Den nachfolgenden Aufsatz schrieb ich bereits vor mehr als einem Jahr in unserem südfranzösischen Urlaubsort nach einem heftigen nächtlichen Sommergewitter. Aus gegebenem meteorologischen Anlass erscheint mir heute endlich der Tag gekommen, ihn hier kundzutun.
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Es beginnt mit einem leisen Grollen in der Ferne, für jeweils einige Sekunden, unterbrochen von minutenlanger Stille. Ich werde davon wach, und obwohl es anfangs noch leise und von einem Flugzeug kaum zu unterscheiden ist, hindert es mich am Weiterschlafen. Da ist es wieder, schon ein wenig lauter. Nein, kein Flugzeug. Ich stehe auf, um zu schauen, aus welcher Richtung es kommt. Minutenlang passiert nichts, leichter Wind kommt auf und rauscht durch die Bäume vor dem Haus. Da – im Westen leuchtet der Himmel diffus-blau auf, als hätte ein Fotograf sein Blitzlicht auf die Wolkenfront gehalten, ein allgemeines Aufleuchten der Himmelsrichtung; Sekunden später, weniger als eine halbe Minute, schätze ich, erneutes Grollen, das sekundenlang in der Luft liegt.
Der Wind wird stärker, böiger, ich schließe die Fenster, bleibe dahinter stehen und schaue weiter in Richtung Westen. Die Luft in der Wohnung ist warm und stickig vom vorangegangenen heißen Sommertag, ich schwitze. Ein Blitz, nun klar erkennbar, ein bläulich-weißes gezacktes Lichtband am Horizont, ich beginne zu zählen, eins, zwei, drei… bei zehn klingt es zunächst wie hunderte kleiner Hammerschläge auf eine große Blechplatte, dann rollt dumpfes Grollen über das Haus hinweg bis zum nächsten Höhenzug, wo es scheinbar abprallt und zurück geworfen wird. Der nächste Blitz, heller, näher, nur noch knapp fünf Sekunden bis zum Donner, der nun lauter und aggressiver erscheint. Erste Regentropfen, riesengroß, peitschen gegen die Scheibe, dann setzt jäh starker Regen ein, dessen Rauschen in einen akustischen Wettstreit mit dem Donnergrollen zu treten scheint, derweil Windböen die Bäume ordentlich durchschütteln.
Ich gehe zurück ins Bett, die Wände der Wohnung leuchten immer wieder hell auf. Der Liebste ist inzwischen ebenfalls aufgewacht, murmelt etwas wie „Hast du alles zugemacht“, dreht sich auf die andere Seite und schläft weiter als wäre nichts. Der Glückliche – an Einschlafen brauche ich gar nicht zu denken. Als Kind zog ich mir die Bettdecke über den Kopf, so lange, bis die Luft darunter unerträglich wurde. Dann hielt ich die Hand vor die Augen, damit der Lichtschein der Blitze nicht durch die geschlossenen Augenlider drang. Vor einem Gewitter am Tag hatte ich gehörigen Respekt, Gewitter bei Nacht hasste ich.
Ich gebe zu – daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Während das Schlafzimmer immer wieder erhellt wird und kurz darauf der Donner folgt, denke ich an die Millionen von Volt, die sich mit jedem Blitz entladen, und die potenzielle Zerstörungskraft dahinter. Das Haus hat keinen Blitzableiter, jedenfalls nicht, dass ich wüsste – was, wenn der Schornstein getroffen wird, abknickt und durch das Dach schlägt? Es heißt, der Blitz schlägt in die höchste Stelle ein, so gesehen kann ich beruhigt sein, die Gebäude in der Umgebung sind höher. Aber kann man sich darauf wirklich verlassen?
Angeblich ist die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, geringer als im Lotto zu gewinnen. Ein nur schwacher Trost in diesem Moment, da draußen scheinbar die Ouvertüre zum Weltuntergang aufbraust. Ein Gewitter aus der Ferne zu betrachten ist faszinierend, ein Gewitter über dem Haus ist bedrohlich, vor allem wenn Blitz und Donner gleichzeitig eintreffen mit einem lauten Schlag, der eher wie eine gezündete Sprengladung anmutet denn wie rollendes Grollen. Gewiss, es gibt zerstörerische Naturgewalten, etwa Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tornados oder Helene-Fischer-Konzerte*, doch verzichte ich gerne darauf, diesen jemals in natura angesichtig zu werden; ein heftiges nächtliches Gewitter reicht mir voll und ganz.
Manche Menschen behaupten, bei Gewitter könnten sie besonders gut schlafen. Aber andere Menschen fahren ja auch gerne Achterbahn, stürzen sich ohne Not, an einem Gummiseil befestigt, von einem Kran, oder fühlen sich gut unterhalten, wenn sie auf RTL 2 Frauentausch anschauen. Einigermaßen beruhigend ist: inzwischen relativ reich an Jahren, habe ich bislang jedes Gewitter überstanden, und mit einiger Zuversicht gehe ich davon aus, dass das noch einige Jahre anhalten wird. Fest steht indes: ein Gewitterfreund werde ich nicht mehr, weder am Tag noch in der Nacht. Lotto spiele ich übrigens auch nicht.
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* Nein, lieber C, ich liege noch nicht unter dem Bett.