Woche 11/2023: Ein bisschen Störgefühl und explodierende Baugenehmigungen

Montag: Das Wort zum Montag las ich hier bei Herrn S.: »Hin und wieder tut er einfach so, als würde er sich über irgendeinen Stuss aufregen, redet dann einfach auch mal empört daher. Sonst denken die Leute, man ist keiner von ihnen. Gerade auf Arbeit ist das wichtig.« Besser kann man das Leid der beginnenden Arbeitswoche kaum auf den Punkt bringen.

Worüber ich mich nicht mehr aufrege sind Kollegenanfragen per Teams-Chat, wann ich Zeit hätte, um über irgendeinen Stuss zu sprechen, anstatt kurz in den Outlook-Kalender zu schauen und eine Einladung zu senden. Überhaupt ignoriere ich Teams-Chatnachrichten grundsätzlich; ich benötige neben Mail und Telefon (und zwar in der Reihenfolge) keinen weiteren Kommunikationskanal.

Nach Rückkehr von der Mittagspause roch es in der Eingangshalle des Werks nach nassem Hund. Ein Geruch, der sich mir, obwohl nie Hundebesitzer, eingeprägt hat: Im Schwiegerelternhaus lebte die Labradordame des Liebsten. Aika, so ihr Name, zeichnete sich nicht nur durch nahezu unerschütterliche Gutmütigkeit aus, sondern auch durch ihre Vorliebe für Gewässer aller Art. Näherte man sich mit ihr unangeleint einem Teich, Bach oder einer Pfütze, war sie nicht davon abzuhalten, sich in die Fluten zu stürzen und darin zu toben. Bis sie des Tobens müde zurückkehrte, nass und mit Entengrütze im Fell, und sich erst in unmittelbarer Nähe des Menschen ausgiebig schüttelte. Dementsprechend roch es in dem Haus, noch lange nach ihrem Ableben. Woher der Geruch heute Mittag kam, war nicht zu ergründen, er bestärkte mich indessen darin, vorerst weiterhin von Hundehaltung Abstand zu nehmen.

Dienstag: Bonner Oper und Schauspielhaus erhalten laut Zeitung nunmehr vierzig Millionen Euro jährlich an städtischen Zuschüssen. Vierzig Millionen, damit eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe sich angemessen vergnügen kann. Zu recht, befindet ein Kommentator, schließlich seien die Besucher nicht nur Angehörige elitärer Kreise. Das schließt er daraus, dass das Garderobenpersonal an Opernabenden nicht unter der Last schwerer Nerzmänteln ächze und im Parkhaus nicht nur Porsches stünden. Was man auch mit vierzig Millionen Euro im Jahr tun könnte: vier bis fünf Vorstandsmitglieder von Dax-Konzernen vergüten. Auch darüber rege ich mich nicht mehr auf, ich merke nur an.

Porsche meldete übrigens für das vergangene Jahr eine Steigerung des operativen Ergebnisses um mehr als siebenundzwanzig Prozent. Ich will jetzt nicht schon wieder auf der FDP rumhacken, die kann da vermutlich nichts für. Jedenfalls läuft irgendwas schief.

Ich empfinde es immer wieder als Privileg, bei Bedarf zu Fuß ins Werk gehen zu können. Heute hatte ich Bedarf.

Was Positives: Heute ist Steak-und-Blowjob-Tag, das sollten Sie wissen, Allgemeinbildung ist so wichtig. Für mich gab es indessen mittags Currywurst, geblasen hat nur der Wind ums Mutterhaus, und zwar ziemlich heftig.

Abends fertigte ich einen Tagebucheintrag über das Wetter und menschliche Launenhaftigkeit, den ich hier nicht wiedergeben kann. Ich bitte um Verständnis.

Mittwoch: Für nächste (das heißt, wenn Sie es lesen: diese) Woche Donnerstag einen Inseltag gebucht. Das hebt schon jetzt (da ich es schreibe) die Laune deutlich.

Heute ist Internationaler Tag zur Bekämpfung der Islamfeindlichkeit. Ich bin kein Feind des Islams, doch ich gestehe: Ich misstraue ihm. So wie ich dem Christentum und überhaupt allen Religionen misstraue. Es ist mir rätselhaft, warum derart viele Menschen deren Verheißungen und Märchen Glauben schenken und im Namen dieses Glaubens anderen, die nicht oder anders glauben, die Kehle durchschneiden oder sie auf dem Scheiterhaufen rösteten. Oder ihnen das Recht aberkennen, zu lieben, wen sie wollen. Der Staat muss sich davon fern halten, er darf das nicht unterstützen. Das heißt nicht, dass Religionsgemeinschaften verboten werden müssen. Wenn sie sich treffen wollen, um ihren Gott oder wen auch immer zu preisen, sollen sie das tun. Modelleisenbahn-, Folklore- und Schützenvereine sind ja auch erlaubt, wobei es bei letzteren schon fragwürdig ist, dass sie zur Ausübung ihres Hobbys, das absurderweise als Sport anerkannt ist, scharfe Waffen benutzen dürfen.

Abends wurde ich gefragt: „Kubicki? Haben Sie was mit dem Politiker zu tun?“ Antwort: „Nein. Und wenn, würde ich es nicht zugeben.“

Donnerstag: Deutschland verpasst im Verkehrssektor die Klimaziele, wer hätte das gedacht. Dazu der zuständige Verkehrsminister: „Die Antriebswende ist eingeleitet und ihr Hochlauf nimmt immer mehr zu.“ Zunehmender Hochlauf – dann kann ja nichts mehr schief gehen.

Gehört in einer Besprechung: „Ich hab da ein bisschen Störgefühl.“ Wer nicht, lieber Kollege, wer nicht.

Jedes Jahr freue ich mich erneut an diesem Tag, da Gummar Namenstag hat. Gesetzt den Fall, jemand heißt wirklich so: Wie oft im Leben mag er wohl, während er still seine Eltern verflucht, sagen: „Nein, mit Doppelemm in der Mitte“?

Aus einem Zeitungsartikel: »Immer wieder gibt es Streit und Diskussionen über die Anerkennung von Sportarten. Darts, Schach, eSports – Wir haben Spieler aus der Region mit den Vorwürfen konfrontiert.« Abgesehen von der durchaus berechtigten Infragestellung erscheint die Wortwahl fragwürdig, wenngleich mittlerweile allgemein üblich. Warum bezeichnen die Medien fast jede Meinungsverschiedenheit immer gleich als Streit? Und wieso Vorwürfe? Was ist den Leuten vorzuwerfen, die den oben genannten Beschäftigungen nachgehen? Laut dem Bericht erkennt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) eSports nicht als Sport an, da ihm »ein gemeinnütziger und demokratischer Ansatz« fehle; weiter: »Gewinnorientierte, global agierende Unternehmen stünden im Vordergrund und würden allein über Regeln, Inhalte und Spielformen entscheiden.« Aha. Demnach wäre Fußball auch kein Sport, oder was ist die FIFA anderes als ein gewinnorientiertes, global agierendes Unternehmen, das über alles entscheidet? Sportschützen und -angler werden in dem Artikel übrigens nicht erwähnt. Denen wäre durchaus einiges vorzuwerfen.

Freitag: Aus logistischen Gründen, die darzulegen Ihnen erspart sei, fuhr ich morgens mit der Bahn ins Werk. Mir gegenüber saß ein etwa zwölfjähriger Junge, der mit einem Zauberwürfel beschäftigt war, was man nur noch selten sieht. Er ging dabei mit unglaublicher Geschwindigkeit und Fingerfertigkeit vor, nur kurz vor dem Ziel scheiterte er zunächst und begann von vorne. Fast war ich geneigt, ihn zu fragen, ob ich es mal versuchen darf. Am Ende, kurz bevor er mit seiner Begleiterin ausstieg, gelang es ihm, die Farbenreinheit des Würfels herzustellen, zufrieden packte er ihn in den Rucksack. Ich war beeindruckt. (Beim Aufschreiben war mir so, als hätte ich sowas hier schon mal geschrieben. Und richtig: Im April 2018 notierte ich eine ähnliche Beobachtung.)

„Hat noch jemand einen Nachbrenner?“, so die Frage am Ende einer Besprechung. Was soll das sein? Eine Spirituose? Oder eine Flatulenz?

Samstag: »Baugenehmigungen brechen zu Jahresbeginn ein« titelt die Zeitung. Bei wem und ob sie etwas gestohlen haben, blieb offen.

Ein neues Wort gelernt, gelesen auf einer Erklärungstafel zu einem städtischen Beet am Rheinufer: „Trittsteinbiotop“. So kann man einen geschotterten Vorgarten auch bezeichnen.

Anschrift an einem Schaufenster: »Stricken und Drucken für Bonn«. Neben Menschenketten für den Frieden und Laufen gegen den Hunger nun auch noch das.

Sonntag: Ich habe den Eindruck, die örtliche Rabenpopulation hat in letzter Zeit stark zugenommen. Oder sie „explodiert“, wie die Presse schreiben würde; vermutlich können sogar Baugenehmigungen mit lautem Knall explodieren. Zurück zu den Raben, sie sind mir sehr sympathisch. Das mag früher, also so richtig früher, nicht dieses Siebziger- oder Achtziger-Früher, anders gewesen sein, da wurden sie wegen ihrer Schwärze als Vorboten von Tod und Verderben gehalten*. Wer mag es den Leuten verdenken, wenn sie alles glaubten, was man ihnen erzählte. Es gab ja noch kein Internet.

*Unbelegte und -recherchierte Behauptung

Zum Schluss noch ein paar Bilder der Woche:

Irgendwann wird mich meine Pareidolie in den Wahnsinn treiben
Auch eine repräsentative Adresse entscheidet häufig über den Geschäftserfolg eines Unternehmens.
Mehr Bio ist kaum denkbar, allerdings nur für größere Wohnungen mit toleranter Nachbarschaft empfehlenswert

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die FDP verboten werden muss.

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Gehampel und Glücksgefühl

Nachdem hier in letzter Zeit fast ausschließlich Wochenrückblicke erscheinen, heute mal wieder ein Aufsatz ohne tagesaktuellen Bezug. Das nachfolgende Textlein schlummerte schon seit längerem in den Entwürfen, höchste Zeit, es in des Netzes Weiten zu entlassen.

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Etwas, wozu ich nur noch selten, viel zu selten komme ist Tanzen. Also nicht als Paar: langsamer oder schneller Walzer, Tango, Cha Cha Cha, Foxtrott, all dieses Gehampel, das man mir in der Jugend erfolglos samstagnachmittags in der Tanzschule beizubringen suchte; noch immer denke ich mit Grausen an diese Zeit zurück und an das Glücksgefühl, als nach Grundkurs und Abschlussball diese wöchentliche Pein für mich überstanden war. Ohnehin besuchte ich die Tanzschule nur aus Gruppenzwang und auf mütterliches Flehen, aus mir selbst heraus wäre ich nie auf die Idee gekommen. Bis heute meide ich Aufforderungen zum Tanz, weil ich es nicht kann und nicht will; ebensogut könnte man mich zum Fußballspielen einladen oder vorschlagen, mir mit einem Hammer auf den Daumen zu hauen.

Was ich meine: Ich möchte mal wieder tanzen, alleine mit vielen auf einer Tanzfläche, zu Oasis, New Order, Tears For Fears. Am besten etwas, das ich mitsingen kann, wobei da nicht viel in Frage kommt, da mich Liedtexte nie interessierten und ich sie zumeist nicht verstehe, weder die englischen noch viele deutsche. „Bochum, ich komm aus dir, Bochum, ich häng an dir, aaafrika …“ Egal, Mitsingen macht auch Spaß, wenn es überhaupt keinen Sinn ergibt, jedenfalls solange keiner zuhört. „Sorry for the rock“ statt „Solid like a rock“. Ganz egal, Hauptsache es rockt. Mich im Takt der Musik bewegen, mich fallen lassen im Rausch des Klanges. Auch wenn es vielleicht komisch aussieht, ich weiß, ich bewege mich nicht gerade elegant (weshalb mich mal wer als „Bewegungslegastheniker“ bezeichnete), auch das ist egal, ich muss in der Menge der Tanzenden niemandem gefallen.

Die Zeiten regelmäßiger Tanzgelegenheiten sind lange vorbei, lange bevor Corona alles durcheinanderbrachte. Längst schon fuhren wir an den Wochenenden nicht mehr regelmäßig nach Köln zu irgendwelchen Partys, was ich keineswegs beklage; mit dem Fortschreiten der Jahre steigt das Ruhebedürfnis und man setzt andere Schwerpunkte. Und doch wäre es mal wieder schön.

Wobei, das letzte Mal ist noch gar nicht so lange her, das war am Sonntag nach dem Godesberger Karnevalszoch, als wir vereinsintern noch ein wenig in der Stadthalle nachfeierten. Zwischen den üblichen Karnevalsliedern und zweifelhaften Schlagern („Der Zug hat keine Bremse“) spielte der Musikbeauftragte immer wieder Hits der Achtziger, meiner großen Fetenzeit. Das war fast so schön wie früher, auch wenn es ganz sicher wieder komisch aussah. Das macht nichts. Hauptsache Glücksgefühl.

Woche 10/2023: Jede wie er mag

Montag: „Was gibt es schöneres als Reisen?“ fragte morgens der Mann im Radio. Das ist schnell beantwortet: nicht zu reisen.

Heute vor hundert Jahren wurde Jürgen von Manger geboren, bekannt geworden in der Rolle des Ruhrgebietsbewohners und Menschenerklärers Adolf Tegtmeier, die Älteren erinnern sich vielleicht an ihn, gleichsam Vorfahre von Herbert Knebel. Komisch, an seinem Vornamen haben wir uns seinerzeit nicht gestört, heute undenkbar. Achtung Wortspiel: zu recht.

Laut kleiner kalender ist heute Tag der Tiefkühlkost. Dazu passend betrug die Temperatur im Büro bei Ankunft morgens fünfzehn Grad, im Laufe des Tages stieg sie nicht über siebzehn. Vielleicht war das der Grund für den akuten Arbeitslustverlust, der mich nach dem Mittagessen ereilte und bis in den frühen Nachmittag anhielt. – Bei Twitter las ich von Habecks Heizungsvorstoß und mir wurde sofort warm ums Sprachherz.

Abends hielt ich bei der Fahrradwerkstatt des Vertrauens an, um eine Inspektion zu vereinbaren. Zu meiner Überraschung konnte ich es gleich dort lassen. Nun habe ich für zwei bis drei Tage kein Fahrrad. Das macht nichts, ich habe Schuhe.

Dienstag: Wie bei Wikipedia zu lesen ist, führte im Jahre 1973 die Entdeckung eines Kometen zu einer allgemeinen Kometenbegeisterung. Auch ich bin begeistert: von diesem wunderbaren Wort, auch wenn ich dafür voraussichtlich kaum Verwendung finden werde.

Begrenzt begeistert dagegen von „Jekami“, ein sächliches Substantiv, das laut Duden etwas bezeichnet, bei dem jeder ohne spezielle Voraussetzung mitmachen kann, denn daher kommt es: „Jeder kann mitmachen“. Sollte das jemand in einer Besprechung gebrauchen, wäre ihm ein „Was?“ meinerseits sicher.

Stattdessen heute gehört: „Da müssen wir zeitnah am Ball bleiben.“ Was so gesagt wird, wenn jemand meint, was Bedeutendes sagen zu müssen.

Da ich während der Seuchenzeit fast nie zu Hause arbeitete und immer ins Büro fuhr oder ging, bin ich es seitdem gewohnt, mittags alleine zu essen, entweder, als die Kantine geschlossen war, die Mitnehmgerichte auf einer Parkbank oder im freien Besprechungsraum, später, seit sie wieder geöffnet ist, dort. Und das mittlerweile sehr gerne, wie ich bereits erwähnte. Es ist sehr entspannt gegenüber einer größeren Gruppe Mitesser, deren Gespräche ich wegen des Gemurmels und Gerausche im Hintergrund nur schwer folgen kann und auch gar nicht will. Heute war ich wegen einer Besprechung spät dran und traf beim Verlassen des Büros auf eine Kollegengruppe im Aufbruch zur Kantine, derer mich nicht anzuschließen womöglich das Licht eines sozialen Sonderlings auf mich hätte scheinen lassen, daher ging ich mit ihnen. Doch das Schicksal meinte es wie so häufig gut mit mir: Da nun wieder viele in die Büros kommen, ist die Kantine gegen zwölf dermaßen gut besucht, dass es aussichtslos ist, einen freien Tisch für vier oder mehr Personen zu finden. Daher wählte ich, während die anderen vielleicht noch suchten, nach Inempfangnahme der Bratwurst einen freien Einzelplatz am Fenster und genoss den ungestörten Verzehr.

Mittwoch: Über Nacht kehrte der Winter zurück. Sogar hier in Bonn lag Schnee, der sich erst ab Mittag in Matsch und großflächige Pfützen wandelte. Da es morgens weiterhin schneite, brach ich mein Vorhaben ab, mangels Fahrrad zu Fuß ins Werk zu gehen, und fuhr mit der Bahn weiter; wozu zahlt man immer noch für ein Jobticket, wenn man es nicht wenigstens ab und zu nutzt.

Rätselhafte Spuren im verschneiten Werkshof

Im Büro ist es weiterhin kalt. Wie mir der Hausservice auf Anfrage mitteilte, arbeite man bereits an der Behebung der Heizungsschwäche. Da sich mangels Inspiration warme Gedanken nicht einstellten und diese alleine nur unzureichende Linderung brächten, fragte ich nach einem Heizlüfter, der kurz darauf gebracht und sogleich in Betrieb genommen wurde. Lobenswert, wenn etwas schnell und unbürokratisch erledigt wird. Das Gerät klingt zwar wie ein kleines Propellerflugzeug und roch anfangs etwas streng, aber es wärmt zufriedenstellend. Nicht immer nur meckern.

Unerwartet schnell ging auch die Inspektion des Fahrrades, bereits heute Abend konnte ich es abholen, werde es allerdings angesichts der Wetteraussichten in dieser Woche voraussichtlich nicht mehr benutzen, da bin ich mittlerweile etwas weicheiig.

Dass auch die erstaunlich zahlreichen Menschen, die in der Bahn noch immer Maske tragen, verweichlicht sind, unterstelle ich ihnen keinesfalls, auch wenn ich für mich dazu keine Notwendigkeit mehr sehe. Recht haben sie: Gegenüber einer Infektion mit was auch immer ist eine beschlagene Brille zweifellos das kleinere Übel.

Gedanke: Ist vielleicht die Jahreszeit auch nur ein soziales Konstrukt?

Donnerstag: Morgens spielte „The Show Must Go On“ von Queen im Radio, eins der beiden Lieder, von denen ich mir wünsche, sie werden auf meiner hoffentlich fernen Beerdigung gespielt. (Das andere ist die Arie „Ebben ne andro lontana“ in der Interpretation der Kölner Spitzbuben, zu hören hier:

Wisst ihr bescheid, meine Lieben, wenn mal was passiert, wie man so schön sagt, wenn das Unausweichliche unausgesprochen bleiben soll.)

Noch immer fiel Regen, daher war auch heute die Bahn das Verkehrsmittel der Wahl, um ins Werk zu gelangen. Erst nachmittags ließ es nach, zudem war es unerwartet mild geworden, daher ging ich zu Fuß zurück. Vor dem World Conference Center parkten in großer Anzahl pastellfarbene Autos der Stuttgarter Marke, die augenscheinlich alle einer gewissen Mary Kay gehörten.

Passend zum Wetter hatte der Geliebte morgens schlechte Laune ohne erkennbaren Grund, die sich bis in den Abend zog. Das kommt vor und gibt sich für gewöhnlich früher oder später wieder. Meine Laune dagegen war ganz passabel, auch wegen der Erbsensuppe, die es mittags in der Kantine gab.

Wie kürzlich dargelegt, beabsichtige ich, das Trommeln zu erlernen, um wieder im Musikzug der Karnevalsgesellschaft mitzuwirken. Heute Abend war die erste Unterrichtsstunde, nicht auf einer Trommel, sondern auf so einem flachen, schallarmen Übungsdings, das man am Notenständer befestigt, die Nachbarn wird es freuen. Mein erster Eindruck: Das macht wirklich Spaß.

Freitag: Ich weiß, das klingt vielleicht pingelig, aber zucken Sie auch immer ein wenig, wenn jemand „Stati“ oder gar „Statis“ sagt, wenn er den Plural von Status meint?

Vormittags war Betriebsversammlung mit anschließender Möglichkeit, Fragen zu stellen. Frage des Tages: „Kann man es sich angesichts steigender Kosten künftig noch leisten, für dieses Unternehmen zu arbeiten?“ Fragesteller war keineswegs ein Mitarbeiter der unteren Entgeltgruppen, sondern ein AT-Angestellter, also ein übertariflich bezahlter Kollege. Ich bewunderte die sachliche Gelassenheit, mit der die Personalchefin darlegte, dass in dieser Gehaltsklasse nun wirklich keine baldige Hungergefahr besteht. Ich an ihrer Stelle hätte ihn wohl gefragt, ob er noch bei Verstand ist. Was geht in solchen Menschen vor?

Samstag: Ich fühlte mich leicht matschig im Kopf, obwohl es am Vorabend in alkoholischer Hinsicht im Rahmen geblieben war. Vielleicht liegt es am Wetter: Gestern war es erst trocken, ab Mittag Regen, abends Sturm, später schneite es. Heute hingegen schien die Sonne, als wäre nichts gewesen. Da kann man wohl matschig werden.

Warum es im bayrischen Grünwald nicht angezeigt ist, Tempo dreißig einzuführen, ist hier nachvollziehbar dargelegt. Kurz zusammengefasst: Weil man mit großen Autos gar nicht langsam fahren kann. (Danke an Herrn Fischer für den Link.)

Ich wurde nach meinem zweiten Vornamen gefragt, und ob er eine besondere Bedeutung hat. Ja, ich habe einen: Rainer. Ob er eine besondere Bedeutung hat, weiß ich nicht, nur weiß ich, warum er in meinem Ausweis steht. Das kam so, vielleicht habe ich das bereits erzählt: Bei meiner Geburt wollte mein älterer Bruder, dass ich Rainer heiße, weil sein Schulfreund so hieß. Meine Eltern bevorzugten hingegen Carsten. Da kann man jetzt geteilter Meinung sein, was besser ist, mit Carsten bin ich seitdem recht zufrieden, Rainer wäre auch akzeptabel gewesen, Sie wissen schon, Schall und Rauch und so. Jedenfalls, um ihrem Ältesten entgegen zu kommen, einigten sie sich auf diesen Kompromiss. Später hatte ich selbst einen Schulfreund dieses Namens. Leider trennten sich unsere Wege in den Neunzigern, ich habe lange nichts mehr von ihm gehört. (Lieber Rainer, wenn du das hier lesen solltest, melde dich mal, ich würde mich sehr freuen.) Kleines Detail am Rande: In den Achtzigern fand ich es eine Zeit lang schick, beim Unterschreiben zwischen Vor- und Nachnamen ein „R.“ zu setzen, wie es in Wichtigtuerkreisen üblich ist. Zum Glück habe ich mir diesen Unfug bald wieder abgewöhnt.

Sonntag: Während des Spaziergangs kam es beinahe zu einer Kollision mit einer dem Anschein nach nichtbinären Person. Ich schließe das aus der Kombination einer männlichen Physiognomie mit Rock und Strumpfhosen, vielleicht liege ich mit meiner Vermutung auch daneben. Egal, es liegt mir fern, darüber zu spotten oder nur zu werten; jede, wie er mag. Die Ursache des Beinahe-Zusammenstoßes war nicht (non-)binärer, sondern digitaler Natur, da die Person bis kurz vor unserer Begegnung aufs Datengerät konzentriert war.

Derart konzentrierte Autofahrer (m/w/d) müssen bekanntlich mit Bestrafung rechnen, auch wenn ihr Verteidiger darin einen staatlichen „Eingriff in das grundrechtlich geschützte Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ sieht, wie die Sonntagszeitung berichtet. Immerhin ein netter Versuch.

Der für heute angekündigte Regen blieb oben
An dieser Remise bin ich schon oft vorbeigegangen. Erst heute fiel sie mir auf. Sie ist nicht schön im ästhetischen Sinne, gleichwohl irgendwie zeigenswert, nicht wahr.

Im übrigen bin ich der Meinung, dass die FDP verboten werden muss. Und die CSU, siehe Samstag.

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 9/2023: Was?

Montag: Die Woche begann mit einer Dienstreise nach Göttingen. Mit der Bahn – trotz ihrer Unzuverlässigkeit bleibt sie mein bevorzugtes Verkehrsmittel für längere Strecken. Bei Verlassen des Hauses meldete die Bahn-App eine Verspätung von zehn Minuten wegen eines defekten Stellwerkes. Diese hielt sich bis kurz vor der neuen Abfahrtszeit, dann kam per Ansage die Verlängerung auf ca. fünfundzwanzig Minuten, die Stellwerksstörung war inzwischen zu einem Schaden an der Strecke mutiert. Ich sah es gelassen; da ich keinen Termin mehr hatte, war es egal, wann ich in Göttingen ankam, außerdem saß ich auf einer sonnenbeschienen Bank am Ende des Bahnsteigs, von wo aus ich in aller Ruhe zur Halteposition meines Wagens in Abschnitt F gehen würde, wenn die Einfahrt des Zuges in Aussicht gestellt wird, und fragte mich ein weiteres Mal, welcher Sitzmöbeldesigner aus der Hölle dieses kalte und unbequeme Teil aus Drahtgeflecht zu verantworten hat. Während ich saß und fragte, kam plötzlich und unangekündigt mein Intercity um die Ecke gebraust und nötigte mich zu einem Sprint in Abschnitt F.

Am Fahrtverlauf gab es nichts zu beanstanden. Etwas fragwürdig der Begriff „Komfort Check-in“ dafür, dass ich selbst über die App melde, den reservierten Platz eingenommen zu haben. Worin genau liegt hier der Komfort, und für wen?

Wenige Sitzreihen vor mir hörte jemand Kirchenchormusik, zur Freude der Mitreisenden nicht über Kopfhörer. Mich störte das nicht, jedenfalls nicht mehr als das Dauergequatsche der beiden Damen nebenan, deren eine zwei- oder dreimal die sakrale Musik beklagte, indes nichts dagegen unternahm und weiter mit ihrer Sitznachbarin schnatterte.

Um kurz nach elf teilte mir die DB Reisebegleitung per Mail mit, ich hätte in Hannover eine Minute Anschlusszeit. (Der Streckenschaden vor Bonn hatte sich mittlerweile in eine Bahnübergangsstörung gewandelt.) Eine Minute. In Hannover. Mit Wechsel von Gleis 10 nach Gleis 4. „Das merkt ihr selbst, oder?“ war ich kurz versucht, zu antworten.

Nach einem Halt auf freier Strecke vor Lindhorst war der Anschlusszug in Hannover weg. Das war nicht schlimm, der nächste ICE Richtung Göttingen kam bereits wenige Minuten später, er war angenehm unvoll und brachte mich mit nur fünfzehn Minuten Verspätung gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit am Ziel an. Da kann man nun wirklich nicht meckern.

Dienstag: Tagungsbedingt mangelte es heute an Alleinzeit, um hier was aufzuschreiben, wobei es auch nicht viel Aufschreibenswertes gab. Vielleicht dieses: »Der Hidden-Bar-Trend ist ein Spin-off des international wachsenden Mixology-Booms« war in einem Zeitungsbericht über sogenannte Flüsterbars zu lesen. Manchmal lautet die einzig angemessene Reaktion: Was?

Vielleicht noch dieses, aus der Weinkarte des Hotelrestaurants: »Was du heute kannst entkorken, das verschiebe nicht auf morgen.«

Mittwoch: Zwischen Tagungsende und Abendessen machte ich einen Spaziergang durchs Dorf, das Groß Ellershausen heißt (ein Ortsteil von Göttingen), es ist ganz idyllisch und nicht sehr groß. Es gibt wohl kleinere Ellershausens, sonst hieße es nicht so.

Donnerstag: Es gibt Arbeitstage, mit denen man uneingeschränkt zufrieden sein kann. So einer war heute: Das von mir initiierte und geleitete Arbeitstreffen lief sehr gut; fast möchte ich so weit gehen zu schreiben: Es hat Spaß gemacht. Auch die Bahn zeigte sich ungewohnt zuverlässig: Die Züge waren pünktlich und nicht allzu voll, auch traten keine menschlichen wie sakral-musikalischen Störgeräusche auf.

Abends zu Hause wurde nach dem Abendessen Likör gereicht. Da kann man zufrieden sein.

Freitag: Aus den Tagesnachrichten: Erdogan wird wahrscheinlich wiedergewählt, der weltweite CO2-Ausstoß hat ein Rekordniveau erreicht, die FDP fordert die Produktion von Verbrenner-Motoren über 2035 hinaus (und kommt damit womöglich durch), das Verkehrsministerium erwartet eine Zunahme des LKW-Verkehrs bis 2051 um mehr als die Hälfte (weshalb mehr Autobahnen benötigt werden), der Deutschlandtakt bei der Bahn wird erst 2070 vollständig eingeführt sein. Man braucht schon einen robusten Fatalismus, um nicht zu verzweifeln. Oder hilfsweise Likör.

„Postfiliale nach Raub auf dem Prüfstand“ schreibt das Darmstädter Echo. Journalismus vom Feinsten.

Kurt Kister über die Liebe der Menschen zu ihren Datengeräten:

Manchmal, wenn ich in der Stadt Dinge zu erledigen habe, denke ich an Meeresküsten. Dort nämlich, zum Beispiel auf dem Darß oder auf El Hierro, gibt es diese schiefen Bäume, deren Wuchs dauerhafte Winde zurechtgeblasen haben. Man nennt sie auch Windflüchter. Die Leute, die immer auf ihr Mobiltelefon blicken, während sie gehen, sind auch leicht schief. Sie halten das Gerät in einer Hand, der obere Rücken ist etwas nach vorne gebeugt, der Hals auch, das Gesicht halb nach unten gerichtet. Ich glaube, wenn das jemand drei, vier Jahre lang konsequent macht, wird er oder sie insgesamt auch schief werden. Vielleicht nicht so wie der Wacholder auf den Kanaren. Aber doch merkbar schief. Und in ein, zwei Jahrzehnten wird das große Sonstewas aus vielen Stadtbewohnern Handyschieflinge gemacht haben.

Deutscher Alltag

Samstag: Gestern Abend schauten wir den ESC-Vorentscheid. In diesem Jahr wird in Liverpool also eine alberne, brüllende Rockband unser Land vertreten ganz weit hinten platziert sein. Bezeichnenderweise nennen sie sich „Lord Of The Lost“, somit werden gar nicht erst falsche Hoffnungen geweckt. Ich wüsste nicht, welchem Beitrag ich bessere Chancen zugetraut hätte. Jedenfalls verstehe ich nicht, warum seit Jahren kein deutschsprachiges Lied mehr auf die Bühne gebracht wird, warum immer Englisch? Gut: Dieser Kasper, der sich Ikke Hüftgold nennt, wäre auch nicht besser. Aber wer weiß, man denke an den Auftritt von Gildo Horn 1998. Vielleicht sollte man einfach Barbara Schöneberger dorthin schicken, die die Sendung gestern nicht nur in bewährt-sympathischer Weise moderierte, sondern auch bewies, dass sie ziemlich gut singen kann.

Heute war nur der übliche Samstagskram ohne besonderen Notierenswert.

Sonntag: Den Sonntagsspaziergang vollzog ich heute erstmals mit Musikbegleitung aus den kabellosen Kopfhörern des Liebsten. Das ist einerseits angenehm, besonders bei Liedern, deren Takt dem meiner Schritte entspricht. Andererseits entgehen mir dadurch die Umweltgeräusche, was für viele vor allem junge Menschen ein wesentlicher Grund sein mag, niemals ohne – teils absurd große – Kopfhörer aus dem Haus zu gehen; mir indessen fehlt da was. Deshalb werde ich auch künftig hin und wieder ohne Elektrobeschallung rausgehen.

Der Weinkolumnist der Sonntagszeitung gibt Tipps zum Verschließen nicht leergetrunkener Wein- und Sekt-/Champagnerflaschen. Somit die Lösung für ein Problem, das in unserem Haushalt allenfalls theoretischen Charakter hat.

Zucken Sie auch innerlich ein wenig, wenn jemand „diesen Jahres“ sagt oder schreibt? Dieser und viele weitere beliebte Fehler sind aufgelistet auf der Seite Korrekturen.de, auf die ich ebenfalls durch die Sonntagszeitung aufmerksam wurde. Sich dort ein wenig umzuschauen ist lohnend. (Nicht enthalten ist dort übrigens „lohnenswert“. Auch der Duden führt es auf und findet daran nichts zu beanstanden. Offenbar bin ich der einzige, der das Wort für falsch hält.)

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die FDP verboten werden muss.

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Kommen Sie gut durch die Woche.