Wir müssen reden

Wir müssen reden. So wie Hähne krähen, Störche und Klodeckel klappern, so muss der Mensch reden wo er geht und steht; der Rheinländer mehr, der Westfale etwas weniger. Auch neigen die Damen nach meiner Beobachtung tendenziell etwas mehr zum Wort als die Herren, wobei mir rheinische Frauen grundsätzlich ebenso lieb sind wie westfälische Herren. Doch ist das fremde Wort oft eher eine Last denn ein Quell der Freude, insbesondere das mobil in den öffentlichen Raum gesprochene, erst recht an Orten wie Bus und Aufzug, wo ihm nicht zu entkommen ist. Dieses Lied ist bereits ausgiebig und oft gesungen worden, so dass es sich erübrigt, eine weitere Strophe hinzuzufügen.

Na gut, zwei Erlebnisse mute ich Ihnen noch zu. Das erste begab sich bereits vor Jahren im Warteraum erster Klasse („DB Lounge“) des Kölner Hauptbahnhofs – damals spendierte mir mein Arbeitgeber noch eine erstklassige Bahncard, welche mich auch ohne Fahrschein zum Aufenthalt in selbigem berechtigte. In einem Sessel telefonierte ein Businesskasper lautstark und belästigte die Anwesenden mit albernem Geschäftsgedöns. Dann jedoch sprang er auf, sagte „Warte, ich geh mal raus, die hören hier alle zu, das geht mir extrem auf den Geist“. Sichtlich empört verließ er unter Applaus den Saal.

Das zweite Erlebnis war nur sehr kurz: Abends beim Laufen kam mir ein anderer Läufer entgegen, mit Telefon am Ohr. Im Moment unserer Begegnung hörte ich ihn sagen „… und die Leute labern so viel, boah…“

Doch ist in diesem Zusammenhang in letzter Zeit ein bedenklicher Trend zu erkennen: Hielt der Sprecher vormals sein Gerät ans Ohr und sprach mehr oder weniger laut hinein, so aktiviert er heute den Lautsprecher und hält das Gerät beim Sprechen waagerecht wie ein Schmalzbrot ein bis zwei Hand breit vom Munde entfernt. Somit kommen wir Unbeteiligte nunmehr in den Genuss, das komplette Gespräch zu verfolgen und nicht nur eine Hälfte. Der Begriff Fernsprecher erfährt hierdurch eine neue Definition.

Doch wesentlich unangenehmer als die unbeteiligt-unfreiwillige Zeugenschaft eines Ferngesprächs ist die auf offener Straße entgegen gebrachte Gesprächseinladung, beispielsweise von engagierten jungen Vertretern diverser Tierschutzorganisationen. So ging ich vor Wochen gedankenversunken durch die Bonner Fußgängerzone, als sich mir ein weibliches Exemplar dieser Spezies in den Weg stellte.

„Hallo, ich bin die Kathi“ sagte es hielt und mir die Hand entgegen. Das waren gleich drei Unverzeihlichkeiten: erstens mich auf der Straße anzuquatschen, zweitens mir einen Händedruck aufzunötigen und drittens dem Vornamen einen bestimmten Artikel voranzustellen.

„Ja und?“ antwortete ich so höflich wie der Situation angemessen, die gereichte Hand ignorierend.

„Magst du Tiere?“, fragte Kathi. Ich gebe zu, je älter ich werde, desto mehr schmeichelt es mir, von jungen, mir unbekannten Menschen noch geduzt zu werden, was indes in diesem Fall den Grad des Belästigungsempfindens nur geringfügig schmälerte.

Meine Antwort, das sei letztlich eine Frage der Zubereitung, beendete das Gespräch dann erfreulich schnell.

Letzte Woche sprach mich ein junger Mann auf dem Bahnsteig des Bonner Hauptbahnhofes an:

„Entschuldigen Sie, darf ich Sie ansprechen, oder möchten Sie lieber in Ruhe gelassen werden?“

Allein schon dafür hätte er sich eigentlich den Euro verdient, um welchen mich anzuhalten ihm aufgrund der Oder-Option seiner Frage versagt blieb. An ihm sollten sich Anrufer aller Art und die Zeugen Jehovas ein Beispiel nehmen.

Aufgrund meines oben erwähnten fortgeschrittenen Alters lässt mein Gehör mittlerweile ein wenig nach, gerade bei lauten Hintergrundgeräuschen gelingt es mir manchmal nicht mehr, einem Gespräch zu folgen. „Du musste endlich mal zum Ohrenarzt gehen!“, liegt mir der Liebste schon lange in den Ohren. Doch frage ich mich: Will ich das überhaupt, jedem Gespräch in meiner Umgebung lauschen? Ist es nicht vielmehr ein Attribut höherer Lebensqualität, manches Gesabbel gerade nicht zu verstehen?

Insgesamt hat die Natur den Menschen rein konstruktiv ganz gut hinbekommen, abgesehen davon, was in seinem Kopf vorgeht und zu welchen Handlungen und Gewohnheiten ihn das treibt (Krieg, Religion, Fußball, Pokémon…). Doch verstehe ich eines nicht: Wir können jederzeit unsere Augen schließen, um beispielsweise dem Anblick tätowierter Waden gereifter Frauen zu entgehen. Warum geht das nicht mit den Ohren? Stellen Sie sich vor: Eine unerwünschte Geräuschquelle droht, zum Beispiel eine im hirnreduziert-aufgeregten Tonfall eines Sportreporters oder einer nordkoreanischen Nachrichtensprecherin vorgetragene Radiowerbung für ein Möbelhaus. Sie spannen einen Muskel an, und schon ist es mucksmäuschenstill. Wäre das nicht schön?

Ein Gedanke zu “Wir müssen reden

  1. nicolailevin September 9, 2016 / 12:15

    Du bist nicht allein! Ohrenlider wünschte sich schon in den 20-er Jahren der lärmgeplagte Kurt Tucholsky!

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