Lies!

Die Menschen sind es gewohnt, in schwarz oder weiß zu denken, in gut oder böse, richtig oder falsch, Männchen oder Weibchen, Fleisch oder Tofu, Köln oder Düsseldorf. Alles dazwischen ist suspekt, und wer an das Falsche glaubt oder gar nicht, dem gehört der Schädel eingeschlagen.

Mit dem Glauben habe ich es nicht (mehr) so, und doch: Versuchte man, mich zu zwingen, an etwas zu glauben, so glaubte ich nicht; gleichwohl bereitete es mir keine nennenswerten Schwierigkeiten, den Anschein des Glaubens zu erwecken. Das gilt im übrigen nicht nur für Religionen, sondern auch für Verkündungen des Arbeitgebers.

Eines jedoch glaube ich, oder vielmehr, ich bin mir dessen sicher: Die Menschheit ist gerade dabei, den Verstand zu verlieren, es spricht zumindest einiges dafür, welches aufzuzählen ich zu müde bin; lesen Sie regelmäßig dieses Blog, dann wissen Sie, was ich meine. Längst sind es nicht mehr nur himmlische Mächte, denen mit religiösem Eifer gehuldigt und geopfert wird – die heutigen Götter heißen unter anderem Wachstum, Markt, Digitalisierung, Fußball oder Pokémon Go. Das mag man beklagen, indes ist es unumkehrbar wie der Klimawandel. Aber an den glauben ja auch viele nicht. Gut, das Pokémon-Geschrei wird irgendwann verstummen zugunsten einer neuen Zeitverschwendung.

Zurzeit empört man sich darüber, dass Männer mit komischen Bärten samstags in der Fußgängerzone kostenlos Korane verteilen und verlangt, deren Treiben zu verbieten. Angeblich ist die Verteilung der Bücher dazu geeignet, Jugendliche zum Salafismus zu verführen. So ganz verstehe die Aufregung nicht. Auch ich griff mir vor längerer Zeit so ein Buch ab. Nicht, weil es mich plötzlich nach Erleuchtung oder einem langen Bart gelüstete, sondern aus reiner Neugier, welche Gefahr denn nun wirklich von ihm ausgeht. Enttäuscht legte ich es schon nach wenigen Seiten beiseite, es liest sich sehr sperrig, etwa so wie die Nutzungsbedingungen einer neuen Softwareversion, also das, was man in der Regel gähnend ungelesen bestätigt. Wohl kein junger Digitalsklave wird sich anstatt in sein Datengerät in dieses Buch vertiefen, somit kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Schrift eine ernste Bedrohung in sich birgt. Aber das heißt nichts, bis vor ein paar Monaten konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass junge Menschen ihre Häuser verlassen, um virtuelle Monster zu jagen.

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Auch die Existenz des Teufels halte ich für wahrscheinlich, wenn auch nicht in Form des pferdefüßigen Hörnerträgers im flammenden Höllenschlund. Er hat viele Gesichter, die täglich im Fernsehen und in Firmen zu sehen sind. Manchmal trägt er einen Schnauzbart oder einen seltsamen blonden Haarschopf; auch mit beidem gleichzeitig wurde er schon gesehen.

Hals- und Beinbruch

Es war Liebe auf den ersten Blick. Als ich dich im Schaufenster sah, wusste ich: Du musst es sein. Zwar zeigten sie mir im Geschäft noch ein paar ander Fahrräder, die auch gut waren, aber ich wollte das rote aus dem Schaufenster, kein anderes. Ja, ein bisschen habe ich dich geliebt, also jedenfalls im Rahmen psychischer Unauffälligkeit. Und ich glaube, ich war immer gut zu dir, pflegte dich; als ausgewiesener Schönwetterfahrer trieb ich dich nie bei Kälte und Regen hinaus. Wir machten schöne Fahrten miteinander, durch die Siegaue, und immer wieder zu einem meiner Lieblingsorte, dem Rheinufer vor Oberkassel, wo ich jetzt gerade unter den hohen Bäumen liege und diese Zeilen schreibe.

Leider ohne dich, denn am vergangenen Samstag haben sie dich gestohlen, von einem Ort, wo ich dich in Sicherheit wähnte, unserer Garage. Du warst angeschlossen, aber das hielt sie nicht davon ab. Ich bin sehr traurig, das letzte, was mir von dir blieb, ist dieses Bild, ein durchtrenntes Fahrradschloß und ein Aktenzeichen der Polizei.

Machs gut, mein geliebtes Fahrrad, wo auch immer du jetzt bist! Und wer auch immer dich jetzt fährt: Leite ihn in eine Rillenschiene der Straßenbahn, auf dass er stürze und sich einen komplizierten Beinbruch mit großen Schmerzen und langwieriger Therapie zuzieht. Mindestens.

Wir müssen reden

Wir müssen reden. So wie Hähne krähen, Störche und Klodeckel klappern, so muss der Mensch reden wo er geht und steht; der Rheinländer mehr, der Westfale etwas weniger. Auch neigen die Damen nach meiner Beobachtung tendenziell etwas mehr zum Wort als die Herren, wobei mir rheinische Frauen grundsätzlich ebenso lieb sind wie westfälische Herren. Doch ist das fremde Wort oft eher eine Last denn ein Quell der Freude, insbesondere das mobil in den öffentlichen Raum gesprochene, erst recht an Orten wie Bus und Aufzug, wo ihm nicht zu entkommen ist. Dieses Lied ist bereits ausgiebig und oft gesungen worden, so dass es sich erübrigt, eine weitere Strophe hinzuzufügen.

Na gut, zwei Erlebnisse mute ich Ihnen noch zu. Das erste begab sich bereits vor Jahren im Warteraum erster Klasse („DB Lounge“) des Kölner Hauptbahnhofs – damals spendierte mir mein Arbeitgeber noch eine erstklassige Bahncard, welche mich auch ohne Fahrschein zum Aufenthalt in selbigem berechtigte. In einem Sessel telefonierte ein Businesskasper lautstark und belästigte die Anwesenden mit albernem Geschäftsgedöns. Dann jedoch sprang er auf, sagte „Warte, ich geh mal raus, die hören hier alle zu, das geht mir extrem auf den Geist“. Sichtlich empört verließ er unter Applaus den Saal.

Das zweite Erlebnis war nur sehr kurz: Abends beim Laufen kam mir ein anderer Läufer entgegen, mit Telefon am Ohr. Im Moment unserer Begegnung hörte ich ihn sagen „… und die Leute labern so viel, boah…“

Doch ist in diesem Zusammenhang in letzter Zeit ein bedenklicher Trend zu erkennen: Hielt der Sprecher vormals sein Gerät ans Ohr und sprach mehr oder weniger laut hinein, so aktiviert er heute den Lautsprecher und hält das Gerät beim Sprechen waagerecht wie ein Schmalzbrot ein bis zwei Hand breit vom Munde entfernt. Somit kommen wir Unbeteiligte nunmehr in den Genuss, das komplette Gespräch zu verfolgen und nicht nur eine Hälfte. Der Begriff Fernsprecher erfährt hierdurch eine neue Definition.

Doch wesentlich unangenehmer als die unbeteiligt-unfreiwillige Zeugenschaft eines Ferngesprächs ist die auf offener Straße entgegen gebrachte Gesprächseinladung, beispielsweise von engagierten jungen Vertretern diverser Tierschutzorganisationen. So ging ich vor Wochen gedankenversunken durch die Bonner Fußgängerzone, als sich mir ein weibliches Exemplar dieser Spezies in den Weg stellte.

„Hallo, ich bin die Kathi“ sagte es hielt und mir die Hand entgegen. Das waren gleich drei Unverzeihlichkeiten: erstens mich auf der Straße anzuquatschen, zweitens mir einen Händedruck aufzunötigen und drittens dem Vornamen einen bestimmten Artikel voranzustellen.

„Ja und?“ antwortete ich so höflich wie der Situation angemessen, die gereichte Hand ignorierend.

„Magst du Tiere?“, fragte Kathi. Ich gebe zu, je älter ich werde, desto mehr schmeichelt es mir, von jungen, mir unbekannten Menschen noch geduzt zu werden, was indes in diesem Fall den Grad des Belästigungsempfindens nur geringfügig schmälerte.

Meine Antwort, das sei letztlich eine Frage der Zubereitung, beendete das Gespräch dann erfreulich schnell.

Letzte Woche sprach mich ein junger Mann auf dem Bahnsteig des Bonner Hauptbahnhofes an:

„Entschuldigen Sie, darf ich Sie ansprechen, oder möchten Sie lieber in Ruhe gelassen werden?“

Allein schon dafür hätte er sich eigentlich den Euro verdient, um welchen mich anzuhalten ihm aufgrund der Oder-Option seiner Frage versagt blieb. An ihm sollten sich Anrufer aller Art und die Zeugen Jehovas ein Beispiel nehmen.

Aufgrund meines oben erwähnten fortgeschrittenen Alters lässt mein Gehör mittlerweile ein wenig nach, gerade bei lauten Hintergrundgeräuschen gelingt es mir manchmal nicht mehr, einem Gespräch zu folgen. „Du musste endlich mal zum Ohrenarzt gehen!“, liegt mir der Liebste schon lange in den Ohren. Doch frage ich mich: Will ich das überhaupt, jedem Gespräch in meiner Umgebung lauschen? Ist es nicht vielmehr ein Attribut höherer Lebensqualität, manches Gesabbel gerade nicht zu verstehen?

Insgesamt hat die Natur den Menschen rein konstruktiv ganz gut hinbekommen, abgesehen davon, was in seinem Kopf vorgeht und zu welchen Handlungen und Gewohnheiten ihn das treibt (Krieg, Religion, Fußball, Pokémon…). Doch verstehe ich eines nicht: Wir können jederzeit unsere Augen schließen, um beispielsweise dem Anblick tätowierter Waden gereifter Frauen zu entgehen. Warum geht das nicht mit den Ohren? Stellen Sie sich vor: Eine unerwünschte Geräuschquelle droht, zum Beispiel eine im hirnreduziert-aufgeregten Tonfall eines Sportreporters oder einer nordkoreanischen Nachrichtensprecherin vorgetragene Radiowerbung für ein Möbelhaus. Sie spannen einen Muskel an, und schon ist es mucksmäuschenstill. Wäre das nicht schön?