Woche 52: So schlimm nun wirklich nicht

Montag: „Vielen Dank euch für das wunderschöne Jahr“, sagte der Projektleiter in einer kurzen Weihnachtsansprache. Motivation kann er.

Statt Weihnachtsmarkt und anschließendem Restaurantbesuch traf sich unsere Abteilung abends auf dem Monitor, erstmals mit bewegten Bildern, woanders längst an der Tagesordnung, von mir bislang nicht vermisst. Zunächst plauderten wir ein wenig und empfingen chefliches Lob, begleitet von Eierlikör, den der Geliebte diskret von der Seite reichte und den ich aus Gründen des Anstandsanscheins außerhalb der Kamerareichweite einnahm. Danach nahmen wir an einem dreistündigen Event teil, bei dem es galt, einen reichlich absurden Kriminalfall um eine entführte Weinkönigin zu lösen, was Menschen so tun und zu bezahlen bereit sind, wenn sie viel Zeit haben. Bereits nach weniger als zehn Minuten verlor ich aufgrund der zahlreichen handelnden Personen und bereitgestellten Informationen erst den Überblick, dann das Interesse an einer Mitwirkung, was nur zu einem sehr geringen Teil auf den Eierlikör zurückzuführen war. Ich glaube, für manches bin ich einfach zu alt, das ist nicht schlimm. Übrigens versagte unsere Gruppe kläglich: Am Ende verglomm die Weinkönigin in einer Explosion und die gesamte Weinernte der Region Rheinhessen wurde durch ein rätselhaftes Gift vernichtet. Wie gesagt, reichlich absurd das ganze. Und drei Stunden können sehr lang sein.

Dienstag: „Was macht das mit den Menschen?“, fragte morgens die Radiotante auf WDR 2 den Bundesgesundheitsminister. Ich habe einen zeitweise empfindlichen Zahn, der dritte oder vierte unten links. An manchen Tagen, ich weiß nicht, wovon es abhängt, vielleicht vom Wetter, dem Luftdruck, dem Hormonhaushalt, was auch immer; an diesen Tagen also durchzieht ihn ein kurzes Stechen, wenn er mit etwas Warmen in Berührung kommt. Dauerhaft hingegen wohnt in mir eine Empfindlichkeit gegen die Frage, was irgendetwas mit irgendwem macht. Jedes Mal, wenn ich das hören oder lesen muss, durchzieht mich ein kurzer, heftiger Schmerz in einer nicht näher zu lokalisierenden Hirnregion.

Sehr gefreut habe ich mich hierüber: „In einem anderen, sehr geschätzten Blog fand ich heute ein kleines Zitat rund um meinen kreativen Umgang mit Personalpronomen und gendergerechten Sprachkonstrukten und ich möchte dazu feststellen: Doch doch, nattürlich lese ich mit!“

Apropos sehr geschätztes Blog – auch schön: „Andere Menschen machen ja überhaupt vieles anders, das ist immer wieder irritierend.“ Gelesen hier.

Mittwoch: Gestern Abend schrieb mir Nachbar- und Leserin M., in diesem Blog würde nur gemeckert und kritisiert. Das liegt mir fern, vielmehr sehe ich mich als einen überwiegend ausgeglichenen und optimistischen Menschen, aber das ist ja immer so eine Sache mit Fremd- und Selbstbild. Nur gibt es halt immer wieder mitmenschliche Verhaltensweisen und Wortgeklingel, die unkommentiert zu lassen mir schwer fällt.

Im Übrigen stimmen Sie mir vielleicht zu, wenn ich behaupte, „In der Weihnachtsbäckerei“ ist ein ganz besonders unnötiges Lied.

Donnerstag: „Das Virus kennt keine Feiertage“, sagte mal wieder einer. Ja. Ich glaube, allmählich haben wir das verstanden und möchten es nicht mehr hören. – „Schöne Freiertage“ war der Verschreiber des Tages; glücklicherweise bemerkte ich ihn vor Absenden der Mail, man weiß ja nie, wie Leute auf sowas reagieren, auch wenn es unbeabsichtigt geschieht.

Den letzten Arbeitstag dieses Jahres beendete ich, wie schon die drei vorausgegangenen, dank ausreichend gefülltem Gleitzeitkonto und weitgehend abgearbeiteter Aufgabenliste frühzeitig, daher kam ich mittags noch vor dem einsetzenden Kaltregen zu Hause an, wo meine Lieben, deren letzte Arbeitstage schon länger zurück lagen, den Frühstückstisch bereitet hatten.

Nun also Heiligabend. In diesem Jahr auffallend ruhig draußen, keine Autos, die sich in unserer engen Straße auf dem Weg in die und aus der Tiefgarage böse gegenseitig anhupen, keine Menschen, die mit vollgepackten Taschen vorübereilen. Nur der Paketbube brachte mittags zwei letzte Pakete, davon eins für mich, worüber ich mich sehr gefreut habe, da es ein unerwartetes Kollegengeschenk enthielt.

Drinnen dagegen zeitweise leichtes Knistern, da Raumpflegedrang und Essensvorbereitungen ein brisant-interessantes Spannungsfeld bildeten.

Doch zog bald festliche Harmonie ein. Am frühen Abend kam es gar zu Gesang mit der Nachbarschaft, selbstverständlich unter Beachtung der gebotenen Abstandsregeln. Auch wenn es sich aufgrund der Qualität nicht unbedingt für die Verbreitung per Tonaufnahme eignete, bereitete es den unmittelbar Beteiligten Freude, aus einem fernen Fenster kam gar Applaus. Wer weiß, vielleicht war das der Auftakt für eine Tradition, die entstehen ja nicht selten aus den seltsamsten Anlässen, siehe Weihnachten.

Freitag: Dieses Weihnachten würde das schlimmste der Nachkriegszeit, hatte unser Ministerpräsident kürzlich behauptet. Statt familiärer Besuchspflichten heute ein Spaziergang, Sofa und Tee. Das ist so schlimm nun wirklich nicht.

Nachmittags wurde ein neues Haushaltsgerät in Betrieb genommen, das seit gestern den heimischen Maschinenpark bereichert.

Samstag: Vor dreißig Jahren, als ich noch evangelischer war, blies ich Trompete im Posaunenchor des CVJM Bielefeld-Stieghorst. Am schönsten fand ich das immer zur Weihnachtszeit; eines der großartigsten Stücke, mit dem traditionell an Heiligabend der Haupt-Gottesdienst um achtzehn Uhr eröffnet wurde (und vielleicht immer noch wird beziehungsweise in diesem Konjunktiv-zwei-Jahr worden wäre), war „Hoch tut euch auf“ von Christoph Willibald Gluck. Noch heute geht mir beim Hören das Herz auf und leichte Feuchte umspielt die Augen. Hören Sie selbst, vielleicht verstehen Sie, was ich meine.

Sonntag: Die Weihnachtswoche endete appetitlos, trübe, kalt und regnerisch. Das hielt mich nicht vom Sonntagsspaziergang ab, wenn auch nur kurz runter an den Rhein und durch die Nordstadt zurück. Ein Sonntag ohne Spaziergang ist für mich mittlerweile so unvollständig wie für andere Weihnachten ohne Amazon. Am Rhein saßen die Möwen zusammen mit ein paar Enten und Tauben, allesamt vom Wind sorgsam in Richtung Süden ausgerichtet, als schauten sie dem Gebläse entgegen und dächten: Menno (oder was Vögel so denken, wenn sie mit der Situation unzufrieden sind), wann hört das endlich auf?

Dies ist gleichzeitig mein voraussichtlich letzter Beitrag zur Blogaktion „Foto der Woche“ von Aequitas et Veritas, die am kommenden Donnerstag endet.

Woche 51: Durch Wald und Feld

Montag: Die Zeitung berichtet von einem Street-Food-Drive-In, der am Samstag irgendwo stattgefunden hat. Wenn ich das richtig verstanden habe, konnte man sich dort Häppchen ins Kraftfahrzeug reichen lassen, um sie andernorts zu verzehren; was Menschen halt so tun, wenn Langeweile sie in die Verzweiflung treibt. Allein schon wegen des Namens wäre ich nicht dort hin gefahren, sonst höchstwahrscheinlich auch nicht.

Im Werk ist es üblich, neue Kollegen mit einem per Mail versandten Steckbrief vorzustellen, eine sinnvolle Einrichtung nicht nur während kontaktarmer Perioden. In einem solchen las ich heute als Hobbys angegeben: „Fußball, Snowboarden und Reisen“. Was würde ich dort angeben? Nichts von vorstehenden, keine Frage; aber was stattdessen? „Lesen, Bloggen, Spazierengehen und Modelleisenbahn“ sind wohl weder sexy noch karriereförderlich; „Porno“ wäre sexy, könnte aber zu Fragen führen.

Ein Kollege kam verspätet in die Skype-Besprechung mit der Begründung „Mein Rechner mag mich heute nicht.“ Das kenne ich, wobei es bei mir meistens umgekehrt ist.

Dienstag: Die Baumärkte bleiben also ab morgen für Gewerbetreibende geöffnet. Das veranlasste WDR 2-Hörer Kevin Pannemann, der vielleicht auch anders hieß, so genau habe ich mir den Namen nicht gemerkt, über das Radio zu fragen, ob das auch für ihn gelte, wenn er noch schnell ein Gewerbe anmelde. Ich werde gelegentlich recherchieren, ob es das Wort „Deppenschläue“ schon gibt.

„Nicht, dass wir uns damit ein Osterei unter den Tannenbaum legen“, hörte ich in einer Besprechung und dachte: warum nicht?

Hier gelesen: „… festgestellt, dass die kleinen Irritation rund um gegenderte Sprache, um das generische Feminium und die gezielt platzierten Brüche im altbekannten Sprachgebrauch ihre Wirkung nicht verfehlen und sogar in anderen Blogs besprochen werden.“ Ich nehme nicht an, gemeint zu sein, da der Verfasser hier vermutlich nicht liest; dennoch fühle ich mich geehrt.

J. K. Rowling ein neues Buch geschrieben und keinen interessiert es, steht im SPIEGEL. Ich weiß nicht, der wievielte Artikel es ist, den ich über ihren angeblichen moralischen Untergang gelesen habe, und doch verstehe ich immer noch nicht, wodurch sie derart in Ungnade gefallen ist. Soweit ich es verstanden zu haben glaube: Sie spricht sich dafür aus, Frauen als solche zu bezeichnen (und nicht, wie welche fordern, als „Menschen, die menstruieren“). Also etwas – ich muss mal eben eine Zahl aus der Luft greifen, bitte warten Sie kurz … schwupp, da hab ich schon eine: Siebenundneunzig – etwas, woran nach meiner unmaßgeblichen Schätzung mindestens siebenundneunzig Prozent aller Frauen (und Männer) keinen Anstoß nehmen. Ja, es gibt Menschen, die allein aufgrund körperlicher Merkmale nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zuzuordnen sind (weshalb [und nicht nur deshalb] ich auch nicht verstehe, warum es in Gaststätten geschlechterseparate Toiletten geben muss, in Zügen geht das ja auch irgendwie so), und welche, die sich im falschen Körper fühlen. Das ziehe ich weder in Zweifel noch ins Lächerliche; gerade das mit dem falschen Körper muss grausam sein. Aber deswegen nicht mehr „Frauen“ und „Männer“ sagen dürfen? Ich bitte Sie.

Mittwoch: Laut Zeitung lehnen die Nato-Staaten einen Vertrag über das Verbot von Atomwaffen ab, „da er das zunehmend schwierige internationale Sicherheitsumfeld nicht widerspiegelt und im Widerspruch zur bestehenden Nichtverbreitungs- und Abrüstungsarchitektur steht“; verbales Schaumgebäck in reinster Form. Doch sorget euch nicht: „Wir unterstützen weiterhin das Endziel einer Welt ohne Atomwaffen“, erklärt der Nato-Rat. Endziel? Heißt das nicht, dass dieses erst erreicht ist, wenn alle Atomwaffen verballert sind? Dieses Jahr ist indes wegen des Böllerverbots nicht mehr damit zu rechnen.

Seine kleine Tochter hätte ihn und seine Frau in der vergangenen Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen, berichtete der Neuvater in der Besprechung. Man liest in diesen Tagen immer wieder die Frage, was es schöneres geben könne als „in leuchtende Kinderaugen“ zu schauen. Dazu hätte ich Vorschläge: ein guter Wein aus Châteauneuf-du-Pape; am Wochenende ausschlafen; ein großer Topf Grünkohl mit Kohlwurst; das Herunterfahren des Rechners am Freitagnachmittag; eine Wanderung durch Wald und Feld; nach zehn Stunden Autofahrt die erste Pizza im südfranzösischen Urlaubsort; das erste Glas Saft am sonntäglichen Frühstückstisch. Vieles mehr fiele mir dazu ein.

Auch nach einem Arbeitstag mit neun Besprechungsterminen erwarten die Lieben daheim zu recht noch eine gewisse verbale Zuwendung. Der antinatalistisch geprägte Hedonist in mir fragt sich: Wie schaffen das eigentlich Eltern täglich, ohne die Beherrschung zu verlieren?

Donnerstag: Bekanntlich nehmen Radiosender selten Rücksicht auf des sensiblen Hörers Befindlichkeit. Das gilt auch und besonders für den Redakteur meines Hirnradios, umgangssprachlich auch Ohrwurm genannt. Von daher ertrug ich das stundenlang tönende Lied vom rotnäsigen Rentier namens Rudolph in resigniertem Gleichmut.

Freitag: Ein gewissenhafter Arbeitnehmer baut Urlaub noch im laufenden Jahr ab. Als ich aus diesem Grunde vor zwei Wochen diesen Tag dafür vorsah, war dessen sonnige Milde nicht absehbar. Als ich vor acht Wochen die Wahner Heide durchwanderte, beschloss ich: Hier war ich nicht zum letzten Mal. Was lag näher, als beides zu verbinden, und allso tat ich. Mit der (angenehm leeren) Bahn fuhr ich bis Rösrath, von dort aus durchquerte ich die mittlerweile weitgehend entlaubte Heide bis Troisdorf. Trotz teilweise schlammiger Pfade war es beglückend. Doch sehen Sie selbst.

Samstag: Während des Brausebades am Morgen sang im Radio Chris Rea sein „Driving Home For Christmas“. Da dachte ich: Dieses Jahr nicht, und lächelte kurz.

Sonntag: In meinen Notizen steht das Wort „Glühweindebatte“ als Themenidee für den Fall, dass mir der Blogstoff ausgeht; allerdings erinnere ich mich nicht mehr, warum ich es notierte, ist doch zum Thema Glühwein als typisch deutsches Kulturgut, von den einen geliebt, den anderen verschmäht, in zahlreichen Kolumnen alles Wesentliche geschrieben, dem habe ich nichts Neues hinzuzufügen. Weder bin ich ein glühender Verehrer dieses Trunks, noch lehne ich ihn ab; nach dem zweiten Becher fällt die persönliche Genusskurve üblicherweise ab, daher vermisse ich ihn in diesem Jahr nicht besonders. Und das mit diesen „Glühwein-Wanderwegen“ hat sich ja auch inzwischen erledigt.

Ansonsten in dieser Woche gehört & notiert:

„Dann ist aber Schlesien geschlossen!“ (als Alternative zu „Polen offen“)

„Da warste wieder auf mich ein am reden wie ein krankes Pferd.“ (Rheinisches Partizip)

Foto der Woche: Danke!

Die Aktion „Foto der Woche“ von Aequitas et Veritas läuft bis zum 31. Dezember. Jede Woche zeigt man ein Foto und schreibt was dazu, etwa wann und wo man es gemacht hat, warum man es zeigt oder welche Gedanken man damit verknüpft.

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Immer noch stolz zeugt der Adler an der Wand des alten Paketpostamts am Kaiser-Karl-Ring von der Zeit, als die Post eine Bundesbehörde war. Seine Zukunft ist indes ungewiss wie die des Gebäudes – die Post hat keine Verwendung mehr dafür; Fenster und Türen sind mit Sperrholzplatten verrammelt, die Wände beschmiert. Vielleicht ist er ja auch stolz auf die zahlreichen gelben Wagen, die an ihm vorbeifahren, und auf deren Fahrer, die in diesen Tagen Unglaubliches leisten. Und er denkt: Danke!

Woche 50: Et nütz jo nix

Montag: „Grundlos betrübt“ wäre die Antwort gewesen, hätte man mir ein Mikrofon entgegengehalten mit der Aufforderung, meine Tagesstimmung in zwei Worten zu beschreiben. Solche Tage darf es auch geben, auch und gerade in Zeiten allgegenwärtigen Lichterglanzes. Ja ich weiß, „Weihnachtsa…loch“ und so.

Woanders hingegen beste Laune: „Ski und Rodel gut“ vermeldet die Schweiz, die nicht daran denkt, ihre Skigebiete zu schließen, warum auch, ist ja alles ganz sicher. Woher kommt eigentlich diese lahme Phrase, die seit ewigen Zeiten von so vielen, allen voran Journalisten, nachgeplappert wird, und was bedeutet sie? Wohl nicht dieses: „Jetzt ist es aber auch mal gut damit.“ Etwas mehr Phantasie beweisen die, die dazu heute nämliches in die Zeitung schrieben: „Skiorte gelten vielen Gesundheits-Experten als potenzielle Virusdrehscheiben.“ Virusdrehscheibe – das ist doch mal ein schönes Wort. Wer denkt da nicht sofort an die bekannte Kugel mit den lustigen Nöppchen, vielleicht versehen mit einem frechen Gesicht, wie sie, von einer Schneekanone berieselt, auf einem rotierenden Teller sitzt und „Huiii …“ ruft?

Dienstag: Die Wissenschaft fordert die Politik auf, die Kontaktbeschränkungen massiv zu verschärfen. Ich hege die vage Ahnung, demnächst viel mehr Zeit zu Hause zu verbringen.

Das hält andere nicht davon ab, weitere Büros zu bauen, wobei auch und gerade in der Immobilienbranche ein gesundes Selbstbewusstsein kein Nachteil sein muss.

Mittwoch: Morgens kurz nach Abfahrt ins Werk bemerkte ich, dass ich mein Telefon auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Weder verspürte ich den unbezwingbaren Drang, deswegen umzukehren, noch trieb mich tagsüber Versäumnisangst in den Wahnsinn, was ich als Zeichen einer gewissen analogen Robustheit werte. Die Angst, ohne Mobiltelefon zu sein, heißt übrigens „Nomophobie“.

Ein anderes schönes Wort, das ich heute lernte, ist das Adjektiv „bacchantisch“, es bedeutet ausgelassen, überschäumend, trunken. Also das Gegenteil von Montagmorgen.

Wie ich schon ausführte, begegne ich dem Bemühen um möglichst geschlechtsneutrale Sprache durchaus mit Verständnis, auch wenn ich an dem sich zunehmender Unbeliebtheit ausgesetzt sehenden General-Maskulinum nichts Anstößiges erkenne. Das sich stattdessen immer größerer Beliebtheit erfreuende weibliche Pendant finde ich hingegen – freundlich ausgedrückt – gewöhnungsbedürftig. In einem Blog las ich nun diese zweifelhafte Mischform: „Wenn Sie also mit einem Menschen zu tun haben, die vielleicht ausweichend antwortet …“. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich vorläufig weiterhin männlich schreibe, auch wenn ich beides meine. Das ist weder böse noch abwertend gemeint.

Donnerstag: Wie der Zeitung zu entnehmen ist, heißt der Baden-Württembergische Umweltminister Franz Untersteller. Ob der Name wohl ausschlaggebend für seine Berufswahl zum Politiker war? Vielleicht hatte er auch zunächst eine Karriere als Staatsanwalt erwogen. (Ja ja, schon gut, man macht sich nicht über Namen lustig, ich weiß. Wo ich gerade dabei bin: Im Fernsehen tat kürzlich der Kulturwissenschaftler Peter Peter sein Wissen kund. Entweder hatten seine Eltern einen sehr speziellen Humor oder sie waren zu beschäftigt, einen separaten Vornamen auszuwählen. Wenigstens muss er sich niemals fragen lassen, welches der Vorname ist, im Gegensatz dazu, wenn man etwa Karl Arnold oder Martin Simon heißt.)

Kälte war morgens mein Begleiter auf dem Fußweg ins Werk.

So wie der Naturfreund kein Unkraut sondern nur Wildkraut kennt, kenne ich als begeisterter Fußgänger keinen Umweg, nur den Mehrweg. Dazu schrieb einst ein gewisser Tom Hodgkinson:

„Der Fußgänger ist die höchste und mächtigste aller Daseinsformen: Er geht aus Vergnügen zu Fuß, er beobachtet, aber mischt sich nicht ein, er ist ohne Eile, er ist glücklich in der Gesellschaft seines eigenen Verstandes, er schlendert distanziert, weise und fröhlich dahin, göttergleich. Er ist frei.“

(Gelesen in: „Warten – Eine verlernte Kunst“ von Timo Reuter, meiner derzeitigen Bettlektüre)

Frau Kraulquappe macht sich ihre Gedanken (unter anderem) über das allgegenwärtige Wir-wollen-im-Hier-und-Jetzt-leben-Postulat, Achtsamkeitsfreunde und Hier&Jetzt-Streber. Dem ist zuzustimmen: Selten nur befinde ich mich im Hier und Jetzt, stattdessen oft im Damals und Bald. Meistens aber im Was-wäre-wenn.

Freitag: „W. hat zwar Urlaub, kümmert sich aber darum“, hörte ich in einer Besprechung. Arbeiten trotz Urlaub. Kann man machen, wenn Menschen in Gefahr sind. Aber auch nur dann.

Samstag: Besuch der Mutter in Bielefeld, da wir uns in diesem Jahr zu Weihnachten nicht sehen werden. Ich gestehe: mit Umarmung zur Begrüßung und zum Abschied. Vielleicht bin ich mitschuldig daran, wenn die Zahlen weiter ansteigen? Wobei zu meiner Verteidigung geschrieben sei, das war die einzige haushaltsferne Umarmung seit vielen Wochen, ich bin ja sonst, auch außerhalb von Seuchenzeiten, ein großer Freund berührungsfreier Begrüßung, was ausdrücklich auch für das Händeschütteln gilt; mein letzter Handschlag liegt Monate zurück.

Dazu in der aktuellen Ausgabe der PSYCHOLOGIE HEUTE:

„Aber wie geht Begrüßung ohne Berührung überhaupt? Und wird sich der körperliche Kontakt vielleicht sogar dauerhaft als verzichtbar erweisen? […] Eine bereits kurz vor Corona publizierte Studie kam zu dem Ergebnis, dass Menschen deutlich häufiger Hände schütteln, als sie dies wünschen.“

Dieses „Nein“ zur gereichten Hand beabsichtige aus verschiedenen Gründen für die Zukunft beizubehalten. Falls Sie ähnliches erwägen: Haben Sie sich dafür bereits eine freundliche Entgegnung ausgedacht, und wenn ja, wie lautet sie?

Ohnehin sollte ich öfter Mut zum „Nein“ beweisen. Auf der Rückfahrt von Bielefeld sprang ich über den Schatten meiner Harmoniesucht, indem ich eine Mailanfrage der Nachbarin freundlich, aber abschlägig beantwortete. Das wird unserem früher sehr harmonischen Verhältnis einen weiteren Stich versetzen, aber et nütz jo nix, wie der Rheinländer sagt.

Sonntag: Nun also wieder Stillstand bis zum 10. Januar. Wenn ich es richtig verstanden habe, bedeutet das ruhige Weihnachten und ein wenig bacchantisches Silvester ohne pyrotechnische Belästigung, was mir persönlich absolut verschmerzbar erscheint. Alles andere haben wir ja bereits von März bis Mai hinreichend geprobt.

Ein Argument gegen das bereits am Mittwoch besprochene, sich ausbreitende generische Femininum fand ich in der Sonntagszeitung: „Besondere Gefahr geht vom jungen Partygänger aus, der Freundinnen trifft und das Virus im Bekanntenkreis verbreitet.“ Lese nur ich darin einen anderen Sinn, der an ein ganz anderes Virus denken lässt als hier gemeint ist?

Ansonsten in dieser Woche gehört:

„Das Ei fällt nicht weit vom Huhn.“ Eine durchaus brauchbare Alternative zum Gewohnten.

„Du musst nicht noch Zucker in die Wunde streuen.“

Foto der Woche: Fraglich

Die Aktion „Foto der Woche“ von Aequitas et Veritas läuft bis zum 31. Dezember. Jede Woche zeigt man ein Foto und schreibt was dazu, etwa wann und wo man es gemacht hat, warum man es zeigt oder welche Gedanken man damit verknüpft.

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An nur wenigen Orten erscheint die Bezeichnung „Homo Sapiens“ für diese Spezies fraglicher denn an Altglascontainern.

(Gesehen in der Bonner Nordstadt. Ähnliches lässt sich indes an nahezu allen Sammelstellen beobachten. Der „zivilisierte“ Mensch ist so.)

Woche 49: Unflätige Worte und echte Satzperlen von absurder Schönheit

Montag: Morgens klagte der Geliebte, weil er sich im letzten Wochenrückblick nicht angemessen durch den Kakao gezogen fühlte. Ich gelobe Besserung.

Mittags gab es in der Kantine tomatisierten Eintopf. Dieses Wort war mir bis heute ohne die Vorsilbe „au“ unbekannt, wobei es mit bei Eintopf wenig Sinn ergäbe.

Ansonsten war es heute sehr kalt, was mich indes nicht davon abhielt, gleichsam wie ein Mann mit dem Fahrrad ins Werk und zurück zu fahren. Zum Auftauen wurde abends gegen nur geringen Widerstand des Geliebten nach langer Zeit mal wieder der Ofen angeheizt.

Angeheizt auch die Stimmung am vergangenen Wochenende auf dem AfD-Parteitag. Dazu der General-Anzeiger: „Mag der Schnelle Brüter in Kalkar auch nie in Betrieb gegangen sein, der AfD-Chef erbringt den Nachweis, dass an dieser Stelle gleichwohl gewaltige Kettenreaktionen möglich sind.“ Manchmal finden sich in der Zeitung echte Satzperlen.

Dienstag: Morgens sprach ich mit Kollegen A, der ein festes Abonnement ausschließlich auf Themen zu haben scheint, deren Inhalt und Umfang nur in unflätigen Worten einigermaßen treffend zu klassifizieren sind. Ohne Sie mit konkreten Inhalten zu langweilen – in solchen Momenten merke ich, wie zufrieden ich mit meinen Arbeitsinhalten sein kann und auch bin. Dessen sollte man sich öfter bewusst sein, wenn das nächste Wochenende, der Urlaub oder der Ruhestand mal wieder in unerreichbarer Ferne erscheinen.

Manche Sätze sind von absurder Schönheit wie dieser, den Marcel Proust geschrieben haben soll: „Kenntnis der Notausgänge ist das schönste Welttheater.“

Vom Welt- zurück ins Bürotheater: „Alles tutti“, sagte die Kollegin, die auch „Joy Fixe“ sagt. Auch ganz schön. Nicht so schön dagegen: „Das sollten wir im Nachgang bilateral besprechen.“

Groteskes Theater in Thüringen: Abends in den heute-Nachrichten wurde in Hildburghausen, wo die Viren gerade eine wilde Party feiern, eine Frau wegen Ihrer Meinung zu Coronatests befragt, woraufhin sie sinngemäß allso sprach: „Das muss ja schließlich jeder selbst entscheiden. Außerdem …“ – mit Blick auf ihre kleine Tochter – „wenn ich mir vorstelle, so eine kleine Maus kriegt dieses Stäbchen in den Rachen gesteckt – also ich weiß nicht.“ In solchen Momenten möchte ich die Leute bilateral in unflätigen Worten anschreien.

Mittwoch: Unflätige Gedanken kamen mir am Morgen, nachdem den vorderen Fahrradreifen die Luft verlassen hatte, fast genau an derselben Stelle wie dreizehn Wochen zuvor den hinteren. Mehrere Kilometer zuvor war ich im Dunkel über etwas gefahren, das im Überfahren bedenklich knirschte und knackte, und da dachte ich schon: oh oh …

Die Kantine des Werks verkauft zurzeit nur zum Mitnehmen, ich berichtete unlängst, und Sicherheitspersonal wacht darüber, auf dass sich niemand ungebührlich lange dort aufhält. Das ist unschön, indes während des vorläufigen Dauerzustandes nicht zu beanstanden. Augenscheinlich erlaubt war hingegen, das Mitgenommene im Foyer des Mutterhauses zu verzehren, wo Einzeltische in großen Abständen platziert sind, wenngleich ich mich schon fragte, warum man hier sitzen durfte und dort nicht. Nun dachte ich so: Was nicht verboten ist, ist erlaubt, und was erlaubt ist, ist unbedenklich. Seit heute muss ich nicht länger darüber nachdenken, auch das Foyer ist nun abgesperrt.

Die Paketdienstleister bewältigen in diesen Tagen Rekordmengen. Früher feierten die Menschen zu Weihnachten die Geburt von Jesus. Heute den Gedeih von Bezos.

Abends flossen Tränen, nachdem ich meiner Skepsis gegen saisonales Lichterkettenwettrüsten, Konsumsucht und Geschenkewahn Ausdruck verliehen (nicht geschenkt) hatte. Das tut mir leid und war nicht beabsichtigt, gleichwohl stehe ich dazu, wobei ich es selbstverständlich akzeptiere, wenn viele Menschen es lieben und als notwendig erachten. Weihnachten ist auch in diesem Haushalt ein emotional geladenes Thema, wer hätte das gedacht. Und mit dem Titel „Weihnachtsa…loch“ kann ich leben, auch wenn er mir von einem verliehenen wurde, der glaubt, die Heiligen Drei Könige hätten Salbei, Dingsbums und Mürrisch gebracht.

Donnerstag: In vorübergehender Ermangelung eines Fahrrades und wegen eines unzeitig frühen Termins fuhr ich morgens nach längerer Zeit mal wieder mit der Bahn ins Werk. Die kam sieben Minuten zu spät; während ich in morgendlicher Bahnsteigmelancholie vor mich hin fror, formulierte ich einen weiteren Eintrag in der ungeschriebenen Liste der Dinge, die ich seit Monaten überhaupt nicht vermisse. Immerhin war die Bahn nicht besonders voll.

Als ich abends mit dem genesenen Fahrrad vor einer roten Ampel wartete, querte vor mir eine ältere Frau (keine Dame, wie Sie gleich lesen werden) die Straße, zog die Maske nach unten, schaute mich böse an und rief: „Asis!“ Ehe ich mich nach dem Grund ihrer Schmähung erkundigen konnte, war sie bereits um die Ecke verschwunden. Voll Asi, ey.

Es gibt Tage, an denen es scheinbar nichts zu bloggen gibt. Nun ist es nicht so, dass an diesen Tagen nichts passiert, nur eben nichts, was des Aufschreibens wert erscheint. Das kennt auch Thomas, er schreibt dazu diesen wunderschönen Satz: »Und “nichts erleben” kann man schließlich gar nicht, so lange man morgens aufwacht.«

Freitag: „Du musst dazu keine Powerpoint erstellen, eine Mail reicht mir“, wurde mir am Morgen bedeutet. Manchmal geschehen noch kleine Wunder.

Die Kantine bot Minutensteak an. Sekundenschlaf, Minutensteak, Stundenhotel, Tagesschau, Wochenbett, Monatsblutung, Quartalssäufer, Jahreswagen, Jahrhunderthochwasser, Jahrtausendwende – irgendwas ist immer.

Ansonsten allüberall „Mimimimi … kein Skiurlaub … mimimi …“

Samstag: Im Iran wurde das Todesurteil gegen zwei Männer aufgehoben, das gegen sie verhängt worden war, weil sie gegen hohe Benzinpreise demonstriert hatten. Solches sollten die Anti-Corona-Verquerdenker bedenken, bevor sie das nächste Mal was von „Diktatur“ phantasieren.

(Gesprüht unter der Kennedy-Brücke)

Verspüren Sie auch manchmal das Bedürfnis, sich künstlerisch-kreativ zu betätigen, verwerfen das Vorhaben jedoch, weil Sie glauben, es nicht zu können? Man kann alles erlernen, es muss ja nicht gleich zur Darstellung der Mona Lisa gereichen. Oft führen schon einfache Übungen zu ersten kleinen Erfolgserlebnissen.

(Gesehen heute in der Nordstadt)

Sonntag: Gelesen in der PSYCHOLOGIE HEUTE:

„Das japanische Zenwort wabi-sabi bezeichnet eine andere Art von Schönheit: eine Ästhetik des Nichtperfekten, Betagten, Verwitterten. Das vom Zerfall Gezeichnete, etwa eine Burgruine, hat seinen ganz eigenen Reiz, suggeriert Geheimnis und Bedeutung.“

Das sollte ich auf den Badezimmerspiegel kleben.

Zufällig fand ich dieses, in optischer wie akustischer Hinsicht sehr schön:

Foto der Woche: Glühwein und Trübe

Die Aktion „Foto der Woche“ von Aequitas et Veritas läuft bis zum 31. Dezember. Jede Woche zeigt man ein Foto und schreibt was dazu, etwa wann und wo man es gemacht hat, warum man es zeigt oder welche Gedanken man damit verknüpft.

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Ja, ich bin spät dran mit dem Wochenfoto. Wobei ich zunächst unschlüssig war, welches Bild ich zeigen soll. Ein möglicher Kandidat war die Aufnahme eines Papierkorbes am Rheinufer, der überquillt von Pappbechern, ebenso all seine Kollegen in der näheren Umgebung; teilweise liegen die Becher schon daneben, weil die Behälter überfüllt sind. Ursache ist die Gaststätte am Fähranleger, die Glühwein verkauft, natürlich nur zu Mitnehmen oder „To go“, wenn Ihnen das lieber ist. Dieser Verkauf findet erheblichen Zuspruch, ungefähr jeder zweite, der mir heute am Rhein begegnete, hielt so einen Becher in der Hand. Manchmal glaube ich, Geenpeace, Fridays For Future, BUND und wie sie alle heißen können ihre Aktivitäten wegen Aussichtslosigkeit einstellen. Wir sind nicht mehr zu retten.

Da volle Müllbehälter kein schöner Anblick sind, habe ich mich indes für ein anderes Motiv entschieden, ebenfalls auf meinem heutigen Spaziergang fotografiert.

Sie sehen die Poppelsdorfer Allee in spätherbstlicher Trübe, die heute während des gesamten Tages über der Stadt lag. Die Kastanien, die die Allee im Frühling mit weißen und hellroten Blüten erleuchten lassen, haben längst ihr Laub verloren. Ich mag solche Tage und hoffe, die Möglichkeit solcher Spaziergänge wird nicht demnächst eingeschränkt, weil zu viele Leute draußen Glühwein trinken mussten.