Woche 46/2021: Besser nicht alles glauben

Montag: In der PSYCHOLOGIE HEUTE las ich erstmals das Wort „Dezivilisation“. Es bezeichnet die zunehmende Neigung zu irrationalem, emotionalem Verhalten und nachlassende Bereitschaft zu sachlicher Diskussion, Annahme von Kritik, Einhaltung von Regeln, Rücksicht, Höflichkeit, Aushalten abweichender Meinungen. Stattdessen Hass, Polarisierung, Aggression und Angst. Laut dem Artikel erfolgt die Dezivilisation innerhalb von nur Jahren oder Jahrzehnten, Auslöser sind gesellschaftliche Krisen. Verrichten wir unsere Notdurft bald auf der Straße anstatt im heimischen Sanitär? Wundern würde es mich nicht.

Dezivilisation auch im Rheinauenpark

„Bleibe negativ!“ las ich unter einer Mail als zeitgemäß-originelle Alternative zum mittlerweile recht ausgefransten „Bleiben Sie gesund“.

Dienstag: Mein Mitgefühl gilt auch allen, die Issues haben.

Apropos: Gibt es ein Wort für den Zwang, mit der Zunge ständig die Stelle im Gebiss abzutasten, wo sich am Vorabend eine Zahnkrone verabschiedet hat?

Gelesen und für gut, nein, sehr gut befunden:

»In meiner radikal antisozialen, vollkommen empathiefreien und autismusnahen Universalmeinung fehlt mir jedes Verständnis für Menschen, die nicht gegen die Seuche geimpft sind. Gleichzeitig würde ich aber auch niemanden zwingen, sich impfen zu lassen, ich würde nur für erkrankte Ungeimpfte wieder sowas wie früher die Pesthäuser neu erfinden, da können sie dann liegen und mitsamt ihrer Überzeugung und ihrem freien Willen entspannt unter Ihresgleichen vor sich hin coronieren, chacun à son goût, aber dass sie wegen ihrem freien Willen und ihrer freien Entscheidung anderen zusätzlich Arbeit machen und für unfreiwillig Erkrankte die Intensivbetten blockieren – nun, das finde ich halt genauso wenig okay, wie die Einführung einer Impfpflicht.

[…]

Ich bin der festen Überzeugung, dass die heute so modernen moralischen Befindlichkeiten weder in der Natur noch in der Realität eine stabile Mehrheit haben, sondern schlicht nur dekadente Auswüchse einer extrem realitätsfernen intellektuellen Schickeria sind, die sich von den tatsächlichen Alltagsproblemen der Mehrheit der Menschen soweit entfernt haben, dass es schon fast an die Naivität einer Marie-Antoinette heranreicht.«

Laut Radio sind die Preise für Opium gestiegen. Auch das noch.

Mittwoch: Der Buß- und Bettag wurde 1995 zur Finanzierung der Pflegeversicherung als gesetzlicher Feiertag abgeschafft. Außer in Sachsen, dort wird heute weiterhin gebüßt und gebetet. Das erscheint auch dringend geboten.

Heute öffnet nicht nur der Weihnachtsmarkt in Bonn, auch gilt in großen Teilen der Innenstadt wieder Maskenpflicht. Vielen Dank an alle, die im Recht auf Impfverzicht einen wesentlichen und unverhandelbaren Bestandteil ihrer persönlichen Freiheit und körperlichen Selbstbestimmung sehen.

Man beachte die medizinische Maskenpflicht.

In der Zeitung fand ich übrigens das Wort „gewissensarm“, ich finde, Sie sollten das auch mal gelesen haben.

Donnerstag: Donnerstag ist Zu-Fuß-ins-Werk-geh-Tag. Wer geht, sieht mehr. Ich sah und hörte morgens eine Nilgans, die auf dem Hinterdeck der am Rheinufer festgemachten MS „Beethoven“ saß und von dort aus in etwa halbsekündlich ausgestoßenen Rufen die Welt beschimpfte: Nak, nak, nak, nak, nak …, minuten,- vielleicht stundenlang, so viel Zeit hatte ich nicht. Ob sie wirklich die Welt beschimpfte, kann ich, der Geflügelsprache nur unzureichend mächtig, natürlich nicht beurteilen, besonders froh klang sie jedenfalls nicht. Vielleicht galt jedes einzelne „Nak“ einem entfernten Art- beziehungsweise Gattungsgenossen, der in den letzten Tagen als Martinsgans sein Gänseleben beendete oder einer Zukunft als Weihnachtsgans entgegensieht. Auf dem Rückweg am Abend sah ich die „Beethoven“ (warum gilt eigentlich für Wasserfahrzeuge, ob Schiff, Kahn oder Fähre, seit jeher das generische Femininum?) noch immer am selben Platz vertäut, freilich ohne die erregte Gans auf dem Hinterdeck. Irgendwann hat auch so ein Großvogel mal Feierabend oder einfach den Schnabel voll.

Ebenfalls auf dem Heimweg gönnte ich mir im Außenbereich eines Lokals am Rheinufer, fernab des Weihnachtsmarktgedränges und ohne fremde Menschen in unmittelbarer Nähe, den ersten Glühwein des Jahres, zur Geschmacksveredelung mit einem Hauch Amaretto versehen. Das war sehr schön, ich freue mich schon auf den übernächsten Donnerstag (am nächsten habe ich Urlaub, auf den freue ich mich auch).

(Triggerwarnung: Der folgende Absatz könnte Boomerblödfinder ärgern.) Skandal: An Schulen spielen die Kinder laut Zeitungsbericht Szenen aus der Netflix-Serie „Squid Game“ nach. Ich kenne sie nicht und werde sie mangels Netflix-Anschluss und Desinteresse in dieser Serie im Speziellen und Serien im Allgemeinen voraussichtlich auch nicht kennen lernen. Wie zu lesen ist, müssen dort Menschen am Ende sterben, also wie im Tatort (den ich konsequent auch nicht anschaue), nur dass man dort üblicherweise nicht am Ende, sondern innerhalb der ersten Minuten stirbt und die Sendung nur selten einen Skandal hervorruft, und in der Bibel, die bis heute direkt und indirekt zahlreiche Skandale auslöst, was hier auszuführen indes zu weit führte. »Es sei richtig, dass Erzieher und Lehrkräfte Alarm schlügen, wenn sie erlebten, dass Kinder brutale Szenen nachstellten«, heißt es in dem Artikel. – Wir spielten als Kinder, nachdem wir im Fernsehen „Bonanza“ und „Rauchende Colts“ gesehen hatten und als das noch als moralisch unbedenklich galt und es den Begriff der „kulturellen Aneignung“ noch nicht gab, Cowboy und Indianer. Da wurde auch schon mal einer erschossen, was nicht immer gelang: „Peng, du bist tot.“ – „Bin ich gar nicht!“ – „Menno, dann spiele ich nicht mehr mit dir!“ Soweit ich mich erinnere, schlug deswegen niemand Alarm.

Freitag: Eine Kollegin hat sich nun auch dieses Tatsächlich-Virus eingefangen. Womöglich ursprünglich aus dem Angelsächsischen stammend, hat es sich, neben dem Unterwegs-Virus, rasend verbreitet durch Gebrauch und unbedachtes Nachplappern vor allem in Besprechungen. Zu bekämpfen ist es tatsächlich nur durch bewusste Wahrnehmung und Vermeidung. Möge dieser Absatz einen Beitrag dazu leisten.

Aus einer Studie zum Thema Glück: »Je höher die Infektionszahlen und je strikter die Maßnahmen, desto niedriger das Glücksniveau.« Wer hätte das gedacht.

Samstag: In der Fußgängerzone sah ich ein Pappschild mit der Aufschrift »Wer an den Sohn des HERRN glaubt, der wird ewig leben.« Daneben zwei Personen, die versuchten, den Vorübergehenden Druckerzeugnisse in die Hand zu drücken, mit geringem Erfolg; alle gingen weiter, die meisten ordnungsgemäß maskiert, ohne ein segensreiches Exemplar abzugreifen. Auch ich beschleunigte, wie stets, wenn mir jemand unaufgefordert etwas aushändigen oder mich gar ansprechen will, meine Schritte. Zudem erscheint mir ewiges Leben wenig erstrebenswert, daher besser nicht alles glauben.

Sonntag: »Die Ampelkoalition will den Zugbetrieb vom Schienennetz trennen«, steht in der Sonntagszeitung. Eines meiner wiederkehrenden Traummotive: Ein Zug verlässt an einem Bahnübergang die Schienen und fährt über die Straße weiter. Jedesmal stehe staunend daneben und frage mich, wie der wohl gelenkt wird. Wobei es so etwas ja schon gegeben hat.

Ein gestern in der Tageszeitung gelesener Artikel über Schlüsseldienste scheint in meinem Unterbewusstsein etwas ausgelöst zu haben. So verließ ich die Wohnung heute zum Spaziergang ohne Schlüssel, was mir noch nie zuvor passiert ist, vielmehr erfolgt stets vor Schließen der Wohnungstür ein automatisierter Prüfgriff nach Portmonee, Telefon, Notizbuch und Schlüsselbund. Doch musste ich nach Rückkehr keinen Schlüsseldienst beauftragen, nur klingeln und des Geliebten Gemurre über mich ergehen lassen.

Zum Schluss weitere Bilder der Woche:

Abendstimmung am Mutterhaus

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Gute Basssänger werden von vielen Chören mittlerweile dringend gesucht.

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Donnerstagabend, kurz vor Glühwein

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Während der Nachstunden sowie an Sonn- und Feiertagen geht von dem Virus keine Gefahr aus.

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Kann ja mal passieren.

Ansonsten notierte ich gestern am späteren Abend das Wort „Belfast“, weiß aber nicht mehr, warum. Irgendwas mit schnell bellenden Hunden, meine ich mich dunkel zu erinnern – die Notiz erfolgte nach der ersten Flasche Wein. Sollte es mir wieder einfallen, reiche ich es nach.

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Ihnen eine angenehme neue Woche, bleiben Sie im positiven Sinne negativ!

Woche 52: So schlimm nun wirklich nicht

Montag: „Vielen Dank euch für das wunderschöne Jahr“, sagte der Projektleiter in einer kurzen Weihnachtsansprache. Motivation kann er.

Statt Weihnachtsmarkt und anschließendem Restaurantbesuch traf sich unsere Abteilung abends auf dem Monitor, erstmals mit bewegten Bildern, woanders längst an der Tagesordnung, von mir bislang nicht vermisst. Zunächst plauderten wir ein wenig und empfingen chefliches Lob, begleitet von Eierlikör, den der Geliebte diskret von der Seite reichte und den ich aus Gründen des Anstandsanscheins außerhalb der Kamerareichweite einnahm. Danach nahmen wir an einem dreistündigen Event teil, bei dem es galt, einen reichlich absurden Kriminalfall um eine entführte Weinkönigin zu lösen, was Menschen so tun und zu bezahlen bereit sind, wenn sie viel Zeit haben. Bereits nach weniger als zehn Minuten verlor ich aufgrund der zahlreichen handelnden Personen und bereitgestellten Informationen erst den Überblick, dann das Interesse an einer Mitwirkung, was nur zu einem sehr geringen Teil auf den Eierlikör zurückzuführen war. Ich glaube, für manches bin ich einfach zu alt, das ist nicht schlimm. Übrigens versagte unsere Gruppe kläglich: Am Ende verglomm die Weinkönigin in einer Explosion und die gesamte Weinernte der Region Rheinhessen wurde durch ein rätselhaftes Gift vernichtet. Wie gesagt, reichlich absurd das ganze. Und drei Stunden können sehr lang sein.

Dienstag: „Was macht das mit den Menschen?“, fragte morgens die Radiotante auf WDR 2 den Bundesgesundheitsminister. Ich habe einen zeitweise empfindlichen Zahn, der dritte oder vierte unten links. An manchen Tagen, ich weiß nicht, wovon es abhängt, vielleicht vom Wetter, dem Luftdruck, dem Hormonhaushalt, was auch immer; an diesen Tagen also durchzieht ihn ein kurzes Stechen, wenn er mit etwas Warmen in Berührung kommt. Dauerhaft hingegen wohnt in mir eine Empfindlichkeit gegen die Frage, was irgendetwas mit irgendwem macht. Jedes Mal, wenn ich das hören oder lesen muss, durchzieht mich ein kurzer, heftiger Schmerz in einer nicht näher zu lokalisierenden Hirnregion.

Sehr gefreut habe ich mich hierüber: „In einem anderen, sehr geschätzten Blog fand ich heute ein kleines Zitat rund um meinen kreativen Umgang mit Personalpronomen und gendergerechten Sprachkonstrukten und ich möchte dazu feststellen: Doch doch, nattürlich lese ich mit!“

Apropos sehr geschätztes Blog – auch schön: „Andere Menschen machen ja überhaupt vieles anders, das ist immer wieder irritierend.“ Gelesen hier.

Mittwoch: Gestern Abend schrieb mir Nachbar- und Leserin M., in diesem Blog würde nur gemeckert und kritisiert. Das liegt mir fern, vielmehr sehe ich mich als einen überwiegend ausgeglichenen und optimistischen Menschen, aber das ist ja immer so eine Sache mit Fremd- und Selbstbild. Nur gibt es halt immer wieder mitmenschliche Verhaltensweisen und Wortgeklingel, die unkommentiert zu lassen mir schwer fällt.

Im Übrigen stimmen Sie mir vielleicht zu, wenn ich behaupte, „In der Weihnachtsbäckerei“ ist ein ganz besonders unnötiges Lied.

Donnerstag: „Das Virus kennt keine Feiertage“, sagte mal wieder einer. Ja. Ich glaube, allmählich haben wir das verstanden und möchten es nicht mehr hören. – „Schöne Freiertage“ war der Verschreiber des Tages; glücklicherweise bemerkte ich ihn vor Absenden der Mail, man weiß ja nie, wie Leute auf sowas reagieren, auch wenn es unbeabsichtigt geschieht.

Den letzten Arbeitstag dieses Jahres beendete ich, wie schon die drei vorausgegangenen, dank ausreichend gefülltem Gleitzeitkonto und weitgehend abgearbeiteter Aufgabenliste frühzeitig, daher kam ich mittags noch vor dem einsetzenden Kaltregen zu Hause an, wo meine Lieben, deren letzte Arbeitstage schon länger zurück lagen, den Frühstückstisch bereitet hatten.

Nun also Heiligabend. In diesem Jahr auffallend ruhig draußen, keine Autos, die sich in unserer engen Straße auf dem Weg in die und aus der Tiefgarage böse gegenseitig anhupen, keine Menschen, die mit vollgepackten Taschen vorübereilen. Nur der Paketbube brachte mittags zwei letzte Pakete, davon eins für mich, worüber ich mich sehr gefreut habe, da es ein unerwartetes Kollegengeschenk enthielt.

Drinnen dagegen zeitweise leichtes Knistern, da Raumpflegedrang und Essensvorbereitungen ein brisant-interessantes Spannungsfeld bildeten.

Doch zog bald festliche Harmonie ein. Am frühen Abend kam es gar zu Gesang mit der Nachbarschaft, selbstverständlich unter Beachtung der gebotenen Abstandsregeln. Auch wenn es sich aufgrund der Qualität nicht unbedingt für die Verbreitung per Tonaufnahme eignete, bereitete es den unmittelbar Beteiligten Freude, aus einem fernen Fenster kam gar Applaus. Wer weiß, vielleicht war das der Auftakt für eine Tradition, die entstehen ja nicht selten aus den seltsamsten Anlässen, siehe Weihnachten.

Freitag: Dieses Weihnachten würde das schlimmste der Nachkriegszeit, hatte unser Ministerpräsident kürzlich behauptet. Statt familiärer Besuchspflichten heute ein Spaziergang, Sofa und Tee. Das ist so schlimm nun wirklich nicht.

Nachmittags wurde ein neues Haushaltsgerät in Betrieb genommen, das seit gestern den heimischen Maschinenpark bereichert.

Samstag: Vor dreißig Jahren, als ich noch evangelischer war, blies ich Trompete im Posaunenchor des CVJM Bielefeld-Stieghorst. Am schönsten fand ich das immer zur Weihnachtszeit; eines der großartigsten Stücke, mit dem traditionell an Heiligabend der Haupt-Gottesdienst um achtzehn Uhr eröffnet wurde (und vielleicht immer noch wird beziehungsweise in diesem Konjunktiv-zwei-Jahr worden wäre), war „Hoch tut euch auf“ von Christoph Willibald Gluck. Noch heute geht mir beim Hören das Herz auf und leichte Feuchte umspielt die Augen. Hören Sie selbst, vielleicht verstehen Sie, was ich meine.

Sonntag: Die Weihnachtswoche endete appetitlos, trübe, kalt und regnerisch. Das hielt mich nicht vom Sonntagsspaziergang ab, wenn auch nur kurz runter an den Rhein und durch die Nordstadt zurück. Ein Sonntag ohne Spaziergang ist für mich mittlerweile so unvollständig wie für andere Weihnachten ohne Amazon. Am Rhein saßen die Möwen zusammen mit ein paar Enten und Tauben, allesamt vom Wind sorgsam in Richtung Süden ausgerichtet, als schauten sie dem Gebläse entgegen und dächten: Menno (oder was Vögel so denken, wenn sie mit der Situation unzufrieden sind), wann hört das endlich auf?

Dies ist gleichzeitig mein voraussichtlich letzter Beitrag zur Blogaktion „Foto der Woche“ von Aequitas et Veritas, die am kommenden Donnerstag endet.