Was im August a u c h in der Zeitung stand

Griechenland, Ukraine, Flüchtlinge, Islamischer Staat – das sind die großen Themen, welche die Medien in diesen Wochen füllen. Doch wollen wir auch den eher unbedeutenden Ereignissen einen kleinen Teil unserer Aufmerksamkeit widmen. Hier eine unvollständige und keineswegs repräsentative Auswahl aus dem scheidenden Monat August.

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Glaube und Videospiele – Die „Gamechurch“-Bewegung verbindet Spieltrieb und Spiritus, was weniger absurd ist, als es auf den ersten Blick erscheint: Videospiele und Religion passen aufgrund ihrer fiktionalen Grundlage perfekt zusammen. Die Spieler treffen sich wöchentlich im lippischen Lemgo und sprechen, während sie sich diversen Ego-Shootern widmen, über Glaube und Gott, „aber nur, wenn jemand Bock hat“, so der Gründer der deutschen Sektion; wie oft das der Fall ist und ob überhaupt, weiß der Himmel. Die Gamechurch-Idee kommt übrigens – wie kann es anders sein – aus Amerika.

Ebenfalls aus den USA kam folgende Meldung:

Beziehungs-Aus für Miss Piggy und Kermit – Der Frosch mit dem merkwürdigen Zackenkragen und die divenhafte Sau gaben ihre Trennung bekannt. Dennoch wollen sie weiter zusammen arbeiten.

Womit wir beim nächsten Thema sind.

Mehrheit geht gerne zur Arbeit – Nur jeder achte Arbeitnehmer ist laut einer Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung unzufrieden mit seinem Job – alle anderen gehen mehr oder weniger gerne zur Arbeit. Manche möglicherweise sogar montags.

Vielleicht auch deshalb, weil sie ihre Arbeit bei Musik verrichten dürfen:

Zu Helene Fischer unters OP-Messer – Forscher bewerten die musikalische Untermalung von Operationen als positiv, sowohl für die Operateure, auf die die Musik entspannend wirkt, als auch für die Operierten, deren Schmerz- und Angstempfinden mit Musikbegleitung abnimmt. Ob das auch bei Beschallung durch die Fischerin zutrifft, wage ich zu bezweifeln.

Wer arbeitet, ob gerne oder nicht, braucht ab und zu Urlaub.

Mehrheit der Deutschen gut erholt – Laut dem DAK-Urlaubsreport gab die Mehrheit in einer Befragung an, sich im Urlaub gut oder sehr gut erholt zu haben. 38 Prozent derjenigen, für die das nicht zutraf, nannten „nicht abschalten können“ als Grund, nur 13 Prozent „schlechtes Wetter“. Vielleicht sollten erstere einfach mal einen Blick in die Bedienungsanleitung ihres dienstlichen Mobiltelefons werfen.

Mobiltelefone und Kopien teurer Markenuhren werden in China hergestellt, und nicht nur das:

Chinesen kopieren Goldman Sachs – Rein zufällig wählte eine chinesische Bank, die mit der bekannten amerikanischen Investmentbank nichts zu tun hat, deren Namen. „Wir haben den Namen zufällig ausgewählt, es ist nicht absichtlich derselbe“, so eine Sprecherin. Kann ja passieren.

Nicht nur in China, auch in Spanien gibt es Zufälle:

Blutige Fiesta – Bislang kamen in diesem Jahr zehn Menschen bei Stiertreiben ums Leben, deutlich mehr als in den Vorjahren. Diese Zuname der Todesfälle sei „zufällig“, so ein Organisator. Wie viele Stiere für diesen Unfug ihr Leben lassen mussten, bleibt hingegen offen. Doch trotz Protesten von Tierschützern halten die Spanier an dieser fragwürdigen Tradition fest.

Nicht nur Stiere, auch ihre weiblichen Artgenossen leiden traditionell:

Alarmgeläut gegen die Kuhglocken – Die Kuhglockendebatte aus der Schweiz ist nun auch in Bayern angekommen. Tierschützer verlangen ein Verbot, da die Tiere unter dem permanenten Gebimmel leiden (wie ein Mensch unter der Dauerbeschallung durch Helene Fi… lassen wir das). Das ist natürlich „kompletter Schmarrn“, denn in den Glocken komme der Stolz der Almhirte zum Ausdruck, so Vorsitzende des Alpwirtschaftlichen Vereins im Allgäu: „Das ist Tradition im Allgäu und gehört dazu.“

Manchmal indes bewirken Proteste etwas:

Der runde Bauch ist zurück – Nachdem die zeitgemäße Verschlankung des rothaarigen Kobolds Pumuckl eine Protestwelle nach sich zog, darf er sich nun wieder eine kleine Plauze anfressen.

Es ist schon bemerkenswert, worüber sich Menschen erregen. Erregung in mehrfacher Hinsicht war auch der Auslöser folgender Meldung:

Jugendarrest für Sex im Erlebnisbad – Ein junges Paar (18 und 19) muss ins Jugendarrest, weil sie die Bezeichnung „Erlebnisgrotte“ in einem Augsburger Hallenbad wörtlich nahmen und dort ihren natürlichen Trieben freien Lauf ließen. Das finde ich reichlich übertrieben, andererseits: In Amerika wären sie dafür vermutlich hingerichtet worden. Oder Youporn-Stars, beides ist gleichermaßen möglich.

Alle Jahre wieder – Einen weiteren Grund dauerhafter, mir völlig unverständlicher Erregung beleuchtet folgende Meldung:

Alljährliche Plätzchen-Hysterie – In Kürze stehen wieder Dominosteine, Zimtsterne, Marzipanbrote und Lebkuchen in den Supermarktregalen; damit einhergehen wird die übliche Welle der Empörung und der Boykottaufrufe in den sozialen Hetzwerken. In Österreich soll sogar schon ein Lebkuchenständer in Brand gesetzt worden sein. Dass es heutzutage fast ganzjährig Erdbeeren und Spargel zu kaufen gibt, regt hingegen kaum jemanden auf.

Apropos soziale Hetzwerke:

Eine Milliarde bei Facebook – Erstmals haben eine Milliarde Menschen freiwillig das bekannte Datenmonster genutzt, vermeldet der Chef Zuckerberg stolz. Angesichts des Umgangs mit Schmähungen gegen Flüchtlinge gelingt es mir leider nicht, den Satz „Herzlichen Glückwunsch“ mit aufrichtiger Ehrlichkeit hervorzubringen. Das wird den weiter steigenden Nutzerzahlen nicht im Wege stehen.

Nessun Dorma

Vergangene Nacht träumte mir, ich stehe mit unserem Chor, den Kölner SPITZbuben, auf einer Bühne und wir schmettern unseren größten Hit, die Arie Nessun Dorma von Puccini aus der Oper Turandot. An meiner Seite standen meine Mit-Tenöre M, A und U. Einerseits ergriffen von der Schönheit des Stückes, anderseits aufgrund der Tatsache, dass sich das so niemals wiederholen wird, weil M und A den Chor schon lange verlassen haben, kamen mir noch auf der Bühne die Tränen, wenig später wachte ich mit feuchten Augen auf – das konnte jedoch auch andere Gründe haben. Auch jetzt, im Wachzustand des helllichten Tages, erfüllt es mich mit Wehmut.

Und so klang es. Schön, nicht?

(Übrigens suchen wir dringend neue Mitsänger, vor allem Tenöre.)

Über Schwermut

Das elfte Wort des Blogprojekts *.txt stellt mich vor eine Aufgabe, welche zu erfüllen mir schwer fällt: „Schwermut“. Viel las ich bereits über das Thema Depression, Melancholie und Burn Out, auch kenne ich hiervon betroffene Menschen persönlich, doch blieb ich selbst, der sich nahezu wunschlos glücklich schätzt, bislang davon verschont und ich hoffe sehr, dass mir diese Erfahrung auch künftig erspart bleibt.

Nur vage erahnen kann ich daher, wie es sich anfühlen muss, Lebenszeit in schwermütiger Dunkelheit zu verbringen. Etwa an Tagen, an denen nach weingetränkter Nacht die postalkoholische Melancholie Besitz von mir ergreift: Ich wache auf, nass geschwitzt, von diffuser innerer Unruhe erfüllt, Gedanken an tausend Katastrophen, die mich ereilen könnten und so mein bislang krisen- und schicksalsschlagsverschontes Leben jäh aus der Bahn reißen, hindern mich am entspannten Weiterschlafen.

Oder regelmäßig montags. Das Aufstehen am Morgen ist eine Qual, Körper und Geist laufen noch im angenehmen Wochenend-Modus. Doch es hilft nichts: Mails, Telefon und persönlich anwesende Kollegen und Chefs behelligen mich mit Dingen, welche ich am Freitagnachmittag im Büro zurückließ und mit denen zu beschäftigen mir am Wochenende nicht in den Sinn kam. Wie durch Watte aus Blei versuche ich, die angetragenen Anliegen zu verstehen, zu bearbeiten, einer Lösung zuzuführen, überhaupt Interesse für sie aufzubringen.

Auch der Zustand unglücklichen Verliebtseins, welcher mich in jüngeren Jahren mehrfach ereilte, Tage und Nächte erfüllt von um diese eine begehrte Person kreisenden Gedanken, dabei ohne die geringste Aussicht auf Annäherung, vermag eine zeitlich befristete Depression auszulösen; in manchen Augenblicken gar eine ganz schöne, im nächsten Moment, wenn ich den Angebeteten in Begleitung einer anderen Person sah, schmerzhaft wie eine Herdplatte auf Stufe neun.

Doch so wie die Liebe irgendwann wurzelt, wie der Kater am Sonntag irgendwann seine Krallen einzieht und ich mich erneut empfänglich zeige für ein Abendglas, so geht auch der Montag vorüber, und ab Dienstag wird es ohnehin täglich besser.

Nein, zu diesem Thema vermag ich nichts substanzielles beizutragen, was zu beklagen mir aus naheliegenden Gründen fern liegt.

Über das Reisen

Dieser Aufsatz entstand am sonnigen 14. August im Johannapark zu Leipzig. Eine Reise, die ich von Anfang bis Ende sehr genossen habe.

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Ich war noch niemals in New York, und ich muss da auch nicht hin. Nicht nur deshalb, weil ich Gefangener meiner klischeehaften Annahme bin, alle Amerikaner seien total bekloppt – entweder Waffenliebhaber, evangelikale Extremisten oder Rassisten, oder eine beliebige Kombination aus allen dreien. Vor allem aber, weil ein Aufenthalt in dieser angeblich niemals schlafenden Stadt, allein das schon eine entsetzliche Vorstellung, eine längere Flugreise voraussetzt.

„Ich reise total gerne“ ist eine der häufigsten Aussagen neben „Ich mache total gerne was mit Menschen“, befragt man vor allem junge Leute nach ihren Vorlieben. Diesen Aussagen kann ich nur eingeschränkt zustimmen. Während sich der Umgang mit anderen Menschen nicht gänzlich vermeiden lässt, was grundsätzlich nicht schlimm und in einem bestimmten Rahmen sogar wünschenswert erscheint, reise ich im Allgemeinen nur sehr ungern.

Das beginnt bereits in der Nacht vor der Reise. Egal ob per Bahn, Flugzeug, Auto oder – seltener – Schiff, wohnt eine unschöne Nervosität in mir, welche mich im Halbstundentakt aufweckt und dazu zwingt, auf den Wecker zu schauen, auf dass ich rechtzeitig das Bett verlasse, um pünktlich am Bahnhof oder Flughafen einzutreffen, was im Falle einer Flugreise besonders lästig erscheint, da vor dem Abflug ja noch eine längere Anreise zum Flughafen und eine angemessene Vorlaufzeit für Einchecken und Sicherheitskontrollen und Finden des richtigen Flugsteiges einzukalkulieren sind. Flugreisen mag ich schon deshalb von allen am wenigsten, wobei ich von Flugangst glücklicherweise verschont bin. Außer Landeanflüge – die machen mich immer noch nervös, und auch wenn es verpönt ist, zähle ich zu den Landungsklatschern, wenn auch nur innerlich. Ansonsten ist zu den Unannehmlichkeiten des Fliegens bereits genug geschrieben, gesagt und gefilmt worden, daher spare ich mir und Ihnen hier weitere Ausführungen zu Rückenlehnen und Tomatensaft. Wer mehr dazu erfahren möchte, dem sei die bekannte Szene von Loriot  empfohlen, welche trotz ihrer Entstehung in den Siebzigern bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Für mich bleibt jedenfalls rätselhaft, warum sich Menschen für zehn Stunden oder länger freiwillig in so ein Flugzeug setzen, um ferne Orte zu erreichen, zum Beispiel New York.

Ähnliches gilt für Bahnreisen, worüber schon ganze mehr oder weniger originelle Bücher geschrieben worden sind. Gleichwohl empfinde ich eine Reise im Zug für mich immer noch als die angenehmste Art der Überwindung längerer Strecken. Ich kann dabei lesen, schreiben, die Augen schließen, oder, was mir das angenehmste ist, die durchfahrene Landschaft einfach untätig an mir vorüberziehen lassen, und das stundenlang. Eine Fahrt durch das Mittelrheintal gehört für mich zu den schönsten Genüssen. Die junge Generation kennt das nicht mehr, weil sie von Ein- bis Ausstieg mit ihren Datengeräten beschäftigt ist; Qualitätsmerkmal einer Zugreise ist für sie nicht mehr ein schöner Fensterplatz, sondern WLAN und die Nähe zu einer Steckdose. Ja, auch euch, junge Freunde, sind diese Zeilen gewidmet; solltet ihr während einer Bahnfahrt durch einen dummen Zufall auf diesen Aufsatz geraten sein, so traut euch, nachdem ihr ihn weggeklickt habt, den Blick zu erheben und aus dem Fenster zu schauen, es lohnt sich. Es sei denn, ihr habt das Pech, einen dieser blöden Sitze genau zwischen zwei Fenstern erwischt zu haben, der nur einen Blick gegen die graue Wand gewährt. Wobei es nur noch eine Frage der Zeit sein wird, bis Reisezüge gar keine Fenster mehr aufweisen, zum einen weil sie ohne diese kostengünstiger zu produzieren sind, zum anderen, weil niemand sie vermissen wird, siehe oben. Da immer mehr Güter per LKW transportiert werden, könnte die Bahn dann auch nicht mehr benötigte Güterwagen in einem großen Umbauprogramm einer neuen, sinnvollen Verwendung zuführen. Die örtlichen Nahverkehrsbetriebe machen es bereits vor, indem sie Busse und Bahnen von oben bis unten mit Werbung zukleben, die Fenster flächendeckend bedeckt mit einer netzartigen Folie, welche gerade noch die Unterscheidung ermöglicht, ob es draußen gerade hell oder dunkel ist, nicht jedoch einen Blick auf die städtebaulichen Perlen in München-Neuperlach, Bonn-Tannenbusch oder Bielefeld-Baumheide gewährt.

Doch auch vor Beginn einer Bahnreise steht der Weg zum Bahnhof. Dort angekommen, erwartet den Reisenden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine der folgenden Optionen: Wegen a) Personen im Gleis, b) einer Stellwerk-/Triebfahrzeugstörung oder c) der bekannten, gleichwohl mysteriösen „Verzögerungen im Betriebsablauf“ hat der Zug eine Verspätung von zurzeit fünfundvierzig Minuten. Oder: Wegen Bauarbeiten wird der Zug heute umgeleitet und hält auf der anderen Rheinseite in Bonn-Beuel. Oder: Wegen einer Systemstörung gelten Sitzplatzreservierungen heute leider nicht, wir danken für Ihr Verständnis. Oder gerade der Wagen mit IHRER Reservierung fehlt heute im Zugverband, die Oberzugleitung ist noch auf der Suche nach ihm.

Ein geflügelrädertes* Wort besagt, die Bahn habe vier natürliche Feinde: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Aus eigener Erfahrung möchte ich einen fünften hinzufügen: Hamm in Westfalen. Dort treffen die beiden ICE aus Köln und Düsseldorf kurz nacheinander ein, werden zusammengekuppelt und fahren gemeinsam nach Berlin. Vielleicht liegt es an der traditionellen rheinischen Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf und der daraus notwendigerweise folgenden Nichtvereinbarkeit beider Mentalitäten, ich weiß es nicht, jedenfalls: Das klappt so gut wie nie. Entweder kommt einer der Zugteile mit erheblicher Verspätung an, oder das Zusammenkuppeln führt zu einer technischen Störung, welche die Weiterfahrt um mindestens zwanzig Minuten verzögert. Folgendes trug sich zu:

Mein Zug aus Köln traf planmäßig in Hamm ein, kurz darauf pünktlich der Düsseldorfer. Ein kleiner Ruck, alle einmal kurz genickt, dann waren beide Teile vereinigt. Erste Durchsage: „Wegen einer technischen Störung verzögert sich unsere Weiterfahrt um einige Minuten.“ So weit keine Überraschung. Zweite Durchsage: „Wegen einer Streckensperrung zwischen Bielefeld und Hannover wird unser Zug umgeleitet, voraussichtliche Ankunft in Hannover etwa fünfundvierzig Minuten später.“ Wer nun die Abfahrt des Zuges erwartete, irrte, denn: „Leider besteht die technische Störung immer noch, so dass sich unsere Abfahrt weiterhin verzögert.“ Doch dann die überraschende Auflösung: „Die Streckensperrung ist inzwischen aufgehoben, wir können unsere Fahrt nun planmäßig über Bielefeld fortsetzen.“ Somit kam ich dank der Störung mit nur dreißig statt der angekündigten fünfundvierzig Minuten Verspätung in Hannover an. Das hat wohl irgendwas mit Dialektik zu tun.

Kürzlich erlebte ich eine mir neue Spielart der Hammer Variationen: Beide Zugteile trafen mit nur leichter Verspätung ein, jedoch hielt der Düsseldorfer Zug nicht hinter dem Kölner, sondern neben diesem; irgendein technisches Problem verhinderte seine Weiterfahrt, vielleicht war die Kaffeemaschine im Bordbistro defekt. Somit mussten seine bedauernswerten Fahrgäste in unseren Zugteil wechseln, welcher seine Reise nach Berlin unvereinigt fortsetzen musste, mit einer ungenügenden Anzahl an Sitzplätzen. Daher kurz darauf die Ansage: „Unser Zug ist sehr voll, wir bitten einige Fahrgäste, freiwillig in Bielefeld auszusteigen, Weiterfahrt mit ICE blablabla um dreizehn Uhr wasweißich.“ Zur Belohnung sollten die Freiwilligen im Reisezentrum zu Bielefeld einen Gutschein über fünfundzwanzig Euro erhalten. Wie viele Freiwillige es am Ende gab, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings hatte ich den Eindruck, in Bielefeld seien noch ein paar zugestiegen, vielleicht irre ich mich auch.

Doch auch wenn alles klappt und ich einen wunderbaren Fensterplatz mit Rheinblick mein Eigen nenne, bleibt es kompliziert. Hiermit meine ich nicht die bereits vielbesungenen zwischenmenschlichen Störfälle wie sekttrinkende Damenkegelklubs mittleren Alters, Mobilschwätzer und den Geruch hartgekochter Eier; meine Komplikationen sind eher intrinsischer Natur. Erstens: Reise ich mit Gepäck, so liegt mein Packstück üblicherweise über mir in der Ablage. Da liegt es sicher, gut und stört niemanden. Ein kleiner innerer Dämon zwingt mich dazu, etwa alle zehn Minuten nach oben zu schauen, ob es noch da ist, nicht dass es jemand in einem Moment der Unaufmerksamkeit entwendet hat und sich nun meiner getragenen Socken erfreut, oder es sich aus sonstigen Gründen in Luft aufgelöst hat, heutzutage passieren ja die merkwürdigsten Dinge. Zweitens: mein Misstrauen gegenüber dem Reservierungssystem. Reise ich ohne Sitzplatzbuchung auf einem laut Anzeige freien Platz, so zwingt mich derselbe Dämon, etwa alle fünf Minuten nach der Anzeige zu schauen, ob nicht inzwischen doch eine Reservierung vorliegt und ich in Mainz barsch meines Sitzes verwiesen werde. Das ist relativ praktisch bei Reisen MIT Gepäck und OHNE Reservierung, dann ist das immer nur ein Aufschauen für beide Zwecke.

Es wird Sie nicht interessieren, aber wussten Sie, dass die damalige Deutsche Bundesbahn es ‚Angebotsumstellung‘ nannte, wenn sie Bahnstrecken stilllegte und durch den Bahnbus ersetzte? Auch in der DDR wurden Bahnstrecken stillgelegt, die Deutsche Reichsbahn verkaufte das dann als ‚Verkehrsträgerwechsel‘. Welches von beiden der schönere Euphemismus ist, mag jeder für sich entscheiden. Wechseln auch wir nun den Verkehrsträger und kommen zum Auto.

Reisen mit dem Auto mag ich nicht. Die meisten halten sich für gute, wenn nicht gar die besten Autofahrer. Ich nicht. Ich fahre sehr ungern, und wenn, dann äußerst ungeschickt, dazu stehe ich. Als Mann sagt man so etwas eigentlich nicht, das wäre so, als gäbe man preis, man habe einen winzig kleinen Penis, und den haben wir natürlich nicht, oder, meine Herren? Hö hö. Verlassen wir die Zotenzone schnell wieder, dieses Blog soll sauber bleiben. Zurück zum Verkehr, hö hö. Auch meine Qualitäten als Beifahrer sind begrenzt. Stets fährt der Fahrer zu schnell, zu dicht auf, unnötig auf der linken Spur, er vergisst zu blinken, ignoriert rechts vor links oder fummelt an irgendwas herum. Deshalb sitze ich bei längeren Autofahrten am liebsten hinten.

Aber nicht nur das Reisen an sich, auch der eigentliche Zweck einer Reise, nämlich der Aufenthalt an einem fernen Ort, vermag mich nicht immer mit Dankbarkeit und Freude zu erfüllen. An erster Stelle wären da Geschäftsreisen zu nennen: stundenlange An- und Abreise, womöglich gar mit Übernachtung, für einen Termin von zwei bis drei Stunden. Das Schlimmste daran ist das Aufwachen am Morgen im Hotel und das anschließende Frühstück mit fremden Menschen in einem vollen, lärmenden Frühstückssaal, dazu die in fast allen Hotels lächerlich kleinen Saftgläser, in die man sich wahlweise Orangen- oder Multivitaminsaft zapfen kann. Üblicherweise trinke ich eins direkt an der Zapfstelle, zwei nehme ich mit an meinen Platz.

Urlaub dagegen ist ganz was anderes: Ein bis drei Wochen Südfrankreich sind immer wieder ein Genuss, selbst die zehnstündige Autofahrt dorthin empfinde ich trotz obligatorischem Stau in Lyon nicht mehr als störend, sie ist vielmehr bereits Teil des Urlaubs.

Doch auch die längste Reise ist irgendwann zu Ende. Klingt wie ein mehrfach abgedroschener Kalenderspruch, ist aber so. Manchmal empfinde ich die Ankunft geradezu als schmerzhaft, zum Beispiel wenn der Zug nach einer behaglich beheizten winterlichen Reise am fernen Zielbahnhof ankommt, wo mich eisige Kälte und ein langweiliger geschäftlicher Termin erwarten.

Auch dieser Aufsatz ist nun am Ende. Sofern Sie bis hierhin gelesen haben, entscheiden Sie bitte für sich selbst, ob Sie darüber froh sind oder gerne noch ein wenig weiter gelesen hätten.

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* Flügelrad, das: internationales Symbol der Eisenbahn

Millionen Volt

Den nachfolgenden Aufsatz schrieb ich bereits vor mehr als einem Jahr in unserem südfranzösischen Urlaubsort nach einem heftigen nächtlichen Sommergewitter. Aus gegebenem meteorologischen Anlass erscheint mir heute endlich der Tag gekommen, ihn hier kundzutun.

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Es beginnt mit einem leisen Grollen in der Ferne, für jeweils einige Sekunden, unterbrochen von minutenlanger Stille. Ich werde davon wach, und obwohl es anfangs noch leise und von einem Flugzeug kaum zu unterscheiden ist, hindert es mich am Weiterschlafen. Da ist es wieder, schon ein wenig lauter. Nein, kein Flugzeug. Ich stehe auf, um zu schauen, aus welcher Richtung es kommt. Minutenlang passiert nichts, leichter Wind kommt auf und rauscht durch die Bäume vor dem Haus. Da – im Westen leuchtet der Himmel diffus-blau auf, als hätte ein Fotograf sein Blitzlicht auf die Wolkenfront gehalten, ein allgemeines Aufleuchten der Himmelsrichtung; Sekunden später, weniger als eine halbe Minute, schätze ich, erneutes Grollen, das sekundenlang in der Luft liegt.

Der Wind wird stärker, böiger, ich schließe die Fenster, bleibe dahinter stehen und schaue weiter in Richtung Westen. Die Luft in der Wohnung ist warm und stickig vom vorangegangenen heißen Sommertag, ich schwitze. Ein Blitz, nun klar erkennbar, ein bläulich-weißes gezacktes Lichtband am Horizont, ich beginne zu zählen, eins, zwei, drei… bei zehn klingt es zunächst wie hunderte kleiner Hammerschläge auf eine große Blechplatte, dann rollt dumpfes Grollen über das Haus hinweg bis zum nächsten Höhenzug, wo es scheinbar abprallt und zurück geworfen wird. Der nächste Blitz, heller, näher, nur noch knapp fünf Sekunden bis zum Donner, der nun lauter und aggressiver erscheint. Erste Regentropfen, riesengroß, peitschen gegen die Scheibe, dann setzt jäh starker Regen ein, dessen Rauschen in einen akustischen Wettstreit mit dem Donnergrollen zu treten scheint, derweil Windböen die Bäume ordentlich durchschütteln.

Ich gehe zurück ins Bett, die Wände der Wohnung leuchten immer wieder hell auf. Der Liebste ist inzwischen ebenfalls aufgewacht, murmelt etwas wie „Hast du alles zugemacht“, dreht sich auf die andere Seite und schläft weiter als wäre nichts. Der Glückliche – an Einschlafen brauche ich gar nicht zu denken. Als Kind zog ich mir die Bettdecke über den Kopf, so lange, bis die Luft darunter unerträglich wurde. Dann hielt ich die Hand vor die Augen, damit der Lichtschein der Blitze nicht durch die geschlossenen Augenlider drang. Vor einem Gewitter am Tag hatte ich gehörigen Respekt, Gewitter bei Nacht hasste ich.

Ich gebe zu – daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Während das Schlafzimmer immer wieder erhellt wird und kurz darauf der Donner folgt, denke ich an die Millionen von Volt, die sich mit jedem Blitz entladen, und die potenzielle Zerstörungskraft dahinter. Das Haus hat keinen Blitzableiter, jedenfalls nicht, dass ich wüsste – was, wenn der Schornstein getroffen wird, abknickt und durch das Dach schlägt? Es heißt, der Blitz schlägt in die höchste Stelle ein, so gesehen kann ich beruhigt sein, die Gebäude in der Umgebung sind höher. Aber kann man sich darauf wirklich verlassen?

Angeblich ist die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, geringer als im Lotto zu gewinnen. Ein nur schwacher Trost in diesem Moment, da draußen scheinbar die Ouvertüre zum  Weltuntergang aufbraust. Ein Gewitter aus der Ferne zu betrachten ist faszinierend, ein Gewitter über dem Haus ist bedrohlich, vor allem wenn Blitz und Donner gleichzeitig eintreffen mit einem lauten Schlag, der eher wie eine gezündete Sprengladung anmutet denn wie rollendes Grollen. Gewiss, es gibt zerstörerische Naturgewalten, etwa Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tornados oder Helene-Fischer-Konzerte*, doch verzichte ich gerne darauf, diesen jemals in natura angesichtig zu werden; ein heftiges nächtliches Gewitter reicht mir voll und ganz.

Manche Menschen behaupten, bei Gewitter könnten sie besonders gut schlafen. Aber andere Menschen fahren ja auch gerne Achterbahn, stürzen sich ohne Not, an einem Gummiseil befestigt, von einem Kran, oder fühlen sich gut unterhalten, wenn sie auf RTL 2 Frauentausch anschauen. Einigermaßen beruhigend ist: inzwischen relativ reich an Jahren, habe ich bislang jedes Gewitter überstanden, und mit einiger Zuversicht gehe ich davon aus, dass das noch einige Jahre anhalten wird. Fest steht indes: ein Gewitterfreund werde ich nicht mehr, weder am Tag noch in der Nacht. Lotto spiele ich übrigens auch nicht.

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* Nein, lieber C, ich liege noch nicht unter dem Bett.

Über Fische und Würmer

Die deutschen Arbeitgeber rufen nach einer Reform des Arbeitszeitgesetzes aus dem Jahre 1994, welches eine tägliche maximale Arbeitszeit von acht, ausnahmsweise zehn, sowie eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von achtundvierzig Stunden vorschreibt, außerdem müssen zwischen zwei Schichten mindestens elf Stunden Ruhezeit liegen; an Sonn- und Feiertagen darf grundsätzlich gar nicht gearbeitet werden. So will es das Gesetz.

Ich mag das Arbeitszeitgesetz, so wie es ist. Aber mich fragt ja keiner. Stattdessen ist es für immer mehr Arbeitnehmer selbstverständlich, das Laptop mit nach Hause zu nehmen, nach Feierabend, am Wochenende und sogar im Urlaub Mails zu lesen und zu beantworten, ich kenne selbst genug Bekloppte, die das tun, ohne dass es ausdrücklich von ihnen verlangt wird (ehe mir nun eine saftige Abmahnung droht: Damit meine ich nicht die Chefs – von denen wird das wahrscheinlich erwartet, von ihren Chefs oder irgendwelchen Stakeholdern); Tag und Nacht erreichbar für den Chef, das Team, den Berater, den Kunden. Sie lassen sich locken mit Datengeräten, die sie auch privat nutzen dürfen, wie Fische mit Würmern. Zufällig steigt die Zahl psychischer Erkrankungen immer weiter an, aber das hat sicher andere Gründe, daran ist vielleicht das Internet schuld, die Fifa oder Frau Merkel.

Ich sehe in meiner Arbeit durchaus meistens einen Sinn, auch wenn dieser Außenstehenden nicht immer leicht zu erklären ist, darum vermeide ich es in der Freizeit so weit wie möglich, über die Arbeit zu sprechen. Auch bin ich der Meinung, für das, was ich mache, gut bezahlt zu werden. Und doch: Mein Arbeitsverhältnis ist eine Zweckgemeinschaft, keine Liebesbeziehung. In meinem Arbeitsvertrag stehen vierzig Stunden in der Woche, von Montag bis Freitag, mit sechs Wochen Urlaub im Jahr. Das mit den vierzig Stunden sehe ich nicht so eng, alles andere ist mir heilig. Zudem erwarte ich keine geschäftlichen Anrufe aus den USA oder Asien, und falls doch, dann nur zu meinen üblichen Bürozeiten, nicht um drei Uhr nachts. Da schlafe ich, und wenn nicht, telefoniere ich ganz bestimmt nicht geschäftlich, sondern bin anderweitig beschäftigt.

Heimarbeit, oder Homeoffice, wie viele es auf Neudeutsch nennen, ist mein Lieblingsoxymoron (Neudeutsch hingegen wohl ein Paradoxon, vielleicht auch Euphemismus, lasse mich da gerne belehren). Aber vermutlich bin ich einfach zu alt und festgefahren in den ob meiner inzwischen zahlreichen Berufsjahre verkrusteten Sichtweise. Doch bin ich nicht grundsätzlich gegen die Forderung der Arbeitgeber, gibt es doch zahlreiche Angestellte, die das von ersteren Geforderte für sich als das Richtige erachten. Nur muss es freiwillig sein! Vielleicht mit Ankreuzfeldern im Arbeitsvertrag:

[x] Für mich gilt das Arbeitszeitgesetz in der Fassung von 1994
[  ] Nein Danke, ich arbeite rund um die Uhr

Für mich steht indes fest: Sollte mein Arbeitgeber es eines Tages ermöglichen, dass während meines Urlaubs alle eingehenden Mails ungelesen gelöscht werden, so wie es ein süddeutscher Autohersteller bereits anbietet, so bin ich der erste, der davon Gebrauch machen wird.