Woche 4/2023: Auf Wiedervorlage

Montag: Ein Fachgeschäft in der Bonner Innenstadt wirbt im Schaufenster für „liebevoll gestaltete Brillen“. Vorgärten können liebevoll gestaltet sein, Grabgestecke auch, oder Schutzumschläge von Kinderbüchern. Jedoch Brillen? Was mag das bedeuten? Gestelle in pastellenen Farben, mit handgemalten Ornamenten und sonstigem, für die Unterstützung nachlassender Sehkraft unerheblichem Zierrat? Gläser in Herzform? Vielleicht solche raumfüllenden Teile, wie Elton John sie in den Siebzigern auf der Bühne trug? Es gibt wirklich grauenvolle Brillen, wenn man sich mal umschaut, was die Leute so auf der Nase tragen. Als großer Freund funktionaler Schlichtheit ist das Sortiment dieses Geschäftes vermutlich nichts für mich.

»Somit sind wir mit euch aligned. Same-same …« schrieb mir einer per Mail. Ich weiß nicht, wie es weiterging, nach dem zweiten »same« verließen mich Interesse und Leselust.

In unserem Geschäftsbereich ist es durchaus begrüßenswerte Übung, neue Kolleginnen und Kollegen per Powerpoint-Steckbrief vorzustellen, der per Mail an alle gesandt wird. In einem solchen, der mich heute erreichte, gibt ein junger Kollege als Hobbys „Reisen, Motorsport und Fußball“ an. Im Falle eines persönlichen Zusammentreffens werden wir wohl nur wenige außerdienstliche Gesprächsthemen finden. Muss ja auch nicht, ich spreche ohnehin eher ungern.

»Mahlzeiten allein, was nicht unangenehm.« schrieb Thomas Mann am 23. Januar 1954 in sein Tagebuch. Auch ich aß mittags in der Kantine und tiefer Zufriedenheit meine Currywurst mit Pommes ohne Tischbegleitung und verstehe ihn völlig.

Gleichsam ein Lichtblick zum Feierabend: Als ich das Werk verließ, erschien es mir deutlich heller als noch in der vergangenen Woche zur selben Uhrzeit. Der Sommer naht.

Vielleicht sagt, wer „aligned“ sagt, auch „Happy name day“, wenn er jemandem zum Namenstag gratuliert. Das könnten er heute tun, falls sich im Bekanntenkreis Emerantiana, Ildefons oder Liuthild befindet. Klingt wie Figuren aus den Werken von Tolkien, wobei das nur eine vage Idee ist, da ich von ihm bislang nichts las und in absehbarer Zeit nicht zu tun beabsichtige.

Dienstag: Der erste Blogeintrag des Tages ergab sich bereits vor dem Aufstehen aus einer Radiomeldung über die beginnende Messe Jagd und Hund in Dortmund. Neben dem Erlangen der Meisterschaft im Hirschrufen kann man dort auch eine Safari in Afrika buchen, um Löwen und Elefanten totzuschießen. In Zeiten, da die FDP immer noch damit durchkommt, uns unbegrenztes Autobahnsausen als Freiheit zu erklären und Luxusjachten von der CO2-Abgabe ausgenommen sind, womöglich und vermutlich hat auch da die FDP ihre gelben Finger im Spiel, soll uns derlei nicht wundern.

Eduscho hat keine Schmorschleifen, wurde mir beim ersten Morgenkaffee beschieden, das lasse ich mal so stehen. (Nein, das müssen Sie nicht verstehen.)

Morgens zur blauen Stunde

Per Mail erreichte mich eine nicht ganz zielgruppengerechte Werbung.

(Bitte beachten Sie die letzte Zeile.)

Mittwoch: Jeder hat mal einen schwachen Moment, warum nicht auch ein Radiosender. So bat WDR 4 heute Morgen seine Hörer um die Nennung besonders witziger Abschiedsformeln, woraufhin sich die Hörerschaft mit „Auf Wiesegehen“, „Auf Wiedergestern“ und „Tschüssikowski“ meldete. Fast ebenso witzig fände ich „Auf Wiederkäuen“ (nach dem Restaurantbesuch), „Auf Wiedervorlage“ (nach dem Liebesabenteuer) und „Bis auf Weiteres“ (geht immer). Von einem Anruf bei WDR 4 sah ich aus Zeitgründen ab.

Eine weltweite Netzstörung bei Microsoft soll heute Vormittag zu erheblichen Beeinträchtigungen geführt haben. Bei mir lief alles problemlos, auch Teams. Leider.

In der Kantine gab es unter anderem „Lachsforelle aus Leverkusen“ (im Aspirinsud?) und ein vegetarisches Gericht mit „gerettete Brot Crumble“ als Zutat, wovor auch immer die Brotkrumen gerettet wurden. Vor dem Verzehr jedenfalls nicht, es schmeckte ganz passabel.

Donnerstag: Die für heute angekündigte Eisglätte blieb zumindest hier in Bonn weitgehend aus, derohalben kam ich nach einem Marsch durch feuchtkalte Luft wohlbehalten im Werk an. Nur am Mutterhaus geriet ich etwas ins Rutschen, weil der Boden davor aus architektonischen Gründen teilweise mit Metallplatten belegt ist, die trotz aufgebrachtem Streugut bei diesem Wetter sehr glatt sind.

Vormittags wurde per Textnachricht an meine Muttergefühle appelliert.

Mittags wurde ein Kollege nach einundfünfzig Dienstjahren in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet, mit Ansprache des Vorstands, Sekt und belegten Brötchen. Mit ihm geht ein Urgestein; er hatte es nie nötig, seine Bedeutung durch alberne englische Wortintarsien hervorzuheben, er war auch mit seinem ehrlichen Rheinisch anerkannt bis in höchste Führungsebenen. So etwas dürfte mittlerweile sehr selten sein. Alles Gute weiterhin, lieber G.!

Freitag: Morgens auf dem Weg ins Werk musste ich mit dem Fahrrad vor einer roten Ampel anhalten, was ich überhaupt nicht schlimm finde. (Außer vor Fußgängerampeln, die ich als unverbindlichen Vorschlag ansehe, vermutlich erwähnte ich das bereits gelegentlich.) Heute Morgen jedenfalls stand ich und wunderte mich über das Auto auf der von rechts einmündenden Querstraße, das trotz Grünlicht stehen blieb. Erst als es wieder gelb wurde, fuhr der Wagen bei Dunkelgelb hektisch los. Da war wohl jemand ein wenig abgelenkt vom Datengerät, hm?

Am frühen Nachmittag schaute die Sonne überraschend durch das Bürofenster und sie ließ das Thermometer auf dem Schreibtisch kurzzeitig hochschnellen von achtzehn auf zwanzig Grad. Man soll nie aufhören, sich auch über die kleinen Dinge des Alltages zu freuen.

Aus der Zeitung: »Der wegen des Mordes an dem Münchner Modezaren Rudolph Moshammer verurteilte Iraker ist nach 18 Jahren Haft in Deutschland in sein Herkunftsland abgeschoben worden.« Modezar, Medienmogul, Rockröhre – sie können einfach nicht anders.

Samstag: Eine alteingesessene Bonner Parfümerie gibt den Geschäftsbetrieb auf und lockt deshalb mit Sonderpreisen. Als künstlichen Körperaromen gegenüber eher gleichgültig eingestellter Mensch wunderte ich mich über die lange Schlange vor dem Geschäft. Da ahnte ich noch nicht, dass ich kurz darauf selbst fast eine halbe Stunde lang in der Schlange vor einem Fischstand auf dem Wochenmarkt stehen würde, um wie aufgetragen vier Scheiben Lachs zu erstehen. Bemerkenswert auch der junge Mann vor mir, der offenbar erst als er an der Reihe war anfing zu überlegen, was er eigentlich kaufen wollte, was den Fortgang der Geschäfte nicht gerade beschleunigte. Aber ich hatte ja Zeit und habe nun was zu notieren.

Wie viele Menschen mögen, bevor das Schild angebracht wurde, vor dieser Säule gestanden und sich gefragt haben: Verdammt, wie komme ich jetzt in diesen Laden?

Sonntag: Wegen der Nachwirkung einer karnevalistischer Veranstaltung am Vorabend war der Spaziergang heute erforderlicher als ohnehin. Ich sollte gelegentlich über meinen Alkoholkonsum nachdenken, besser mal ein paar trinkfreie Tage einlegen, es muss ja nicht gleich ein ganzer Monat sein, der „Dry January“ wird gerade vielfach gepriesen. Wäre jetzt, kurz vor Februar, auch etwas spät. Über der Südstadt sah und hörte ich eine kleinere Formation Kraniche auf dem Weg in Richtung Norden und wunderte mich über deren frühe Rückkehr, wobei ich gar nicht weiß, wann sie sonst üblicherweise den Nordflug antreten. Ich an ihrer Stelle wäre jedenfalls noch etwas länger im warmen Süden geblieben. Sie werden ihre Gründe haben. Während meiner Betrachtung flog das Vogel-V unter dem heute auch bei Tageslicht sichtbaren Mond her, das wirkte fast etwas kitschig; bitte denken Sie sich hier ein entsprechendes Foto.

Nach Rückkehr probierte ich mal dieses ChatGBT aus, das zurzeit vielfach Begeisterung und Entsetzen auslöst. Aufgabenstellung: Ein kurzer Text über den Sonntagsspaziergang mit zurückkehrenden Kranichen am Himmel im Stil von Max Goldt. Hier das Ergebnis:

»Der Sonntagsspaziergang war wie immer eine willkommene Abwechslung. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und die Bäume rauschten im Wind. Doch plötzlich, am Himmel, erschienen sie. Eine Schar von Kranichen, die auf ihrem Rückweg in den Süden waren. Sie flogen majestätisch vorbei, ihre Schreie hallten durch die Luft. Es war ein beeindruckender Anblick, als sie sich im Formation flogen und dann in der Ferne verschwanden. Der Sonntagsspaziergang war plötzlich noch viel schöner geworden, dank der zurückkehrenden Kraniche am Himmel.«

Ich weiß ja nicht. Herr Goldt hätte das besser hinbekommen.

Was anderes aus dem Netz: Sagen Sie „Samstag“ oder „Sonnabend?“ – „Saugglocke“ oder „Pömpel“? – „Küsschen“ oder „Bützche“? – „Rotkohl“ oder „Blaukraut“? Diese und andere Fragen können Sie im Dienste der Sprachwissenschaft hier beantworten.

***

Kommen Sie gut durch die Woche. Bis auf Weiteres.

Woche 3/2023: Beschimpfender Unfug

Montag: Als solchen Geräten mit einer gewissen Skepsis begegnender Mensch schenkte ich unserer digitalen Personenwaage im Bad nicht allzu viel Glauben, als sie gestern Morgen ein unplausibel hohes Gewicht anzeigte, zumal es sich wenig später nach dem Duschen um ein halbes Kilo verringerte; soviel Dreck wird da wohl nicht weggebraust worden sein. Heute früh spannten die Knöpfe der Strickjacke deutlich, die vor einem Jahr noch tadellos saß. Sicher ist das auf unsachgemäße Wäsche zurückzuführen. Kann ja nur.

Der Feuilleton-Teil der Tageszeitung enthält an Montagen mittlerweile als festen Bestandteil eine Tatort-Kritik. Mord und Totschlag als Kultur zu betrachten finde ich reichlich unangemessen. Dann bitte auch eine regelmäßige Rezession der neuesten Filme auf XHamster. Ich kann das gerne übernehmen.

Dienstag: Der Rhein hat Hochwasser. Die Anlegestege der Ausflugsschiffe und Rudervereine, üblicherweise Richtung Flussmitte abwärts geneigt, stehen waagerecht oder neigen sich nach oben. Frachtschiffe, auf die man sonst vom Ufer aus herabschaut, fahren auf Augenhöhe. Und es ist kalt, was erstaunlich viele Läufer nicht davon abhält, in kurzen Hosen das noch morgenmüde Auge zu reizen.

Das Leben überrascht manchmal durch erstaunliche Zufälle. Gestern beim Abendessen noch beklagte ich im Kreise der Lieben, dass der neue Kantinenbetreiber keinen Wackelpudding mehr anbietet. Raten Sie mal, was es heute Mittag zum Dessert gab. Vielleicht durch die heimischen Lausch- und Laberdosen, in denen die dämliche Frau Siri wohnt?

Vergangene Woche beklagte ich das jahreszeitlich durchaus begründete Verschwinden der Glühweinbude am Rheinpavillon. Hierbei handelt es sich um eine Gaststätte am Rheinufer im typischen Baustil der Fünfzigerjahre, vermutlich und wenn dann zu recht denkmalgeschützt. Im Obergeschoss befindet sich ein Café, dort hielt ich auf dem Rückweg spontan Einkehr und bestellte einen Pfefferminztee, jaha, ich kann auch ohne Alkohol. Es war voller als es von außen schien, ich fand noch einen Platz mit Blick auf den Fluss. Statt der erwarteten Tasse wurde eine ganze Kanne serviert, daher saß ich etwas länger als geplant, was überhaupt nicht schlimm war; da zu sitzen ist sehr angenehm, man kann während des Verzehrs vorüberfahrende Schiffe und gegenüber am anderen Ufer die Lichter von Beuel betrachten. Hier war ich sicher nicht zum letzten Mal.

Archivbild aus Dezember 2021

»Thee und Bier stellten mich aus der Erschöpfung wieder her«, schrieb passend Thomas Mann heute vor vierundachtzig Jahren ins Tagebuch.

Eine Bierlieferung wurde mir vom Lieblingspaketdienstleister per Mail angekündigt. Die anfängliche Vermutung, da ich nichts bestellt hatte, es könnte sich um eine der üblichen Spam-Mails handeln, bewahrheitete sich nicht. Wer mag die Lieferung veranlasst haben? Ich habe einen vagen Verdacht.

Mittwoch: Warum eigentlich glauben Menschen, sich im Straßenverkehr wie Irre verhalten zu dürfen, denen alle anderen Verkehrsteilnehmer zu weichen haben, sobald sie ein Lastenfahrrad führen?

Auf dem Weg zur Kantine begegnete mir ein ehemaliger Abteilungskollege, der vor geraumer Zeit zum Leiter einer anderen Abteilung ernannt wurde, von der ich nie hörte; seitdem sehe ich ihn nur selten, weil er in einem anderen Gebäudeteil seinem leitenden Wirken nachgeht. Da er den Blick auf sein Datengerät gerichtet hatte und auch zum Zeitpunkt unserer Begegnung nicht davon abließ sah ich davon ab, ihn anzusprechen und auf die Briefe hinzuweisen, die noch in seinem Postfach auf unserem Flur liegen. Man will ja nicht stören.

Nach Rückkehr am Abend war das Bier geliefert, fünf Halbe aus bayrischer Klosterherstellung und ein Glas. Meine Vermutung die Bestellerin betreffend traf zu. Herzlichen Dank, liebe N.!

Donnerstag: Morgens schneite es überraschend heftig, was mich nicht davon abhielt, zu Fuß ins Werk zu gehen. Flockenumtost genoss ich den Gang am allmählich wieder abschwellenden Fluss, gelegentlich begegnet und überholt von Läufern, die der Schnee ebenfalls nicht von ihrem Morgenlauf abhielt und deren Fußspuren schon bald wieder weggeschneit waren. Erst nach Ankunft im Büro bemerkte ich, wie nass die Jacke geworden war.

»Was hast du in deinem Leben über die Liebe gelernt?« lautet die WordPress-Tagesfrage. Nämliches: 1) Wer suchet, der findet nicht; am ehesten findet, in einem unerwarteten Moment, wer nicht sucht. 2) Liebe und Lust sind trennbar, Monogamie wird völlig überbewertet. 3) Aller guten Dinge sind drei. Mindestens.

Freitag: Die Arbeitswoche endete angenehm mit Schnee am Nachmittag, der nur kurz liegenblieb, und einer karnevalistischen Großveranstaltung mit zehn Karnevalsgesellschaften und Musik in der der Bonner Innenstadt, an der ich mangels Uniform nur in begleitender Funktion teilnahm und die in alkoholischer Hinsicht glimpflich endete.

Das Musik-Corps der Fidelen Burggrafen Bad Godesberg, Rück(en)ansicht

Samstag: In Bonn ist laut Zeitungsbericht ein Obdachloser zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er im vergangenen Jahr einen menschlichen Kopf vor dem Bonner Landgericht ablegte, den er zuvor seinem Kumpel abgetrennt hatte, ich erzählte es, Sie erinnern sich vielleicht. Was ihn zu der Tat bewogen hatte, verschweigt er nach wie vor. Dem ursprünglichen Kopfinhaber wird es egal gewesen sein, da er bereits vor dem Kopfverlust infolge einer Krankheit gestorben war. Die Anklage lautet deshalb nur auf „Störung der Totenruhe“. Der hier einschlägige Paragraph 168 des Strafgesetzbuches lautet im Absatz eins: »Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Klingt wie aus einer anderen Zeit. Am besten gefällt mir das mit dem beschimpfenden Unfug.

Nach samstäglichen Besorgungen hielt ich kurze Einkehr in der Lieblingsweinbar, direkt an einer Straßenbahnhaltestelle gelegen. Während des Rieslings sah ich einen Straßenbahnfahrer mit Krawatte, ein sehr seltener Anblick. Die Bus- und Straßenbahnfahrer früherer Zeiten trugen blaue Uniformjacke, Schirmmütze und selbstverständlich Krawatte. Das ist lange her. Heute muss man fast froh sein, wenn sie überhaupt einigermaßen bekleidet sind.

Es ist ein durchaus angenehmes Merkmal fortschreitenden Alters, wenn man am Samstagabend statt aushäusigen Fetenrausches auf ARTE eine Dokumentation über Moose anschaut, eine faszinierende Lebensform, die selbst unter widrigsten klimatischen Unbequemlichkeiten noch gedeiht. Vielleicht sind es Moose, die bald die Weltherrschaft erlangen, nachdem wir uns erfolgreich ausgelöscht haben. Eine noch faszinierendere, geradezu unheimliche Lebensform ist Physarum polycephalum, auch Blob genannt, über den anschließend berichtet wurde. Er verfügt über erstaunliche Intelligenz, obwohl er kein Hirn hat, im Gegensatz zu vielen Menschen, die trotz Hirn nennenswerte Intelligenz vermissen lassen.

Sonntag: Während des Spazierens sah ich am Rhein einen Mann, der mit Flusswasser seinen kleinen Hund hinten reinigte. Der Hund ließ es über sich ergehen, begeistert wirkte er nicht, was bei der Wassertemperatur und überhaupt nachvollziehbar ist.

Auf dem weiteren Weg durch den trüben, sich scheinbar endlos ziehenden Januar sah ich die erste Schneeglöckchenblüte und einen Kleinbus mit der Aufschrift »Es gibt Hoffnung«, was wie ich finde ganz gut zusammenpasst. Außerdem sah ich jede Menge Moos, die Dokumentation gestern Abend hat mir diesbezüglich die Augen geöffnet. Es ist kaum möglich, auch nur wenige Meter durch die Gegend zu gehen, ohne irgendwo die grünen Polster zu erblicken.

Es gibt Menschen, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, über Moose zu forschen. Das muss wunderbar sein.

Ganz wunderbar muss es auch sein, sein Moos zu verdienen mit Schreiben, wenn man es kann wie Max Goldt, der sich ausnahmsweise interviewen ließ, anzuschauen hier:

Ach ja, dies noch:

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche, möglichst ohne Mord, Totschlag und anderen Unannehmlichkeiten.

Woche 2/2023: In dekorativer Funktion

Montag: „Ich hab denen mal ’nen Reminder geschickt, damit die das checken. Nicht, dass wir da noch ein Gap haben“ sagte eine in der Besprechung. Was Leute so reden, wenn sie busy sind, wie es auf Dummdeutsch heißt.

Vergilbte Bilder – was Journalisten so schreiben, wenn sie über Tarifverhandlungen berichten: »Gewerkschaft fordert einen großen Schluck aus der Pulle« – »Fünfzehn Prozent sind ein gehöriges Pfund.« Immer wieder.

Ein eher schiefes Bild aus einem Zeitungsartikel über immer mildere Winter: »Vegetationsperioden beginnen schon deutlich früher. Schaut man diesen Januar in die Vorgärten, so sieht man Schneeglöckchen blühen. Auch die Krokusse machen sich schon auf den Weg«, so ein Meteorologe.

Ein schönes Wort las ich in einem Blog: „Ordnungshut“. Nicht im Sinne einer Kopfbedeckung, sondern im Femininum, gleichsam die Positivform zum Ordnungshüter.

Dienstag: Morgens früh lag ein Hauch von Fäkalaroma in der Luft der Fußgängerzone, die ich beim Weg ins Werk durchquere, woher auch immer das kam. Ansonsten gestaltete sich der Tag insgesamt recht angenehm. Auch der zum Feierabend einsetzende Regen, der mich den Rückweg mit der Bahn statt zu Fuß zurückzulegen nötigte, vermochte die Stimmung nicht zu trüben, zumal ein spontaner Kurzbesuch in der Weinbar für entgangenes Gehglück entschädigte.

»Willst du ewig leben?« lautet die heutige Tagesfrage bei WordPress. Sie ohne nachzudenken spontan zu beantworten fällt mir leicht, wobei ich mich wiederhole: Nein, auf gar keinen Fall. Mir ist rätselhaft, wie man das überhaupt wollen kann, insofern erscheint es verwunderlich, dass so viele Menschen diesbezüglichen Verheißungen diverser Religionen immer noch nachhängen. Also ähnlich wie dem Fußball. Auch ein möglichst langes Leben halte ich nicht für erstrebenswert. Irgendwann ist es vorbei, wenn das Universum es für angezeigt hält, die Atome meines Leibes einer anderen, sinnvolleren Verwendung zuzuführen, und dann ist es gut; viel besser kann es ohnehin nicht mehr werden. Hauptsache es geht schnell, wenn es so weit ist. Da fällt mir wieder ein, dieses Jahr muss ich endlich mal die Patientenverfügung fertigstellen.

Mittwoch: »Das ist noch viel weirder« las ich irgendwo. Es wierd wird immer tiefenbekloppter.

Bleiben wir noch kurz bei Wörtern: Als Unwort des Jahres wurde „Klimaterroristen“ ausgesucht, weil es Menschen, die sich mit nicht ganz gesetzkonformen Methoden für ein wichtiges Anliegen engagieren, gleichsetzt mit anderen, die für ihre nicht immer ehrenwerten Anliegen Mord, Totschlag, Angst und Schrecken anzuwenden keine Hemmungen haben. Eine gute Wahl. Mein Vorschlag für das Langzeitunwort der letzten (mindestens) zehn Jahre ist übrigens „nachhaltig“, weil es durch seinen inflationären Gebrauch zur Klassifizierung aller möglichen „grünen“ (auch so ein Unwort) Maßnahmen keinen Wert mehr hat.

Mittags in der Kantine saßen am Nebentisch zwei Männer, deren einer unentwegt redete. Wieder einmal war ich dankbar für meine leichte Hörschwäche, die mich davor bewahrte, den Inhalt des Geschwafels vollständig mitzubekommen. Wie auch immer: Trotz Dauerredens war sein Teller bald leer. Ein wahrer Oralakrobat.

Ich weiß, man soll nicht … gleichwohl: Wenn man den Namen Großstück liest, fragt man sich schon nach dessen Ursprung.

Donnerstag: Wie ich auf dem Rückweg vom Werk mit Entsetzen zur Kenntnis nahm, ist die Glühweinbude am Rhein inzwischen entfernt.

Am Rhein ist es dennoch schön, auch ohne Glühweinbegleitung

Der Tag endete dennoch nicht allzu trocken mit einem kollegialen Umtrunk im Wirtshaus, …

Freitag: … was den heutigen Werktag etwas mit Müdig- und Antriebslosigkeit überschattete. Glücklicherweise lagen keine anspruchsvollen, dringend zu erledigenden Geschäfte an, die nicht problemlos in neuer Frische auch kommende Woche angegangen werden können. Zudem endete er früh wegen anstehender karnevalistischer Verpflichtungen ab dem Nachmittag.

»Mehr Überflüge: Bürger wollen wachrütteln« übertitelt das Freisinger Tageblatt einen Artikel über Proteste gegen Fluglärm. Manches kann sich selbst ein Büttenredner nicht besser ausdenken.

Einmal Prinz zu sein – Ich wäre sehr dankbar, wenn ich von dem ganzen Gewese um das Buch des Harryprinzen nicht behelligt würde, aber dem ist kaum zu entgehen. Es sei denn, man verzichtete komplett auf Medienverzehr, doch das sehe ich gar nicht ein. Auch Kurt Kister widmet sich in seiner Wochenkolumne diesem Thema, indessen lesenswert:

Grundsätzlich muss man immer vorsichtig sein, wenn Leute, die jünger als 40 sind, Memoiren schreiben – es sei denn, diese Leute wären Alexander der Große oder gar Jesus, die beide in ihren Dreißigern leider memoirenlos starben. Die Memoiren von Jesus wären für den bücherverlegenden, bertelsmannschen Zappelsender RTL ein deutlich besseres Geschäft als die Übernahme des Stern. Vielleicht könnte der RTL-Stern ja wenigstens die Tagebücher von Alexander, dem Makedonenkönig, finden. Schließlich gehört der Penguin-Verlag, in dem Harrys Geisterbuch auf Deutsch erscheint, genauso zum Bertelsmann-Konzern wie RTL. Alles hängt mit allem zusammen, und alle Wege führen nach Gütersloh.

Kurt Kister: „Deutscher Alltag“, zu beziehen hier

Samstag: Rückblickend auf den Vorabend kann die Prunksitzung der Karnevalsgesellschaft Fidele Burggrafen Bad Godesberg e.V., der anzugehören ich die Freude und Ehre habe, derzeit nur in dekorativer Funktion, bei aller Bescheidenheit als sehr gelungen bezeichnet werden. Leichte Unpässlichkeiten in der ersten Tageshälfte werden dafür als unvermeidbares Kollateralleiden gerne in Kauf genommen.

Ein- und Ausmarsch. Beachten Sie den echten ostwestfälische Frohsinn in meinem Gesicht. Alaaf. (Fotos: Stefan Hamacher)

Sonntag: Gesehen am Wegesrand beim Spazieren: Manchmal muss es einfach schnell gehen, da bleibt dann keine Zeit für ordnungsgemäße Entsorgung der Verpackung, wer kennt das nicht.

Auf dem weiteren Weg durch die Südstadt sah ich ein Café mit dem Namen „pie me“. Zunächst hatte ich „pee me“ gelesen und mich ein wenig gewundert, vermutete ich eine Gaststätte dieses Namens allenfalls in sehr speziellen Gegenden von Köln, Berlin oder Amsterdam, jedoch nicht in der mondänen Bonner Südstadt.

In der Fußgängerzone begegnete mir einer mit hochgekrempelten Hosenbeinen, nicht weil es so warm war, sondern er offenbar zeigen musste, was er hatte. Das sah auf den ersten Blick und eine gewisse Entfernung nach einer Prothese aus, das linke Bein war deutlich dunkler als das rechte. Im Näherkommen erwies es sich als flächendeckende Tätowierung ohne erkennbare Konturen, als wäre es in einen Farbtopf gehalten worden. Schönheit liegt ja oft gerade darin, was man nicht sieht.

Ich bin kein Befürworter von Überregulierung, doch wäre ich dankbar für eine verbindliche Vorschrift öffentliche Bücherschränke betreffend, wonach Bücher stets mit gleichgerichteter Rückenbeschriftung einzustellen sind. Von dem ständigen Halshinundherkippen wird man ja ganz wirr.

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Kommen Sie gut durch die Woche. Achten Sie auf Krokusse, die Ihnen über den Weg vor die Füße laufen könnten.

Woche 1/2023: Auf dem Boden der Tatsachen

Montag: Auf den Werkstoiletten wurden zwischen den Jahren Schilder angebracht, man möge beim Verlassen das Licht ausschalten. Für manche müssen halt auch Selbstverständlichkeiten beschildert werden, siehe auch „Nicht vor der Einfahrt parken“ und „Betreten der Baustelle verboten“. Oder „Vorsicht, Heißgetränk“ auf den unsäglichen Pappbechern. Ab heute müssen Kaffeeverkäufer auch Mehrwegbehälter anbieten, allerdings erst ab einer bestimmten Betriebsgröße. Die hippen Wägelchen am Wegesrand dürfen hingegen weiterhin den Gehkaffeedrang der hippen Kundschaft bedienen, der Müll bleibt uns also vorerst erhalten.

Das Wort „Freiheit“ wurde zur Floskel des Jahres erklärt? Mal kurz überlegen: Lindner, Wissing, Buschmann, Kubicki (also der andere) … ja, passt perfekt.

Dienstag: Morgens herrschte interessantes Licht.

„Lass uns mal wieder zusammen Mittagessen“, schreibt einer per Mail. Vorteil der schriftlichen Kommunikation: Durch schlichtes Nichtantworten kann man konkludent zu Ausdruck bringen, dass es keine Eile hat.

Mittwoch: Der angekündigte Regen mit Sturm blieb aus, so kam ich trocken und unbestürmt mit dem Fahrrad ins Werk und wieder zurück. Die Kantine bot mittags Currywurst an Pommes an. Auch sonst gibt es über den Tag nichts Nachteiliges zu berichten. Weiteres auch nicht.

Schauen wir stattdessen zur Abwechslung mal in die Vergangenheit. Heute vor dreißig Jahren, an einem Montag, schrieb ich um halb eins nachts ins Tagebuch: »Ich kann nicht schlafen. Das liegt allerdings eher daran, daß ich zum Abendessen einen Cappuccino getrunken habe als an der an sich erschreckenden Tatsache, daß es nur noch 31 1/2 Stunden bis zur ersten Prüfungsklausur sind.« Nach drei Jahren Beamten-Ausbildung, auch als Vorbereitungsdienst bezeichnet, stand die Laufbahnprüfung für den gehobenen Dienst an. In den nächsten Tagen folgten drei weitere Klausuren sowie im Februar die mündliche Prüfung, dann hatte ich es geschafft. Danach musste ich nie wieder eine größere Prüfung ablegen und ich wäre dem Universum dankbar, wenn sich daran in der verbleibenden Zeit nichts mehr änderte. Auch wenn ich manchmal noch davon träume und danach stets mit einem Lächeln aufwache. – Im Tagebuch ließ ich mich dann noch über meinen Liebeskummer aus und redete mir schriftlich ein, darüber hinweg zu sein, was keineswegs zutraf; vielmehr hielt der Schmerz noch bis lange nach der bestandenen Prüfung an. »Willkommen auf dem Boden der Tatsachen!«, mit diesem schönen Satz endete der Tageseintrag, damit schließe ich auch für heute.

Donnerstag: Die Bonner Stadtreinigung firmiert seit einiger Zeit unter „Bonnorange“. Vielleicht muss das so sein, so wie die Verkehrsbetriebe der Stadtwerke Bielefeld sich schon länger „MoBiel“ nennen, irgendwer wird sich was dabei gedacht haben. Wie komme ich jetzt darauf: Bonnorange hat gegen Ende vergangenen Jahres angekündigt, bei der Papierabholung ab Januar nur noch die Blauen Tonnen zu leeren; weitere Papierabfälle, die daneben gestellt werden, bleiben liegen. Hierdurch, so Bonnorange, sollen die geschundenen Rücken des Personals geschont werden, was zu loben ist. Dies gilt gleichermaßen für Privathaushalte wie für Gewerbetreibende. Bedenken amazonisierter Bürger wie von Ladenbesitzern werden regelmäßig mit Verweis auf die öffentlichen (immer vollen) Altpapierbehälter beantwortet sowie auf die städtischen Wertstoffhöfe (somit mehr Autoverkehr, also nicht im Sinne der Grünen Oberbürgermeisterin). Oder man könne kostenlos zusätzliche Blaue Tonnen anfordern (wenn man dafür Platz hat). Mal sehen, wie lange Bonnorange das durchhält. Warum ich das besinge: Als ich morgens auf dem Weg ins Werk durch die Fußgängerzone ging, lagen vor mehreren Geschäften wie ehedem Kartonagen gestapelt, wenn auch längst nicht so viele wie bisher. Bei Rückkehr am Abend waren sie verschwunden. Wo mögen sie geblieben sein?

Rücken- wie auch alles andere schonend war ein weiterer Bonnorangemitarbeiter tätig, den ich morgens auf dem weiteren Weg am Rheinufer seiner Beschäftigung nachgehen sah. Diese bestand darin, auf dem sandigen Streifen zwischen Geh- und Radweg mit einem Besen etwas auf eine langstielige Kehrschaufel zu fegen, wobei sein Tun weder System noch Ziel erkennen ließ. Er fegte bald hier ein paar Krümel, ging einige Meter, bald fegte er da. Was genau er fegte, war nicht auszumachen, da es noch dunkel war. Und doch war seine Arbeit wahrscheinlich nicht sinnloser als meine an manchen Tagen. Nur wesentlich schlechter bezahlt.

Freitag: Mittags in der Kantine gab es Heringsfilets nach Hausfrauenart. Wie kommen solche Bezeichnungen zustande? Woher kommen Forelle Müllerin, Birne Helene, Kalbshaxe Florida*? Gibt es einen Zentralen Ausschuss für kulinarische Namensgebung (ZAKUNA), der sowas verbindlich festlegt? Ich könnte das recherchieren. Dann erführe ich vielleicht: Am Karfreitag 1951 bemerkte Hertha Böhm in Löhne (Westfalen) erst morgens, dass sie vergessen hatte, einzukaufen, daher suchte sie alles Verfügbare aus Vorratskammer und Kühlschrank zusammen, um ihren Lieben, dem Gatten Albert und den drei Kindern, ein vorösterliches Mahl zu bereiten. Leider fanden sich neben den eingelegten Heringen nur noch zwei Becher Sahne kurz vor Verfallsdatum, eine Zwiebel und ein schrumpeliger Apfel. Kurz vor dem Mittagessen schellte es bei den Böhms, ein berühmter Sternekoch stand vor der Tür, der sich im Eingang vertan hatte. „Kommen Sie doch rein und essen sie mit uns“, bat Frau Böhm ihn herein, unwissend, welche Herdkoryphäe sie vor sich hatte. Dieser Bitte kam der Koch, nach langer Reise hungrig, gerne nach. „Das schmeckt vorzüglich“, lobte er kurz darauf das Fischgericht, „was machen Sie beruflich?“ – „Hausfrau“, antwortete sie wahrheitsgemäß und durchaus stolz auf ihren Stand. – Vielleicht war es auch ganz anders. Es gibt Fragen, die unbeantwortet bleiben dürfen. Wie diese.

*Ja ich weiß, die hat sich Loriot ausgedacht.

Samstag: Frau Gabriele H. aus Königswinter schreibt in ihrem Leserbrief an den General-Anzeiger: »Freiheit, zur Floskel des Jahres gekürt, ist also ein gehaltloses Wort, ohne Relevanz. Die Freiheit der Person, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit, Berufsfreiheit, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit – alles leere Luft? […] Seltsam, dass in vielen Ländern der Welt junge Leute gegen Diktaturen protestieren und unter Lebensgefahr Freiheit einfordern, dieses leere, floskelhafte Wort.« Anscheinend hat sie da etwas nicht richtig verstanden.

Sonntag: Nachmittags ging ich spazieren.

Blick von der Kennedybrücke Richtung Norden
Rheinaue vor Schwarzrheindorf
Friedrich-Ebert-Brücke
Von der Friedrich-Ebert-Brücke Richtung Süden mit Siebengebirge und Mutterhaus

Gefunden in der Sonntagszeitung: Sie erwägen mittelfristig den Kauf eines Grundstücks am Wasser, ohne sich um die Folgen des Klimawandels sorgen zu müssen? Dann ist vielleicht hier was für Sie dabei. »Lassen Sie Ihre Rendite mit dem Meeresspiegel steigen.«

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 52/2022: Nächste Ausfahrt Zierfische

Montag: Driving home from Christmas. Der Junge, der einst meinen Namen trug, freute sich zu Weihnachten am meisten darauf, wenn am Heiligabend nach Gottesdienst und Essen endlich das Glöckchen bimmelte und Einlass gewährt wurde ins Wohnzimmer, wo am Baum die (echten) Kerzen brannten und wir, mein Bruder und ich, uns auf die darunter abgelegten Geschenke stürzen durften. An den Weihnachtsfeiertagen verbrachte ich viel Zeit im Wohnzimmer, betrachte bäuchlings auf dem Teppich liegend den Zug der L.G.B.-Eisenbahn mit der neuen Lok oder den neuen Wagen, wie er Runde um Runde den Baum umfuhr. Oder ich blätterte in dem Eisenbahnbuch, das ich geschenkt bekommen hatte. Schaute immer wieder auf die neue Uhr. Freute mich über den Pullover, eine Muh, eine Mäh oder Tätärätätä. Am zweiten Weihnachtstag fuhren wir mit dem Wagen nach Lämershagen, einem Ortsteil im Südosten von Bielefeld, von wo aus wir durch den Teutoburger Wald flanierten. Von der Brücke über die A 2 aus winkten wir den Autos zu, die sich auf dem Rückweg von den Weihnachtsbesuchen befanden.

Seit ich in Bonn wohne, sitze ich an Weihnachten selbst in einem dieser Wagen auf der A 2. Heiligabend verbringen wir meistens hier in Bonn, am ersten Weihnachtstag geht es los: Nicht allzu lang schlafen, mit einer Spur Widerwillen aufstehen, Geschenke ins Auto packen, dann auf nach Ostwestfalen zur Mutter und weiter zur Schwiegerfamilie. Gut essen, reichlich trinken, die alten Geschichten, lachen, manchmal auch ein Tränchen, Taxi ins Hotel. Morgens Frühstück, wenn es gut läuft ohne Kater (dieses Mal lief es gut), die Mutter nach Hause bringen, zurück nach Bonn. Ankommen, Ruhe. Das ist heute der Moment, auf den ich mich zu Weihnachten am meisten freue. Weihnachten 2022 ist überstanden – rückblickend war es ganz schön.

Er hat es auch hinter sich.

Während der Rückfahrt sah ich kurz vor Hamm auf einem Feld rechts der A2 ein großes Schild: »700 Aquarien – Nächste Ausfahrt Zierfische«. Wie viele Autofahrer mögen dadurch inspiriert werden, in Hamm abzufahren und erst nach Erwerb von einem Duzend Guppys oder Black Mollys ihre Fahrt Richtung Süden fortzusetzen?

Nach Rückkehr ging ich als erstes spazieren, woran mir auch einsetzender Regen nicht die Freude nahm. Bemerkenswert: Bereits heute, am Zweiten Weihnachtstag, liegt gegenüber neben dem Spielplatz der erste Tannenbaum abgelegt. Da konnte wohl auch jemand nicht das Ende vom Fest abwarten.

Was jemanden bewogen haben mag, am unteren Ende unserer Straße zwei Kartons mit Bananen abzustellen, ist schwer nachvollziehbar. Falls die Absicht war, anderen damit Gutes zu tun, darf man diese als im Ansatz verrissen betrachten, denn die Früchte sind dunkelbraun bis schwarz. Wenigstens verzichtete er auf den üblichen Zettel „Zu verschenken“.

Dienstag: Eine Woche Urlaub. Wie einst Opa Hoppenstedt bekam ich zu Weihnachten einen Plattenspieler geschenkt. Den nahm ich heute in Betrieb und bin damit sehr zufrieden.

Mich erreichte eine verspätete Weihnachtsgeschichte, die ich aus persönlichen Gründen sehr schön finde.

Mittwoch: Nach spätem Frühstück unternahm ich einen Gang durch die Innenstadt und an den Rhein. Fußgängerzone und Rheinpromenade waren menschengefüllt, viele haben ebenfalls Urlaub zwischen den Jahren. Am Rheinufer lag ein Hotelschiff aus der Schweiz, im Restaurant auf dem Hinterdeck wurde das Mittagessen gereicht. Die örtlichen Ausflugsschiffe dagegen liegen menschenleer im Winterschlaf bis zur nächsten Saison, bei einem wurde auf dem Oberdeck der Weihnachtsbaum demontiert. Nur wenige Frachtschiffe waren unterwegs. Rheinabwärts brummte ein Boot mit angebautem Kran, beladen mit grünen und orangen Bojen; Tonnenleger nennt man diese Boote meines Wissens. Tonnen gibt es wohl immer zu legen, auch zwischen den Jahren.

Oberhalb des Rheinufers steht im großen Garten einer Villa ein türmchenartiges Ziegelgebäude mit vielen Fenstern. Ich weiß nicht, welchem Zweck es ursprünglich diente. Vielleicht als Teehäuschen oder Gästeunterkunft. Oder als Rückzugsort des Hausherrn, wenn die Lieben daheim mal wieder an den Nerven zerrten; wo Menschen zusammenleben, kommt das gelegentlich vor, Sie kennen das sicher. Wie auch immer: Ich stelle es mir traumhaft vor, ofenbeheizt an einem kalten Wintertag darin im bequemen Sessel ein Buch zu lesen (wenn Sie unbedingt wollen auch ein gutes Buch, ich weiß nicht, warum das immer wieder betont werden muss; wer freiwillig schlechte Bücher liest, ist selbst schuld, wobei die Beurteilung, ob ein Buch gut oder schlecht ist, jedem selbst obliegt), zwischendurch immer wieder den Blick über den Fluss schweifen lassen. Oder am Schreibtisch zu sitzen, dahinter ein Fenster mit Rheinblick. Wem da nichts zu schreiben einfällt, dem ist nicht zu helfen.

Oder einfach nur sitzen und schauen.

Auch müsste ich mir nicht sagen lassen „Du hörst ja komische Musik“, wenn während des Sitzens, Lesens oder Schreibens Pink Floyd läuft. Das haben wir gerne: Erst zu Weihnachten einen Plattenspieler verschenken, dann rummeckern. So eine Langspielplatte läuft übrigens ganz schön kurz, stelle ich fest. Das war mir gar nicht mehr bewusst.

Donnerstag: Vergangene Nacht schlief ich schlecht. Gegen drei Uhr wachte ich auf und schlief längere Zeit nicht wieder ein. Vielleicht war der Körper urlaubsbedingt schlafsatt. Draußen zankten Katzen und schrieen dabei wie angebratene Säuglinge. Während des Wachens zogen diverse Gedanken durch, nichts Bedeutendes und nichts, was in Erinnerung geblieben ist, bis auf die Idee für einen passenden Buchtitel: „Was besorgt den, der keine Sorgen hat?“

Es hätte ein schöner Wandertag werden können. Geplant war eine Tour durch den Bonner Norden, das Meßdorfer Feld und das Vorgebirge maximal bis Brühl. Da Komoot hierfür etwa sieben Stunden veranschlagt, war offen, wie weit ich kommen würde, ehe das Nachlassen von Wanderlust oder Tageslicht eine Beendigung der Wanderung ratsam erscheinen ließen, was dank der parallel verlaufenden Stadtbahnlinie jederzeit möglich wäre. Trotz Schlafmangels kam ich zur vorgesehenen Zeit um kurz nach acht gut aus dem Tuch, der Regen war durch, der Tag versprach trocken, zeitweise sonnig zu werden, perfektes Wanderwetter.

Doch ach: Beim Anziehen der Wanderschuhe waren diese zu klein. Das konnte nicht sein: Ich habe sie im Oktober gekauft und war seitdem zweimal beanstandungslos darin gewandert. Da auch meine Füße seitdem sehr wahrscheinlich nicht gewachsen sind, beschloss ich, dennoch zu gehen, vielleicht glichen sich Schuhe und Füße im Laufe des Tages wieder an. Leider nicht – bei Ankunft am Meßdorfer Feld spürte ich die erste schmerzende Blase an der rechten Ferse, bald darauf auch an der linken. Daher entschied ich mich für den Abbruch und schleppte mich zur nächsten Bushaltestelle, wo bald ein Bus kam und den geschundenen Körper zurück in die Innenstadt brachte, von wo aus ich mich mit letzter Kraft unter Tränen nach Hause schleppte. (Na gut, ganz so schlimm war es nicht, dennoch ärgerte ich mich über den ausgefallenen Wandertag, ohne genau zu wissen, wem oder was das Scheitern in die Schuhe zu schieben war.)

Für ein Bild hat es immerhin gereicht: Das Meßdorfer Feld, dahinter das Vorgebirge.

Statt Wanderung als ein Sofalesetag. Es hätte zweifellos schlimmer kommen können. Und die Wanderung wird so bald wie möglich nachgeholt.

Freitag: Aufgrund interner atmosphärischer Störungen, auf deren Inhalt und Anlass ich nicht weiter eingehen werden, wünschte ich mir vormittags das oben besungene Gartenhäuschen am Rheinufer als vorübergehenden Rückzugsort. Wo so ein Häuschen nicht zur Verfügung steht, muss ein Zimmer mit einer zu schließenden Tür und einer Stereoanlage ausreichen.

Dort hörte ich nach längerer Zeit mal wieder „Mein Vaterland“ von Friedrich Smetana. Was ich mich dabei schon immer fragte: Warum ließ der Komponist das wunderschöne, zu Grundschulzeiten ausgiebig besprochene Stück „Die Moldau“ nach dem sanftleisen Ausklang mit zwei Donnerschlägen enden? Sollte das Publikum im Konzertsaal damit geweckt werden?

Später hörte ich bei noch immer geschlossener Tür die zweite Symphonie von Mahler, ebenfalls länger nicht mehr gehört. In welcher Verfassung mag sich Gustav Mahler während der Entstehung befunden haben? Jedenfalls nicht sehr aufgeräumt. Immerhin, das Finale ist grandios.

In einem Blog las ich die Frage, seit wann man sich zum Jahreswechsel nicht mehr „einen guten Rutsch“ wünscht. Ich weiß nicht, ob man das wirklich nicht mehr tut, vielmehr meine ich, es immer noch häufig zu hören und lesen. Soweit es mich betrifft, meide ich schon lange diese Formulierung, weil ich sie für unsinnig halte. Warum sollte jemand ins neue Jahr rutschen, und worauf? Soll er gar ausrutschen und sich was brechen? Das ist nun wirklich niemandem zu wünschen, weder zum Jahreswechsel noch sonst. Gut, ein paar wenigen vielleicht schon, aber das muss man denen ja nicht mitteilen.

Samstag: Das Jahr verabschiedet sich mit ungewöhnlich milder Temperatur. Auch das häusliche Klima scheint (zum Zeitpunkt der Niederschrift) wieder gemäßigter. Was soll der Zank auch immer.

Wie zu lesen ist, erfreuen sich die Namen Erwin und Kurt wieder größerer Beliebtheit bei der Namensgebung Neugeborener. Schade, dass mein Vater (E) und sein Lieblingsschwager (K) das nicht mehr erleben. Aber vielleicht erheben sie darauf im Jenseits ihr Glas. Bestimmt würden sie das tun.

Ich mag es immer wieder sehr, wenn die Sichtweise anderer bei bestimmten Randthemen mit meiner übereinstimmt:

»Ich habe neulich einen Hörtest gemacht und wenn ich es richtig verstanden habe, sagte man mir, ein Hörgerät wäre sehr sinnvoll für mich, ich glaube aber, ich bin im Moment nicht in der Verfassung, dass ich noch mehr mitbekommen möchte.«

Gelesen bei Frau Anje

„Hey Helene Fischer, spiel Roland Kaiser“, sprach der Geliebte zu fortgeschrittener Stunde zur Siri-Box und wunderte sich über die ausbleibende Ausführung. Ansonsten blieben die Silvester-Feierlichkeiten in angemessenem Rahmen.

Sonntag: Neben einem Asteroiden, der die Erde doch nicht verheerte, nennt die Sonntagszeitung in der Rubrik „Zehn düstere Prognosen, die sich nicht bewahrheitet haben“, wir würden uns nie wieder die Hand geben. Was genau wäre daran so düster gewesen?

Ich verschone Sie mit der in anderen Blogs üblichen Jahresrückblicksfragenliste, da es Sie vermutlich wenig interessiert, was ich gutes oder schlechtes gegessen, ob ich weniger oder mehr Geld ausgegeben habe oder meine Haare länger oder kürzer trage.

Neujahrsgrüße sind jetzt häufig verbunden mit dem Zusatz, 2023 möge ein besseres Jahr werden als das alte, was angesichts der aktuellen Krisen in der Welt nachvollziehbar, jedoch keineswegs wahrscheinlich ist. Gleichwohl kann ich das verblichene 2022 in ganz persönlicher Hinsicht nicht beklagen, insgesamt war es für mich ein recht gutes Jahr. Unsere Corona-Infektion haben wir gut und ohne spürbare Nachwirkungen überstanden, die bislang einzige Auswirkung der Energiekrise ist ein etwas zu kaltes Büro im Werk. Vielen Imponderabilien begegne ich inzwischen mit wachsendem Fatalismus. Wenn es schlimmer nicht wird, bin ich zufrieden. Wir werden sehen.

Spazieren war ich heute auch.

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Ich wünsche Ihnen ein erfreuliches Jahr und eine angenehme erste Woche. Im Übrigen würde es mich sehr freuen, wenn Sie hier weiterhin gelegentlich lesen. Machen Sie es gut!