibungen, auch und gerade so kurz vor Weihnachten. Doch verursacht Reibung bekanntlich Wärme, und die können wir gut brauchen, nicht nur zu Weihnachten.

„Viel­falt stei­gert das Auf­nah­me­ver­mö­gen: beim Kunst­ge­nuss, bei der Pfle­ge von Freund­schaf­ten. Manch­mal beim Sex. Ein kom­ple­xes The­ma“, so die Ernährungsforscherin Bar­ba­ra Jean Rolls im SPIEGEL auf die Frage, ob wir mehr essen, wenn das Angebot abwechslungsreich ist.

Vor fast genau sieben Jahren, konkret am 20.12.2012, endete ein TagebuchEintrag so: „Ach ja, laut Maya-Kalender geht morgen angeblich die Welt unter, somit war dies dann der letzte Eintrag. Sollte es so sein: Mein Leben auf dieser Erde war sehr schön!“ Drei Tage später dieses: „Wider Erwarten ist die Welt am Freitag doch nicht untergegangen. Stattdessen war ich am Freitagabend in der Stadt, Weihnachtsgeschenke kaufen; viel schlimmer hätte ein Weltuntergang auch nicht sein können.“

Dienstag: Während ich die Autos auf den Straßen und die Menschen auf den Bahnsteigen betrachte, frage ich mich, um wie vieles diese Welt friedlicher sein könnte, wären wir nicht bestrebt, ständig den Aufenthaltsort zu wechseln und Waren durch die Gegend zu schicken. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Mittwoch: Zum Beispiel von Bonn nach Ostwestfalen, wo wir heute und morgen den familiären Fest-Pflichten nachkommen. Wofür braucht man eigentlich Weihnachten?

Das Wort „Engentado“ kommt übrigens aus dem Spanischen, es bezeichnet den Wunsch nach Einsamkeit.

Donnerstag: Alle Lieben gesehen, alle Geschenke* verteilt und empfangen, viel gegessen und (vielleicht etwas zu viel) getrunken, viel gelacht, unter anderem über freilaufende Eier und die Frage: „Wo waren wir nochmal morgen?“ Gestaunt über ein Feuerzeug: Nicht eines mit gas- oder benzingenährter Flamme, sondern klimaschonend elektrisch, mit Lichtbogen oder so, fragen Sie mich nicht. Das Erstaunliche daran war allerdings nicht die Antriebsart, sondern ein Nebeneffekt. Bei Betätigung erzeugt das Gerät einen offenbar äußerst fiesen Ton, den nur Menschen unter dreißig wahrnehmen. Von so etwas hörte ich schon mal, dabei ging es, wenn ich mich recht erinnere, um Geräte zur Vergrämung Jugendlicher von beliebten Lungerstätten. Nun erlebte ich es in eigener Anschaung: In der anderen Ecke der Stube gaben sich die in den Zwanzigerjahren und somit der frischen Blüte ihres Lebens stehenden Neffen und Nichten dem Kartenspiel hin, mit richtigen Papierkarten und nicht etwa einer Kanaster-App. Jedes Mal, wenn nun jemand im Raum das Ding anschaltete, hielten sie sich schmerzverzerrt die Ohren zu und riefen herüber „Aua, mach das aus!“, während wir Alten beim Geplauder über vergangene Zeiten nicht den leisesten Piep vom Feuerzeug ausgehend hörten. Auch die älteste Nichte hörte nichts und fand das richtig doof, weil sie mit ihren zarten zweiunddreißig sich demnach nun auch zu den Alten zugehörig fühlen darf.

An den zwei Tagen etwa fünfhundert Kilometer mit dem Auto gefahren, nachmittags wieder zu Hause. Jetzt kann Weihnachten beginnen.

Woanders auch: „Wir schauten dann die erste Folge Schwarzwaldklinik in der Mediathek um unsere Gehirnzellen auf das traditionelle Traumschiff-Gucken heute Abend herunter zu kühlen …“

* Ach so, nein, nicht alle, ein Geschenk fehlt noch. Das bereite ich mir morgen selbst.

Freitag: Leider ist mein persönliches Selbstgeschenk im zuständigen Fachgeschäft vorübergehend ausverkauft, anscheinend bin ich nicht der einzige Verrückte, der das haben muss. Voraussichtlich im Januar kommt es wieder rein. Das ist nicht schlimm, im Januar freue ich mich auch noch über den Anruf des Fachhändlers, wenn die Ware eingegangen ist. Das finde ich im Übrigen schöner, als es irgendwo zu bestellen und dann auf das Paket zu warten. – Was es ist? Das wird nicht verraten, sonst ist es ja keine Überraschung. Also gut, ein kleiner Hinweis: die 87-fache Verkleinerung eines Gegenstandes, der an einem Montag schon einmal hier Erwähnung fand.

Auf den Besuch des Fachgeschäfts folgte ein nachweihnachtlicher Spaziergang durch die Stadt und an den Rhein. Ohne Notwendigkeit und konkretes Ziel durch die Gegend laufen zu können ist auch ein Geschenk, zudem äußerst kostengünstig.

„Was für ein kleiner Player“, hörte ich im Vorbeigehen eine junge Frau zu einer anderen sagen. Ich weiß nicht, um wen oder was es dabei ging, nach einer Liebesbezeugung klang es jedenfalls nicht.

Aus einem Zeitungsbericht zum 25-jährigen Bestehen der Telekom: „Ausländische Sex-Dienste wurden auf Handvermittlung umgestellt, die Nutzung ging stark zurück.“

Samstag: Abends aßen wir beim Spanier an der Ecke. Mit an unserem Tisch saß ein junges Paar. Zwar gelingt es mir mit zunehmendem Alter immer weniger, bei Hintergrundgeräuschen wie Gaststättengeraune anderer Leute Gespräche zu folgen (was ich nur selten als nachteilig empfinde), doch war offenbar, dass sich beide noch nicht lange kannten, vielleicht hatten sie sich erst kurz zuvor auf Tinder zusammengewischt. Ihn hörte ich fragen: „Du fertigst dann so die Packages?“ Vielleicht war sie in der IT-Branche tätig oder bei einem Versandhändler, was weiß ich, wo überall Packages gefertigt werden. Zwischendurch minutenlange Gesprächspausen, in denen sich dem jeweils eigenen Datengerät gewidmet wurde, vielleicht tinderten sie schon nach dem nächsten Partner, angeblich wollen sich die jungen Leute ja nicht so schnell festlegen, erst recht nicht bei der Partnerwahl. Doch sparte man unterdessen nicht mit dem Austausch von Zärtlichkeiten über Hand und Mund, auch in Kombination. Immerhin, und dafür bin ich den beiden wirklich dankbar, verzichteten sie darauf, sich gegenseitig Speisen zum Mund zu führen, wie man das aus Reklame für Beziehungsbörsen, Traumreisen und Tütensuppe kennt. Hoffen wir, dass der Abend und die Nacht noch einen für beide zufriedenstellen Verlauf nahmen. Ich an ihrer Stelle hätte ihn jedenfalls nicht mehr alleine in die Kälte entlassen, aber das ist ein anderes Thema.

Sonntag: In der Nacht kam ich sehr schlecht in den Schlaf, erst nach vier Uhr betrat ich das Reich wirrer Träume. Was mich solange wach hielt, war weniger die Sorge um das junge Liebesglück, vielmehr verdächtige ich den Espresso nach dem Essen in Verbindung mit den Kaffeebohnen im abschließenden Sambuca. Während ich mich wälzte, fielen mir folgende Zeilen ein:

Nimmst du Kaffee nach dem Essen / kannst die Nachtruh‘ du vergessen.

Nimmst du Kaffee vor der Nacht / bis du um den Schlaf gebracht.

Nimmst du Kaffee nach dem Nach- / tisch liegst du bis morgens wach.

Zugegeben, hinsichtlich der poetischen Qualität eher flachwurzelnd, jedoch immerhin erstaunlich, dass ich mir diesen Mist bis nach dem Aufstehen merken konnte.

Ansonsten erfuhr mein Leben während des Sonntagsspaziergangs insofern einen Wendepunkt, als dass ich nunmehr weiß, es gibt Fabrikschilder für Gehwegplatten.

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Noch was zum Thema Alter – Hier bei Frau Postman gelesen und für gut befunden:

„In letzter Zeit – nein, eigentlich schon länger – denke ich oft, wie gut, dass ich nicht mehr so jung bin, dann werde ich die ganz grossen Katastrophen, auf die diese Welt scheinbar unaufhaltsam zusteuert (ich bitte, diese trivial-pathetische Ausdrucksweise zu entschuldigen, ich bin irgendwie noch im Weihnachtsmodus….), höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Das ist noch nicht mal immer so ein schlimmer Gedanke, da es mich, logisch, mit dem Verstreichen meiner Lebenszeit ein klein wenig versöhnt.“

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Verkehrsminister entlassen werden sollte.

 

Woche 18: Ich möchte nicht von der Apotheken-Umschau geduzt werden

Montag: Während der Fahrt ins Werk am Morgen musste ich angesichts eines Dalmatiners lächeln. Nicht, weil jähes Hundemögen Besitz von mir ergriffen hätte, auch nicht, weil der Hund, der seinen Fahrrad fahrenden Besitzer unangeleint begleitete, sich jedes Mal brav hinhockte, wenn sie anhalten mussten. Der Grund ist vielmehr ein Witz, den ich neulich las, und der mich vermutlich bis an mein hoffentlich fernes Ende immer wieder zum Grinsen zwingen wird, wenn ich einen Dalmatiner sehe. Der geht so: Ein Dalmatiner steht an der Supermarktkasse. Als er an der Reihe ist, fragt die Kassiererin: „Sammeln Sie Punkte?“ Selbstverständlich ließe sich das auch variieren, zum Beispiel mit einem Marienkäfer oder einem sommersprossigen Kind. Aber dann gäbe es sicher Ärger, wegen kindlicher Stig- oder Traumatisierung oder sowas.

Dienstag: Einer der sehr seltenen Arbeitstage ganz ohne Besprechungen, Skype-Konferenzen und sonstige Termine. Fast fehlt mir was. In der Kantine gibt es was mit Humus. Das ist mir dann doch etwas zu vegan.

Mittwoch: „Man wird alt, aber man merkt es selber nicht“, sagt der Schauspieler Mario Adorf im SPIEGEL-Interview.

Passend zum „Tag der Arbeit“ etwas Musik.

Unglaublich, dass das schon achtunddreißig Jahre her ist. Insofern, lieber Herr Adorf, merkt man sehr wohl, wie alt man inzwischen geworden ist.

Nicht sehr alt waren hingegen die Teilnehmer eines Demonstrationszuges, der am frühen Nachmittag durch die Innenstadt zog, vorweg ein Wagen mit unerträglich laut wummernder Musik. Was ihr genaues Anliegen war, konnte ich nicht erkennen, die Rufe „Kapital“ und „Scheiße“ glaubte ich durch das Gewummer auszumachen. Auch ein mitgeführtes Banner mit der Aufschrift „Ausschlafen ist wichtiger als Deutschland“ brachte nur wenig Erkenntnis. Immerhin: ein Satz, über den nachzudenken sich lohnt.

Unterdessen blühen jetzt überall die Kastanien. Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, aber es fällt mir schwer, zu glauben, dass etwas so schönes von alleine entstanden sein soll. (Das gilt sinngemäß auch für den einen oder anderen Menschen, doch das ist ein ganz anderes Thema.)

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Kastanien blühen auch an der Poppelsdorfer Allee, wo studentische Burschenschaften auf der Wiese irgendwas feiern. Bestimmt tue ich ihnen unrecht, aber diese jungen Männer mit ihren Kappen und den diagonal über den Oberkörper getragenen, schwarz-rot-goldenen Bändchen sind mir unheimlich. Was sie feiern, entzieht sich meiner Kenntnis; der Tag der Arbeit wird es wohl eher nicht sein.

Donnerstag: Radioreklame am Morgen. Nach Ikea und Apple werde ich nun auch von der Apotheken-Umschau geduzt. Ich möchte das nicht.

Auf einem Wahlplakat der Volt-Partei steht „Damit Menschen nicht mehr im Mittelmeer untergehen“. Was die Frage suggeriert: Wo denn stattdessen?

Freitag: In einem Zeitungsbericht lese ich den Namen „Eichenseher“. Was mögen dessen Vorfahren gemacht haben?

Samstag: Verkehrsminister Scheuer will Radfahrern künftig erlauben, auch bei Rot rechts abzubiegen. Das ist etwa so, als würde es dem Wind endlich gesetzlich gestattet, aus Westen zu wehen.

Am Abend ließen wir uns auf einer Schiffstour zu „Rhein in Flammen“ den Wind um die Nase wehen. Wissen die Menschen eigentlich, was ihnen entgeht, wenn sie ein Feuerwerk filmen und fotografieren, anstatt es einfach wirken zu lassen? Was machen die hinterher mit den ganzen Bildern und Filmen?

Sonntag: Vor zwei Wochen gestatteten sommerliche Temperaturen einen Spaziergang in kurzen Hosen und Poloshirt, heute benötige ich zum selben Zweck Schal und Winterjacke.

Sie möchten auch, dass der Rosenmontag ein gesetzlicher Feiertag in NRW wird, sind nur noch nicht dazu gekommen, sich an der Petition zu beteiligen? Dann bitte hier entlang. Es fehlen noch knapp 8.400 Stimmen, die spätestens in vier Wochen eingesammelt sein müssen. Daher bitte weitersagen.

Woche 37: Mopsbett aus Textilleder

Montag: „Ey, voll geiles Bücherregal, Alter!“ – Was die Jugend so redet, wenn sie in der Bahn mit ihren Datengeräten beschäftigt ist.

In der vergangenen Woche fragte ich, ob es eine Bezeichnung gibt für die Binnen-Initiale (wie „Hans A. Meise“), die manche sich für bedeutend haltende Menschen in ihrem Namen führen, was auf ein gewisses Echo meiner verehrten Leserschaft stieß. Der schönste Vorschlag kam von Thomas mit „Namensblinddarm“. Danke dafür!

Dienstag: „Chillen mit Sinn“ heißt eine sogenannte Demokratieplattform, die regelmäßig in Bonn stattfindet und Menschen miteinander ins Gespräch bringen soll. Etwas despektierlicher ausgedrückt könnte man es auch eine öffentliche Laberrunde nennen, mache ich natürlich nicht. Nun ist „chillen“ ja so ein Wort, welches zu hören mir nicht gerade Lustgefühle bereitet. Aber ich will nicht meckern: Wenigstens heißt die Aktion nicht „Chillen macht Sinn“.

To chill heißt ja (unter anderem) entspannen und abkühlen. Ersteres kann man wunderbar in unserem Lieblingsbiergarten am Rhein. Dort waren der Liebste und ich am Abend, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr, bevor es abkühlt (und die allgegenwärtigen, schrecklichen Halbarmhemden endlich in den Schränken sowie Tätowierungen unter Textilien verschwinden). Vielleicht auch nicht.

Mittwoch: „Bis nächste Woche, ich freue mich auf den Termin“, höre ich die Kollegin am Telefon sagen. Die Welt ist so schrecklich verlogen.

In der Zeitung ist der Entwurf für den Bundeshaushalt 2019 abgebildet:

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Wieviel Hoffnung soll man noch für dieses Land, diese Welt, die Menschheit haben, wenn für Kriegsspiele fast zweiundzwanzig mal mehr Geld ausgegeben wird als für Umweltschutz?

Wenig Zuversicht wächst auch daraus, dass Bahnhofstoiletten nun „rail & fresh“ heißen, wie ich am Abend im Bahnhof Köln-Deutz sah. Nun gut – eine „Bahnamtliche Bedürfnisanstalt“ steigert auch nicht gerade den Harndrang.

Donnerstag: Auch wenn die Aktivitäten der Waldschützer im Hambacher Forst wohl gegen geltendes Recht verstoßen (und laut RWE bald bei uns die Lichter ausgehen, wenn die darunter befindliche Braunkohle nicht abgebaggert werden kann), so empfinde ich doch große Sympathien für ihr Tun und ihre Ziele, daraus mache ich kein Geheimnis. Indes erscheint mir ihre Kampfparole „Hambi bleibt“ verniedlichend, verharmlosend, geradezu lächerlich. Wie dem auch sei – ich wünsche ihnen und allen anderen, die für ein Ende dieses Wahnsinns eintreten, Erfolg und alles Gute.

Freitag: Ja, ich freue mich.

Gefreut hat mich auch dieser Dialog meiner beiden Lieblingsmenschen anlässlich des bevorstehenden Herbstes: „Die Gänse sind schon auf dem Weg in den Süden.“ — „Ja, und Weihnachten kommen sie zurück.“

Samstag: Aus einem Zeitungsbericht über Accessoires für anspruchsvolle Vierbeiner:

„Marie, ihre vorletzte Hündin, war mittelgroß und hatte ein großes Problem, wenn sie mit Frauchen unterwegs war. Es gab keine schönen und praktischen tragbaren Hundebetten.“ — „Vielmehr geht es um artgerechte Ernährung und Haltung. Daher gibt es unter dem Sir-Henry-Label auch ein Mopsbett aus Textilleder, schließlich soll Tier nicht Tier tragen.“ — „Sein Kallebanana-Keks beispielsweise ist, wie alle anderen Leckerlis hausgemacht und tierproduktfrei, besteht aus Banane, Apfel, Dinkelvollkornmehl, Haferflocken, Olivenöl und einer Prise Salz, sein Kalleefree mit Soja-und Reismehl ist glutenfrei.“ — „… wärmende Hundebekleidung, die sich zwar modisch an das anpasst, was Frauchen trägt, aber eben auch einen Sinn hat, etwa der Outdoorkleidung für Menschen entlehnt ist. Gerade kleine exotische Hunde bräuchten derlei wegen ihrer Fellstruktur.“

Ich fühle mich bestätigt in meiner Überzeugung, Hundehalter haben einen an der Waffel. Hausgemacht und Glutenfrei.

Sonntag: Wie eine sonntägliche Fahrradfahrt am Rhein offenbart, lassen sich radfahrende Rentner in zwei Klassen einteilen. Während mich die einen, elektrisch unterstützt, mit müheloser Leichtigkeit auch an engeren Stellen im Tiefflug überholen, bewegen sich die anderen vor mir nahe der Geschwindigkeitsgrenze, ab der das Rad aus Gründen der Physik umfällt.

Woche 46: Schöne Geschichten mit Bettbezug

Montag: Was der Mimi ihr Krimi, sind dem Liebsten die Päpste. Zurzeit liest er ein mehr als tausend Seiten starkes Buch darüber, vergangene Nacht bis ein Uhr. Das versetzt ihn künftig in die Lage, bei Einschlafstörungen Oberhirten statt Schäfchen zu zählen. — Laut Radiomeldung hat ein mir unbekannter Popstar irgendeinen MTV-Preis gewonnen, unter anderem für die besten Fans. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört am frühen Morgen. — Ach ja: Die Kosten für die Sanierung der Bonner Beethovenhalle sind mal wieder gestiegen, nach derzeitiger Schätzung auf fünfundsiebzig Millionen. Fortsetzung folgt, ich halte Sie auf dem Laufenden.

Dienstag: Sogenannte Wirtschaftsweise fordern mal wieder eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes, da es in der jetzigen Form „nicht mehr für un­se­re di­gi­ta­li­sier­te Ar­beits­welt ge­eig­net“ sei. Meinen Ausführungen aus vorletztem Jahr zu diesem Thema habe ich nichts hinzuzufügen.

Mittwoch: Genau.*

Donnerstag: Am Morgen Dienstreise per PKW ins ostwestfälische Vlotho. „Denke die Zukunft“, fordert der Hersteller einer bekannten und oft gleichsam verpönten Süßbrause per Werbung auf einem vor mir herfahrenden LKW auf. Was will er uns damit sagen? Fehlt da nicht ein „an“? Wobei, wer ernsthaft an die Zukunft denkt, wird die Süßbrause wohl eher verschmähen, was nicht im Sinne des Herstellers sein kann. Unterdessen macht Norbert Blüm jetzt Radiowerbung für Augenoptiker. Warum tut er das? Ist seine Rente doch nicht so sicher, wie er uns vor Jahrzehnten versprach?

Freitag: Am frühen Morgen in einem Hotelfrühstückssaal voller Menschen und Geräusche schon zuhören und antworten zu müssen bringt mich an meine Grenzen. — Abends eine Sternstunde sondierungspolitischen Kasperletheaters in der Tagesschau: Horst Seehofer steht vor einer Reihe Mikrofone und faselt irgendetwas. Von rechts tritt Winfried Kretschmann ins Bild und sagt „Guten Morgen Horst!“ Darauf Seehofer: „Grüß dich, mein alter Freund!“ Jamaika, mir graut vor dir.

Samstag: „I bims“ ist zum Jugendwort des Jahres ernannt worden. Wenn ich es richtig verstanden habe, wird es benutzt, um sich über Rechtschreib- und Grammatikfehler in sozialen Netzwerken lustig zu machen, so erklärt es jedenfalls WDR 2. Vielleicht liegt es am Fortschritt meiner Jahre oder an der von mir geübten Zurückhaltung in der Nutzung derartiger Netzwerke, dass ich zuvor niemals davon hörte. Wie aus regelmäßig gut unterrichteten Kreisen (1life) zu vernehmen ist, verdreht indes auch die Jugend die Augen ob dieser Auswahl. Genau, Alter.

Sonntag: „Ich lebte zu dieser Zeit in einer, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, einvernehmlich als offen definierten Zweierbeziehung, in der sich die Beteiligten volle Bewegungsfreiheit bei uneingeschränktem Heimkehrrecht zubilligten.“ (Günter Franzen: Das ist die Liebe der Senioren, FAS 19.11.2017) — Wer schöne Geschichten mit explizitem Bettbezug mag, jedoch die einschlägigen Naturfilmseiten im Netz ob der ihnen in gewissen Kreisen anhaftenden Schmuddeligkeit meidet, dem sei der wunderbare Film „Schnick Schnack Schnuck“ empfohlen. Wer „Shortbus“ sah, sollte „Schnick Schnack Schnuck“ nicht verpassen.

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* Ein vor allem bei jungen Menschen sich zunehmender Beliebtheit erfreuendes Füllwort, welches das bisher verwendete „Äh“ langsam verdrängt. Vielleicht bringt das diese Leute, die nichts besseres zu tun haben als die Menschen in Generationen einzuordnen (zum Beispiel Golf, X, Y und so weiter) auf die Idee, künftig von der „Generation Genau“ zu sprechen.

Woche 37: Reisen, schnarchen, schreiben und etwas Porno

Montag: Es mag meinem Alter geschuldet sein, dass mich unter Menschen mit zahlreichen bunten, verplombten Bändchen am Unterarm, die vom Alter her meine Kinder sein könnten, die Anrede „Alter“ irritiert, insbesondere unter Mädchen. – Dienstreise nach Leipzig. Die zuverlässige elektronische Anzeige von Platzreservierungen scheint die Bahn auch im September 2017 noch vor größere Herausforderungen zu stellen. Nun könnte ich etwas schreiben von bedruckten Pappschildchen, die zu Bundesbahnzeiten in Halterungen oberhalb des Fensters gesteckt wurden, aber das möchte bestimmt niemand lesen.

Dienstag: In der Frühe mehrfach vom eigenen Schnarchen geweckt worden. „Das Spielen eines Blasinstruments kann beim Schnarchproblem helfen“, so steht es in einem Magazin, welches ich auf dem Nachttisch im Hotel vorfand. So logisch das auch erscheinen mag, so bin ich mir doch ziemlich sicher, dass meinen Schlafbegleitern das Schnarchen gegenüber einem nächtlichen Trompetensolo das kleinere Übel ist.

Mittwoch: Die schwedische Gruppe A-ha geht laut einem Zeitungsbericht nächstes Jahr auf Akustik-Tour. Aha. Durch was war der Erfolg der drei Herren denn bislang sonst begründet? Durch ihre Optik?

Donnerstag: „Das Leben ist kein Ponyhof“, wird Güter H. aus B. im Radio zitiert, der auf der Facebook-Seite von WDR 2 gepostet hat. Für derartige Information zahlt man gerne Rundfunkgebühr. – Unterdessen wird die Renovierung der Beethovenhalle noch ein Milliönchen teurer, steht in der Zeitung.

Freitag: Freitagnachmittag, Büroschluss. Während ich mich mit Gedanken ans bevorstehende Wochenende trage, tragen andere ihr Laptop nach Hause. Übrigens: Alles hat Grenzen, auch meine tiefe Abneigung gegen die unnötige Verenglischung diverser Begriffe. So ist ein Laptop ein Laptop, niemals fände das Wort „Klapprechner“ den Weg über meine Lippen. Doch es geht noch dämlicher: „Schleppi“ als Verniedlichung der von Zeitgenossen mit speziellem Humor gerne verwendeten Bezeichnung „Schlepptop“. Okidoki.

Samstag: „Nach der Re­gel Schrei­ben nach Hö­ren kann man üb­ri­gens ei­nem Schul­kind schnell er­klä­ren, dass der Satz „wia woln spiln gen“ wie folgt ge­schrie­ben wer­den muss „wir wo­len spi­len ge­hen“, schreibt Bernd L. aus Sankt Augustin in einem Leserbrief. Damit ist eindrucksvoll belegt, zu was diese zweifelhafte Methode führt.

Sonntag: „Gesellschaftsfähig wird Pornographie aber niemals werden. Auch ihr Vorläufer, die Modelleisenbahn, war nie wirklich gesellschaftsfähig.“ (Max Goldt, Wenn man einen weißen Anzug hat)

Woche 12: Irgendwas ist ja immer

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Montag: Vergangene Nacht träumte ich von einem Skorpion auf fleckigem Betttuch, welchem ich verständlicherweise mit einer gewissen Furcht begegnete. Als ich heute in ruhiger Minute nach der darauf zutreffenden Angst (vielleicht Cnidophobie – Angst vor Stacheln) recherchierte, stieß ich auf Anatidaephobie: die Angst, von Enten beobachtet zu werden. Gibt es eigentlich einen Begriff für die Angst davor beziehungsweise Abneigung dagegen, am Montagmorgen zum Sprechen genötigt zu werden?

Dienstag: Nachdem die Erkältung halbwegs abgeklungen ist, hindert mich nun leichter Schmerz im rechten Oberschenkel am Laufen. Irgendwas ist ja immer. Vielleicht das Alter? Immerhin: Das schont die neuen Laufschuhe. – Unterdessen ist heute die neue Waschmaschine eingetroffen. Vorläufig hört sie auf den Namen Bärbel.

Mittwoch: Trotz eher mäßigem Lesegenusses heute die aktuelle Stadtbahnlektüre „Ich hasse dieses Internet“ von Jaret Kobeck ausgelesen. Es gelingt mir fast nie, ein Buch vorzeitig zu beenden, weil es sich anfühlt wie eine persönliche Beleidigung des Autors, was meinem krankhaften Harmoniestreben zuwider läuft. Außerdem könnte ja am Ende doch noch was Lesenswertes kommen. Kam aber nicht.

Donnerstag: Ein herrlicher Frühlingstag mit Fußmarsch zur Arbeit am Morgen. An anderen, seltenen Tagen, an denen Widerwille mein Wegbegleiter ins Büro ist, motiviert mich die Erkenntnis, es gibt viel schlimmere Jobs als meinen. Zum Beispiel Sprecher der Deutschen Bahn. Überhaupt Sprecher. Es sei denn, man heißt Andrea Titz und ist Sprecherin des Oberlandesgerichtes München. Äußerlich Evelyn Hamann nicht unähnlich, tritt sie regelmäßig vor die Fernsehkameras und berichtet mit sonorer, von bayrischem Akzent verzierter Stimme über den Sachstand der ganz großen Verfahren, in dieser Woche etwa des Prozesses gegen Georg Funke, den ehemaligen Chef der Hypo Real Estate. Bekannt geworden ist sie durch regelmäßige Auftritte anlässlich des NSU-Prozesses, mittlerweile gewissermaßen der Hauptstadtflughafen unter den Strafverfahren. Sie sehen in mir einen großen Bewunderer von Andrea Titz.

Laut einer Zeitungsmeldung würde fast ein Drittel aller Menschen zwischen neunzehn und achtunddreißig eher auf Sex verzichten als auf ihr Smartphone, so weit ist es schon gekommen. Ich wäre immerhin zum Verzicht bereit auf Sex mit dem Smartphone.

Freitag: Iktsuarpok kommt aus dem Inuit und bezeichnet die Vorfreude, wenn man auf jemanden wartet. Ich kenne Iktsuarpok gut. Jeden Freitag aufs Neue.

Samstag: Reisen bildet. Auf der Rückfahrt aus Köln wurde ich in der Mittelrheinbahn Zeuge eines Gespräches, in dessen Verlauf eine Dame ihrem Sitznachbarn und allen anderen Mitreisenden drumherum mitteilte, sie nehme nie das Mobiltelefon mit auf die Toilette.

Das Ende des Internets finden Sie übrigens hier: http://endedesinternets.de/

Sonntag: Die Zeitumstellung auf Sommerzeit ist in etwa so notwendig wie ein Porsche.

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Woche 5: Der Lack ist ab

Montag: Vielleicht drückten Gott ja Gram und Sorgen, als er schuf den Montagmorgen.

Dienstag: Trotz des spektakulären Rücktritts von Rüdiger B. Grube verlief die Bahnfahrt nach Neu-Ulm erfreulich angenehm, pünktlich und in korrekter Wagenreihung. Hierzu erschien mir ein Begleitgetränk angemessen.

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Neu-Ulm liegt übrigens in Bayern, im Gegensatz zum benachbarten Ulm, welches in Baden-Württemberg liegt. Nun können Sie wieder mit Wissen glänzen. Gerngeschehen.

Mittwoch: Auf der Liste der ewigen Ärgernisse stehen nach wie vor die stets lächerlich winzigen Saftgläser bei Hotelfrühstücksbuffets ziemlich weit oben.

Donnerstag: Warum stehen ältere Menschen im Zug immer schon eine Viertelstunde vor Erreichen ihres Zielbahnhofs von den Sitzplätzen auf? Aber vielleicht mache ich das ja auch bald. Ab übermorgen.

Freitag: Manchmal, wirklich nur manchmal, wäre ich gerne ein paar Tage lang alleine in einem kleinen Haus auf einer Hallig.

Samstag: Letztlich ist 50 auch nur eine Zahl. Trotzdem klingt 39k weniger dramatisch.

Sonntag: Das neue Lebensjahrzehnt startet mit Husten und Schnupfen. Kein Zweifel, der Lack ist ab.

Abgeschrieben: Älter werden

„Wer nicht älter werden will, muss früher sterben“, diesen Satz las ich kürzlich, leider versäumte ich zu notieren, wo. Die Menschen sind schon komisch: Jeder will möglichst alt werden, wofür so mancher dem Genuss von Tabak, Alkohol, Fleisch und Wackelpudding entsagt; älter werden will indes niemand. Im Zeitalter allgegenwärtigen Jugendwahnes gilt es vielmehr als unerfreulich, wenn die Haare ergrauen oder gar ausfallen, Hör- und Sehvermögen nachlassen und auch manch andere Körperfunktion dezent den Fortgang der Lebensjahre erahnen lässt. 

Thomas, einer meiner absoluten Lieblingsblogger, hat zu diesem Thema einen schönen Aufsatz verfasst, den ich hier mit seiner freundlichen Erlaubnis wiedergeben darf.

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Älter werden

Auweia! Ich bin zwar keine „sweet sixteen“ mehr (wenngleich ich mich immerhin noch als Millennial bezeichnen darf, was immerhin irgendwie jung klingt), aber als alt würde ich mich nicht bezeichnen.

Wobei Alter ja relativ ist. Es gibt da diese schöne Geschichte, die ich jedem aufdränge, wenn es um das Thema geht: Ich war achtzehn und arbeitete in einem Seniorenheim als Zivi. Eines Abends brachte ich eine Seniorin ins Bett, sie war um die achtzig, und erzählte währenddessen ein bisschen von meinem Wochenende: Wir hatten einen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, eine große Party mit viel Tamtam. Da bekam die ältere Dame glasige Augen und sagte mit vollem Ernst: „Fünfzig, so jung wär ich auch gern nochmal.“

Diesen Moment habe ich deshalb nie vergessen, weil er mir klar machte, dass in solch einem Zusammenhang die Definition von „Alter“ ausschließlich vom Blickwinkel abhängt. Dennoch: Langsam, aber sicher gerate ich an den Punkt, die Leute zu verstehen, die Probleme mit ihrem Alter hatten, als ich noch das war, was man landläufig wohl als „jung“ bezeichnet.

Neulich klingelten zum Beispiel die Nachbarskinder und fragten nach etwas Zucker. Das allein wäre ja kein Problem gewesen. Aber sie siezten mich! Mich, der ich doch fast ihr Bruder sein könnte… oder eben ihr Vater. An der Supermarktkasse werde ich beim Kauf von Alkoholika auch längst nicht mehr nach meinem Ausweis gefragt. Grund dafür sind sicherlich die grauen Haare, sie sich seit einigen Jahren stur vermehren. Mittlerweile denke ich ernsthaft darüber nach, ob mir gefärbte Haare wohl stünden.

Und dann wären da noch all die Kleinigkeiten, die sich ändern: Die Planung einer langen Autofahrt entlang der Pinkelpausen. Das frühere Zubettgehen, weil ich „ohne ausreichend Schlaf einfach nicht richtig wach werde“. Auch wird die Uhrzeit im Satz „kein Koffein nach 18 Uhr, sonst kann ich nicht schlafen“ immer weiter nach vorne verschoben. Verabredungen sollten gegen 22 Uhr enden, weil ich dann müde werde, und sollten nicht nach 19 Uhr beginnen, weil es sich dann ja gar nicht lohnt. Einen Abend auf der Couch ziehe ich außerdem immer einem Abend vor, der nicht auf der Couch stattfindet.

Am eindrucksvollsten aber war das Gespräch mit einem Bekannten. Er ist gerade achtzehn geworden und hat kürzlich den ersten Nebenjob seines Lebens angefangen, steigt also gerade erst in eine neue Phase des Lebens ein. Während wir uns neulich unterhielten, erwähnte er nebenbei, dass er das Verhalten einiger seiner Freunde für kindlich halte und manchmal das Gefühl habe, er sei ja doch schon ziemlich alt. Mir fiel bei der Aussage fast der Kaffee aus der Hand: „Ich bin doppelt so alt wie du!“ Das hatte natürlich nur den Effekt, dass ich teilnahmsvolle Blicke erntete und ernstes Schweigen angesichts meines geradezu urgroßvaterhaften Lebensalters.

Es bleibt die Frage, wie sich das Wort „Alter“ in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren anfühlen wird. Sicher ganz anders als jetzt. Und ganz bestimmt fange ich bald an mit „diese Jugend heute“-Sätzen…

Quelle: http://www.schreiblehrling.de/aelter-werden/