Woche 47/2021: Mehr China wagen

Montag: Heute wurde die nächste Weihnachtsfeier abgesagt und durch ein Bildschirm-Event ersetzt. Da mich solche Veranstaltungen zutiefst deprimieren, sicher erwähnte ich das schon, ohne mich. Es ist und bleibt mir ein Rätsel, wie man Freude daran haben kann, mit dem dienstlichen Laptop auf dem Büffet, angeleitet durch einen Bildschirmkoch in der heimischen Küche etwas zuzubereiten, um es anschließend gemeinsam mit den ebenfalls nur im Monitor mitessenden Kollegen zu verzehren.

Dienstag: Wie empirisch ermittelt wurde, entstehen Träume von Blasendruck häufig durch Blasendruck.

Dem weihnachtlichen Schenkdruck stehe ich seit geraumer Zeit eher ablehnend gegenüber, deshalb bin ich sehr dankbar für unser diesjähriges Weihnachtsgabenverzichtsabkommen. Das heißt nicht, dass ich mich nicht über Geschenke freue, am meisten, wenn sie unerwartet eingehen, so wie heute gleich zwei. Das erste war ein Paket mit sechs Flaschen unterschiedlicher Biersorten, die der Rücksendung eines von mir verliehenen Buches beigefügt waren. Da ich weiß oder wenigstens annehme, dass die Schenkerin hier mitliest, auf diesem Wege nochmals: Liebe N., ich danke Ihnen ganz herzlich für die Sendung, ich werde sie genießen! Das zweite völlig überraschende Geschenk machte mir der Geliebte, auch hierüber freue ich mich außerordentlich:

Da zurzeit nicht absehbar ist, wie lange es noch geht, waren der Liebste und ich abends auf den Bonner Weihnachtsmarkt. Es war nicht sehr voll und auch sonst fühlte es sich anders an als gewohnt, inklusive einem diffusen Unbehagen. Immerhin wurden unsere Impfnachweise kontrolliert und Ordnungskräfte patrouillierten.

Mittwoch: Immer bemerkenswert, wenn jemand wegen irgendeiner ihn erregenden Unpässlichkeit „einen Hals bekommt“. Hatte er vorher keinen, oder hat er danach zwei? Beides nicht sehr schön.

Ähnlich wie die Halsbekommer empfinde ich stets, wenn ein stehendes Kraftfahrzeug ohne Fahrer mit laufendem Motor irgendwo herumemissioniert. Auf einer (immer noch nicht angelegten) Liste der Dinge, die ich noch tun will, ehe für mich das Licht ausgeht, stünde, in ein solches Auto einzusteigen und es um die nächste Straßenecke zu fahren. Heute Abend, auf dem Weg vom Einkaufen, wäre wieder dazu die Gelegenheit gewesen. Man ist einfach zu ängstlich.

Donnerstag: Heute war wieder „Inseltag“, das heißt ein Tag Urlaub zwischendurch, nur so für mich, ohne besonderen Anlass. Das ursprüngliche Vorhaben, die Wahner Heide zu durchqueren, wurde verschoben zugunsten a) eines Frühstücks im Café (mit Kontrolle von Impfnach- und Personalausweis, sehr lobenswert) und b) einer Begehung der nicht mehr betriebenen Industriebahn von Beuel nach Hangelar, was ich schon lange vorhatte. Im höchst unwahrscheinlichen Fall, dass Sie etwas über diese Bahn wissen wollen, schauen Sie gerne hier. Hier einige Eindrücke:

Am Bahnsteig links konnte man bis 2019 während der Großkirmes „Pützchens Markt“ von und nach Bonn-Beuel und Hangelar an- und abreisen. Angesichts der maroden Gleise und der aktuellen Lage schwer vorstellbar, dass das jemals wieder möglich sein wird.
Bahnhof Hangelar, Blick auf das heutige Streckenende. Früher ging es weiter bis Großenbusch. Müssen Sie auch nicht unbedingt kennen.

Freitag: »Die Vertrauensstellung zwischen dieser Arbeitsstation und der primären Domäne konnte nicht hergestellt werden«, meldete der Werksrechner beim ersten Anmeldeversuch am Morgen. Beim zweiten Versuch war das Vertrauen wieder hergestellt, die Hoffnung auf einen frühen Feierabend zerstört.

Das Wort „Omikron“ erscheint noch etwas ungewohnt; wir werden uns sehr schnell daran gewöhnen.

„Wer wird die Menschheit retten?“, fragt die Werbung für das Buch eines Drogeriehändlers. Die Antwort mag manchem die Laune trüben: Niemand. Wir sind nicht mehr zu retten. Unser natürlich Unvermögen, zugunsten eines langfristigen Wohlergehens kurzfristig auf etwas zu verzichten, wird uns in absehbarer Zeit auslöschen.

Samstag: Alle Jahre wieder – es knirschte etwas im Gebälk des häuslichen Harmoniegefüges, als Weihnachtsdekorationseuphorie sich an Lichterkettenskepsis rieb. Das Wort „Weihnachtsa…loch“ fiel wieder.

Fahrräder rasen auf Fußwegen, Fußgänger bummeln auf Radwegen, Autos parken auf Rad- und Fußwegen, Geschwindigkeitskontrollen sind ein Angriff auf die persönliche Freiheit; Menschen wollen sich nicht impfen lassen und keine Maske tragen; Müll wird am Straßenrand entsorgt; Bahnstrecken und Stromleitungen werden nicht ausgebaut, weil sich Menschen und Lurche gestört fühlen. Vielleicht sollten wir manchmal etwas mehr China wagen.

»Man sollte wirklich nicht alles mit sich selbst verarbeiten, sondern manchmal eine kleine Beschwerde führen, damit man so freundlich zurechtgewiesen und über sich selbst aufgeklärt würde.«

Johann Wolfgang von Goethe

Sonntag: „#Wegistdasziel“ steht auf einem Werbeplakat für Zigaretten. Abgesehen von der Frage, warum das noch immer erlaubt ist: Wo ist das Ziel hin?

Noch drei Bilder der Woche:

„Individuelle Wohnkonzepte“ – früher auch bekannt als Wohnhäuser

Kommen Sie gut durch die Woche und möglichst konfliktfrei durch die Adventszeit.

Woche 46/2021: Besser nicht alles glauben

Montag: In der PSYCHOLOGIE HEUTE las ich erstmals das Wort „Dezivilisation“. Es bezeichnet die zunehmende Neigung zu irrationalem, emotionalem Verhalten und nachlassende Bereitschaft zu sachlicher Diskussion, Annahme von Kritik, Einhaltung von Regeln, Rücksicht, Höflichkeit, Aushalten abweichender Meinungen. Stattdessen Hass, Polarisierung, Aggression und Angst. Laut dem Artikel erfolgt die Dezivilisation innerhalb von nur Jahren oder Jahrzehnten, Auslöser sind gesellschaftliche Krisen. Verrichten wir unsere Notdurft bald auf der Straße anstatt im heimischen Sanitär? Wundern würde es mich nicht.

Dezivilisation auch im Rheinauenpark

„Bleibe negativ!“ las ich unter einer Mail als zeitgemäß-originelle Alternative zum mittlerweile recht ausgefransten „Bleiben Sie gesund“.

Dienstag: Mein Mitgefühl gilt auch allen, die Issues haben.

Apropos: Gibt es ein Wort für den Zwang, mit der Zunge ständig die Stelle im Gebiss abzutasten, wo sich am Vorabend eine Zahnkrone verabschiedet hat?

Gelesen und für gut, nein, sehr gut befunden:

»In meiner radikal antisozialen, vollkommen empathiefreien und autismusnahen Universalmeinung fehlt mir jedes Verständnis für Menschen, die nicht gegen die Seuche geimpft sind. Gleichzeitig würde ich aber auch niemanden zwingen, sich impfen zu lassen, ich würde nur für erkrankte Ungeimpfte wieder sowas wie früher die Pesthäuser neu erfinden, da können sie dann liegen und mitsamt ihrer Überzeugung und ihrem freien Willen entspannt unter Ihresgleichen vor sich hin coronieren, chacun à son goût, aber dass sie wegen ihrem freien Willen und ihrer freien Entscheidung anderen zusätzlich Arbeit machen und für unfreiwillig Erkrankte die Intensivbetten blockieren – nun, das finde ich halt genauso wenig okay, wie die Einführung einer Impfpflicht.

[…]

Ich bin der festen Überzeugung, dass die heute so modernen moralischen Befindlichkeiten weder in der Natur noch in der Realität eine stabile Mehrheit haben, sondern schlicht nur dekadente Auswüchse einer extrem realitätsfernen intellektuellen Schickeria sind, die sich von den tatsächlichen Alltagsproblemen der Mehrheit der Menschen soweit entfernt haben, dass es schon fast an die Naivität einer Marie-Antoinette heranreicht.«

Laut Radio sind die Preise für Opium gestiegen. Auch das noch.

Mittwoch: Der Buß- und Bettag wurde 1995 zur Finanzierung der Pflegeversicherung als gesetzlicher Feiertag abgeschafft. Außer in Sachsen, dort wird heute weiterhin gebüßt und gebetet. Das erscheint auch dringend geboten.

Heute öffnet nicht nur der Weihnachtsmarkt in Bonn, auch gilt in großen Teilen der Innenstadt wieder Maskenpflicht. Vielen Dank an alle, die im Recht auf Impfverzicht einen wesentlichen und unverhandelbaren Bestandteil ihrer persönlichen Freiheit und körperlichen Selbstbestimmung sehen.

Man beachte die medizinische Maskenpflicht.

In der Zeitung fand ich übrigens das Wort „gewissensarm“, ich finde, Sie sollten das auch mal gelesen haben.

Donnerstag: Donnerstag ist Zu-Fuß-ins-Werk-geh-Tag. Wer geht, sieht mehr. Ich sah und hörte morgens eine Nilgans, die auf dem Hinterdeck der am Rheinufer festgemachten MS „Beethoven“ saß und von dort aus in etwa halbsekündlich ausgestoßenen Rufen die Welt beschimpfte: Nak, nak, nak, nak, nak …, minuten,- vielleicht stundenlang, so viel Zeit hatte ich nicht. Ob sie wirklich die Welt beschimpfte, kann ich, der Geflügelsprache nur unzureichend mächtig, natürlich nicht beurteilen, besonders froh klang sie jedenfalls nicht. Vielleicht galt jedes einzelne „Nak“ einem entfernten Art- beziehungsweise Gattungsgenossen, der in den letzten Tagen als Martinsgans sein Gänseleben beendete oder einer Zukunft als Weihnachtsgans entgegensieht. Auf dem Rückweg am Abend sah ich die „Beethoven“ (warum gilt eigentlich für Wasserfahrzeuge, ob Schiff, Kahn oder Fähre, seit jeher das generische Femininum?) noch immer am selben Platz vertäut, freilich ohne die erregte Gans auf dem Hinterdeck. Irgendwann hat auch so ein Großvogel mal Feierabend oder einfach den Schnabel voll.

Ebenfalls auf dem Heimweg gönnte ich mir im Außenbereich eines Lokals am Rheinufer, fernab des Weihnachtsmarktgedränges und ohne fremde Menschen in unmittelbarer Nähe, den ersten Glühwein des Jahres, zur Geschmacksveredelung mit einem Hauch Amaretto versehen. Das war sehr schön, ich freue mich schon auf den übernächsten Donnerstag (am nächsten habe ich Urlaub, auf den freue ich mich auch).

(Triggerwarnung: Der folgende Absatz könnte Boomerblödfinder ärgern.) Skandal: An Schulen spielen die Kinder laut Zeitungsbericht Szenen aus der Netflix-Serie „Squid Game“ nach. Ich kenne sie nicht und werde sie mangels Netflix-Anschluss und Desinteresse in dieser Serie im Speziellen und Serien im Allgemeinen voraussichtlich auch nicht kennen lernen. Wie zu lesen ist, müssen dort Menschen am Ende sterben, also wie im Tatort (den ich konsequent auch nicht anschaue), nur dass man dort üblicherweise nicht am Ende, sondern innerhalb der ersten Minuten stirbt und die Sendung nur selten einen Skandal hervorruft, und in der Bibel, die bis heute direkt und indirekt zahlreiche Skandale auslöst, was hier auszuführen indes zu weit führte. »Es sei richtig, dass Erzieher und Lehrkräfte Alarm schlügen, wenn sie erlebten, dass Kinder brutale Szenen nachstellten«, heißt es in dem Artikel. – Wir spielten als Kinder, nachdem wir im Fernsehen „Bonanza“ und „Rauchende Colts“ gesehen hatten und als das noch als moralisch unbedenklich galt und es den Begriff der „kulturellen Aneignung“ noch nicht gab, Cowboy und Indianer. Da wurde auch schon mal einer erschossen, was nicht immer gelang: „Peng, du bist tot.“ – „Bin ich gar nicht!“ – „Menno, dann spiele ich nicht mehr mit dir!“ Soweit ich mich erinnere, schlug deswegen niemand Alarm.

Freitag: Eine Kollegin hat sich nun auch dieses Tatsächlich-Virus eingefangen. Womöglich ursprünglich aus dem Angelsächsischen stammend, hat es sich, neben dem Unterwegs-Virus, rasend verbreitet durch Gebrauch und unbedachtes Nachplappern vor allem in Besprechungen. Zu bekämpfen ist es tatsächlich nur durch bewusste Wahrnehmung und Vermeidung. Möge dieser Absatz einen Beitrag dazu leisten.

Aus einer Studie zum Thema Glück: »Je höher die Infektionszahlen und je strikter die Maßnahmen, desto niedriger das Glücksniveau.« Wer hätte das gedacht.

Samstag: In der Fußgängerzone sah ich ein Pappschild mit der Aufschrift »Wer an den Sohn des HERRN glaubt, der wird ewig leben.« Daneben zwei Personen, die versuchten, den Vorübergehenden Druckerzeugnisse in die Hand zu drücken, mit geringem Erfolg; alle gingen weiter, die meisten ordnungsgemäß maskiert, ohne ein segensreiches Exemplar abzugreifen. Auch ich beschleunigte, wie stets, wenn mir jemand unaufgefordert etwas aushändigen oder mich gar ansprechen will, meine Schritte. Zudem erscheint mir ewiges Leben wenig erstrebenswert, daher besser nicht alles glauben.

Sonntag: »Die Ampelkoalition will den Zugbetrieb vom Schienennetz trennen«, steht in der Sonntagszeitung. Eines meiner wiederkehrenden Traummotive: Ein Zug verlässt an einem Bahnübergang die Schienen und fährt über die Straße weiter. Jedesmal stehe staunend daneben und frage mich, wie der wohl gelenkt wird. Wobei es so etwas ja schon gegeben hat.

Ein gestern in der Tageszeitung gelesener Artikel über Schlüsseldienste scheint in meinem Unterbewusstsein etwas ausgelöst zu haben. So verließ ich die Wohnung heute zum Spaziergang ohne Schlüssel, was mir noch nie zuvor passiert ist, vielmehr erfolgt stets vor Schließen der Wohnungstür ein automatisierter Prüfgriff nach Portmonee, Telefon, Notizbuch und Schlüsselbund. Doch musste ich nach Rückkehr keinen Schlüsseldienst beauftragen, nur klingeln und des Geliebten Gemurre über mich ergehen lassen.

Zum Schluss weitere Bilder der Woche:

Abendstimmung am Mutterhaus

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Gute Basssänger werden von vielen Chören mittlerweile dringend gesucht.

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Donnerstagabend, kurz vor Glühwein

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Während der Nachstunden sowie an Sonn- und Feiertagen geht von dem Virus keine Gefahr aus.

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Kann ja mal passieren.

Ansonsten notierte ich gestern am späteren Abend das Wort „Belfast“, weiß aber nicht mehr, warum. Irgendwas mit schnell bellenden Hunden, meine ich mich dunkel zu erinnern – die Notiz erfolgte nach der ersten Flasche Wein. Sollte es mir wieder einfallen, reiche ich es nach.

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Ihnen eine angenehme neue Woche, bleiben Sie im positiven Sinne negativ!

Woche 45/2021: Nicht mehr blasfähig

Montag: „Da sind wir auf dem wachsenden Ast unterwegs“, hörte ich in einer Besprechung. Beinahe wäre mir daraufhin ebenfalls ein Ast … lassen wir das.

Gelesen und, da für sehr schön befunden, zum Nachlesen empfohlen: Am Anfang war das Wort.

Dienstag: Es ist des Alltagsbloggers höchstes Vergnügen, aus der Flut der täglichen Wahrnehmungen diejenigen herauszufiltern, die des Notierens würdig erscheinen. Eine solche war der Satz, den vor Jahren ein Kollege zum Ende eines Gesprächs aussprach: Statt der in Momenten des Scheidens üblichen Floskel „Einen schönen/angenehmen/erfolgreichen Tag noch“ wünschte er einen „hohen Wirkungsgrad“, was sogleich aufgeschrieben und später dem geneigten Leser zur Kenntnis gegeben wurde. Manches davon merkt man sich, um es womöglich selbst gelegentlich anzubringen, anderes, wie in vorstehendem Fall, vergisst man aus gutem Grund bald wieder. Bis heute Abend, als mir jemand per Mail mitteilte, bei der Recherche nach genau jener Phrase (warum recherchiert man sowas?) sei er auf dieses Blog gestoßen, und er kenne genau zwei Personen, die derlei sagen, auch deren Namen nannte er mir, ob auch ich einen der beiden kenne, wir somit gar einen gemeinsamen Bekannten hätten. Haben wir nicht, mein Kollege trägt einen anderen Namen, was ihn indes nicht vom Gebrauch dieser ungewöhnlichen Abschiedsformel abhält.

Wie vielleicht bereits erwähnt, laufe ich zur Erhaltung des persönlichen Wirkungsgrades wieder regelmäßig, zweimal in der Woche abends, seit der Zeitumstellung am vorletzten Wochenende im Dunkeln, was nicht ganz ungefährlich ist. Musste der späte Läufer in früheren Zeiten fürchten, von wilden Tieren oder Räuberbanden heimgesucht zu werden, geht die größte Gefahr heute von achtlos in den Weg gestellten oder gelegten Elektrotretrollern aus.

ABBA ist seit dem neuen Album wieder in aller Munde, so lief am Abend im Fernsehen eine mehrstündige Dokumentation, aus der ich unter anderem mir bis dahin Unbekanntes erfuhr, nämlich dass sie sich mit dem Lied „Ring Ring“ bereits im Jahre 1973 für den Grand Prix Eurovision de la Chanson (für die Jüngeren: heute Eurovision Song Contest bzw. ESC) beworben hatten und damit durchfielen, ehe ihnen ein Jahr später mit „Waterloo“ der große Durchbruch gelang. Auch im aktuellen SPIEGEL ist ein Gespräch mit Björn Ulvaeus zu lesen, in dem er sagte: »Und ich habe ein Vibrationsgerät, mit dem ich, Sie wissen schon, Sachen mache.« Bis das schöne Gefühl kommt, von der Erzeugung schöner Gefühle verstehen die vier bis heute was. Es ging übrigens um so ein Geräte, das angeblich in der Lage ist, per Vibration Muskeln aufzubauen. Manche Leute glauben ja die abwegigsten Dinge, denken Sie nur an eingeimpfte Mikrochips oder Homöopathie.

Mittwoch: „Das ist fein für mich“, schrieb jemand in einer Mail. Eine dieser sinnlosen Phrasen, die zu sagen/schreiben irgendwann mal einer angefangen hat, seitdem von zahlreichen Businesskasperjargonliebhabern in Wort und Schrift vielfach nachgeplappert.

Auch fein, gehört in einer größeren Besprechungsrunde, als es darum ging, ob ein Seitenthema nicht besser in kleinerer Runde diskutiert werden sollte: „Das ist für die meisten hier vielleicht nicht langweilig, aber an der Grenze zur Relevanz.“ Das wiederum möchte ich mir gerne für die spätere Verwendung merken, siehe gestern.

Donnerstag: Heute ist der Elfte im Elften, ein für den Rheinländer wichtiges Datum (wohingegen für den Ostwestfalen einfach Donnerstag ist), oder „Double Eleven“, wie ich erstmals in völlig anderem, kommerziellen Zusammenhang las. (Meine Irritation über die Fernsehbilder dicht gedrängter Jecken in Köln möchte ich nicht weiter ausführen. Möglicherweise sehen wir noch interessanten Wochen und Monaten entgegen.)

Außerdem ist heute Martinstag: Auf dem Rückweg vom Werk sah und hörte ich am anderen Rheinufer einen Martinsumzug mit Trompetenspiel, meines Wissens eine katholische Angelegenheit. In meiner ostwestfälisch-evangelisch geprägten Kindheit – auch ich war mal Christ – gingen wir stattdessen, soweit ich mich erinnere einen Tag vor den Katholiken, zum „Martin-Luther-Singen“: In kleineren Gruppen, anfangs in Elternbegleitung mit echtkerzenbeleuchteten Papierlaternen, später unbeaufsichtigt und unbeleuchtet, liefen wir, mit Plastiktüten ausgestattet, von Haus zu Haus, klingelten, sangen ein im Rückblick seltsames Lied, danach warfen uns die Besungenen Süßigkeiten in die damals noch gänzlich unbescholtenen Kunststoffbeutel; das reichte von extra für diesen Tag beschaffter Neuware eines namhaften Bonner Herstellers bis hin zu klebrigen Bonbons, die vermutlich schon seit Generationen jedes Jahr zu „Martin Luther“ weitergereicht wurden.

Das Lied ging ungefähr so, wobei meine Erinnerung Lücken aufweist: „Martin Luther, Martin singen wir / Wir treten hervor das goldene Tor / Wer uns was gibt, und nicht vergisst / der kriegt eine goldene Krone / Die Krone reicht so weit, so weit / bis über die ganze Christenheit / Guten Aaabend, guten Aaabend / Lasst uns nicht so lange steh’n / wir woll’n noch ein Häuschen weiter geh’n / von hier bis nach Kööölle / Kölle ist ne große Stadt / da geben uns alle Leute wat / [beim Folgenden bin ich mir sehr unsicher, so ähnlich ging es jedenfalls, und zwar gesprochen/gerufen:] Schnick-schnack-Hosenmatz / [ab hier wieder etwas sicherer:] Schöne Jungfrau (!) gib uns was / Gib uns einen Apfel, der liegt bei dir im Schapfel (?) / Gib uns eine Nuss, dann gehen wir wieder nach Huss.“ – Rückblickend unbegreiflich, dass die Leute sich das bis zum Ende anhörten und mit Süßigkeiten belohnten. Gibt es das heute noch? Dann vermutlich mit Stoffbeuteln, LED-Laternen, veganem Naschwerk und Obst und nichtsexistischem Text. Zudem werden die Kids selbstverständlich mit dem SUV von Haus zu Haus gefahren, alles andere wäre viel zu gefährlich. Die Ausbeute wird dann per Instagram geteilt, natürlich nur in der Bedeutung von neidheischend verbreitet, nicht im Sinne von Sankt Martin und seinem Mantel.

Wo ich gerade ins Martinsplaudern geraten bin, verzeihen Sie bitte, vielleicht haben Sie noch etwas Zeit, morgen fasse ich mich wieder kürzer, versprochen: Das letzte Martin-Luther-Singen absolvierte ich mit siebzehn oder achtzehn. Genau genommen war es ein Martin-Luther-Blasen, in keiner Weise anstößig, wie Sie sogleich lesen werden: Mit fünf Jungs, allesamt Mitglieder des örtlichen Posaunenchores, zogen wir mit unseren Instrumenten durch die Gemeinde, bauten uns mit Notenständern vor den Hauseingängen auf und spielten beziehungsweise bliesen statt des oben zitierten Lutherliedes „Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr“ (auch bekannt unter dem Titel „Should auld acqaintance be forgot“). Warum ausgerechnet dieses Lied, weiß ich nicht mehr, war aber auch egal: Die Leute waren begeistert, besonders wegen der riesigen Tuba von Matthias B, beschenkten uns statt mit Süßigkeiten mit Applaus, Münzen, Zugabewünschen und Spirituosen; ein Mietshaus in der Allensteiner Straße verließen wir erst nach ungefähr einer Stunde. Blasfähig waren wir danach nicht mehr.

Übrigens: Wenn es heißt, jemand sei „praktizierender Christ“, ist wohl Vorsicht geboten.

Freitag: „Am liebsten liest man ja Texte, die sich um einen selbst drehen“, schrieb gestern Der Tagesspiegel. Das stimmt, und noch viel lieber schreibe ich sie.

Eine Einladung zur „Employee Appreciation Week“ wurde umgehend gelöscht wegen akuter Unlust, die Bedeutung von „Appreciation“ nachzuschlagen.

Samstag: Karnevals-Sessionseröffnung in Bad Godesberg, wo auch unser Verein zugegen war. Nicht nur wegen des zeitweise niedergehenden Regens und kalter Füße, trotz großzügig bemessener Abstände und Bützverzicht fühlte es sich irgendwie unrichtig an. Ich fürchte, das wird sich so bald nicht ändern.

Seit heute gibt es wieder kostenlose Covid-Schnelltests. Dazu sei die Anmerkung gestattet: Nein, die sind mitnichten kostenlos. Bezahlt werden sie von uns allen, ungeimpft wie geimpft.

Ansonsten konnten wir in dieser Woche in Glasgow der Hoffnung beim Sterben zuschauen.

Sonntag: Während des Spaziergangs durch den Bonner Norden sah ich mindestens sieben an unterschiedlichen Orten wild entsorgte alte Kühlschränke, entweder an den Straßenrand gestellt oder in öffentliche Grünflächen gelegt. Was ist nur los mit diesen Menschen? Auch sonst will es mir heute nicht gelingen, Erfreuliches niederzuschreiben, mir fällt nichts ein, vielmehr bin ich von einem gewissen Grundpessimismus ergriffen, einer Art Endzeitahnung, bitte verzeihen Sie mir, das vergeht wieder.

Um den Rückblick nicht ganz so schlechtlaunig zu beenden, ein paar Bilder der Woche:

(Montag, Rheinauenpark)
(ebenfalls)
(auch noch)
(Donnerstagmorgen war es nebelig und ziemlich kalt)
(Abends nur noch kalt)

Ach ja, eins noch: In der Sonntagszeitung las ich einen Artikel über den zunehmenden Duz-Zwang, nicht nur in der Werbung, auch im beruflichen Umfeld. Tenor: Nicht immer ist das Du angebracht, das Sie hat durchaus hier und da noch seine Daseinsberechtigung. Dem stimme ich voll und ganz zu. Daher werde ich Sie hier weiterhin konsequent siezen, schließlich kennen wir uns kaum.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine angenehme neue Woche mit möglichst viel Optimismus.

Woche 44/2021: Liebesglück und Linseneintopf

Montag: Allerheiligen. Ist es nicht schön, in einem Land zu leben, in dem es auch Agnostikern und Atheisten ohne geistliche Notlage gestattet ist, an solchen Tagen dem Werk fern zu bleiben? So verbrachte ich nach Ausschlafen und Frühstück mit den Lieben große Teile des Tages lesend auf meinem heimischen Lieblingsplatz. Etwa dieses vom Soziologen Ulrich Beck im SPIEGEL: »Grenzwerte sind eine Verständigung auf kollektive Normalvergiftung«. Von ihm stammt auch jenes: »Verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre«, passend zur aktuellen Klimadebatte, das ich bereits vor längerer Zeit notierte und noch keine Gelegenheit fand, es zu zitieren, was hiermit nachgeholt sei. Vielleicht lohnt es sich, Werke des Herrn Beck auf die Bücher-Wunschliste zu setzen. Empfehlungen nehme ich gerne entgegen.

Dienstag: Quasimontag. Erster Lichtblick des Tages beziehungsweise sein akustisches Pendant, mir fällt gerade kein Wort dafür ein: Morgens im Radio spielten sie „Music“ von John Miles. Was auch immer danach kommt – nach Verklingen des Schlussakkordes von „Music“ kann es nur blass erscheinen.

Weder blass noch fahl, sondern durchaus wohlschmeckend, wenn auch ungewöhnlich: Mittags in der Kantine gab es Linseneintopf mit Rindfleischstreifen.

Mittwoch: Der November zeigte sich kalt, nass und trübe, doch liegt das Glück ja oft darin, auch im Nasskalt-Trüben das Schöne zu sehen.

Aus der Tageszeitung:

(General-Anzeiger Bonn)

In derselben Zeitung stand auch dieses: »Eine Familie im australischen Bundesstaat Queensland hat in seiner Klimaanlage zwei sich paarende Schlangen entdeckt.« Den Tieren sei das Liebesglück gegönnt, aber warum hat der Bundesstaat eine Klimaanlage? (Einer meiner Lieblingsaufregegründe, neben fahrradfahrenden Aufsdatengerätschauenden, ist, wie Ihnen möglicherweise nicht entgangen ist, falls Sie hier gelegentlich lesen, wenn das Geschlecht des Possessivpronomens abweicht vom Substantiv, auf das es sich bezieht, insbesondere in einem Medium gewissem Qualitätsanspruch.Vielleicht sollten auch Possessivpronomen konsequent gegendert werden.)

Donnerstag: Auch in Nordrhein-Westfalen steigen die Bierpreise, war morgens im Radio zu hören. Auf dem Weg ins Werk sah ich, thematisch zumindest ein bisschen dazu passend, dieses:

(Üblicherweise ignoriere ich – einer persönlichen Bequemlichkeit, vereint mit mangelhaften Fremdsprachkenntnissen folgend – nahezu alles, was nicht in deutscher Sprache verfasst ist. Hier mache ich indes eine Ausnahme, wobei ich zunächst die Bedeutung von „refuse“ nachschlagen musste. Was uns dieser Hinweis sagen will, ist mir dennoch nicht ganz klar.)

Zahlreiche Plakate am Wegesrand weisen auf baldige öffentliche Veranstaltungen hin, auch der private Kalender füllt sich nach monatelanger Unbeflecktheit wieder mit Terminen, die nicht nur am Bildschirm stattfinden. In Anbetracht der gerade wieder dramatisch ansteigenden Infektionszahlen denke ich: abwarten. Oder wie ein prominenter, aus mir unerfindlichen Gründen bis vor geraumer Zeit, ehe er in Ungnade fiel, als „Kaiser“ bezeichneter Fußballkasper zu sagen pflegte: Schau’n mir mal.

Freitag: In einem Anschreiben beschwerte sich ein Kunde über etwas, das ich hier weder bewerten noch inhaltlich näher beschreiben werde. Der Grund des Erwähnens ist mein Gefallen an der Formulierung „mit Befremden“, mit der er seine Anstoßnahme zum Ausdruck brachte, und die in geradezu erfreulichem Kontrast zum Üblichen steht in diesen Zeiten voller Hass, Empörung und Ausrufezeichen.

Was anderes, ich weiß nicht, wie ich darauf jetzt komme: Haben Sie auch manchmal das unerklärliche Bedürfnis, jemandem wortlos den Gehkaffeebecher aus der Hand zu reißen und ihm vor die Füße zu werfen?

„Abends werden die Müden faul“, sagte einer, wobei es natürlich heißen musste „… die Faulen müde“.

Samstag: Der Tag begann schön, weil beim Brausebad dieses im Radio lief.

Beim Frühstück hörte ich erstmals das neue ABBA-Album. Die Zeitung bemerkt dazu kritisch, die vier seien im Jahr 1979 stehen geblieben, hätten sich nicht weiterentwickelt. Ja genau. Deshalb finde ich das Album wunderbar und freue mich sehr darüber.

Gefreut habe ich mich auch über dieses, gelesen bei Frau Novemberregen: »im Theater erschien mir googeln situationsfern«, besonders über das Wort „situationsfern“.

Sonntag: Ein paar Spaziergangsbilder, denn Bilder sagen mehr als Worte.

(Sie können gerne den angezeigten Link aufrufen, ich habe mich nicht getraut und übernehme selbstverständlich keine Haftung für eventuelle Schäden oder moralische Unwägbarkeiten.)

Was ich noch sah, jedoch nicht fotografierte, war ein älteres Paar, das am Rhein spazierte. Sie trugen die gleichen Jacken, vorne blauer Stepp, hinten sowie Ärmel grau, soweit ich mich erinnere, ist nicht wichtig und nicht ungewöhnlich bei sich zusammengehörig fühlenden Menschen. Bemerkens- und notierenwert fand ich indes die identischen Frisuren – er hatte wie sie lange graue, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare. (Übrigens halte ich die Theorie, wonach Hund und Herr-/Frauchen sich im Laufe der Jahre immer mehr angleichen, trotz wiederkehrender Behauptung für an den Haaren herbeigezogen.)

Kommen Sie gut durch die Woche!

Woche 43/2021: Liebe, Wanderlust und Uhrenumstellung

Montag: Im Werks-Maileingang zwei Nachrichten von mittelmäßiger Wichtigkeit, eine von Samstag, 21:13, die andere von Sonntag, 17:45 Uhr. Was führen die Versender für ein Leben?

In einem Artikel über Egoisten in der aktuellen Ausgabe der PSYCHOLOGIE HEUTE wurde ich auf den „Dark Factor“ aufmerksam. Er misst „die Ausprägung des dunklen Kerns der Persönlichkeit. Unter Personen mit hohem D-Faktor sind solche, die den Schaden anderer nicht sehen, ihn billigend in Kauf nehmen, und solche, die andere absichtlich schädigen.“ Echte Arschlöcher also. Man kann die eigene Charakterdunkelheit hier selbst bestimmen, was ich sogleich tat. Das Ergebnis überrascht – mit einem Wert von 1,77 auf der Skala von 1 (hell) bis 5 (dunkel) scheine ich verträglicher zu sein als selbst geahnt.

Dienstag: Die Sängerin Nena, vor geraumer Zeit durch zweifelhafte Äußerungen in Misskredit geraten, sang einst, als sie noch beliebt war, von neunundneunzig Luftballons am Horizont, die fast den befürchteten Atomkrieg ausgelöst (andere würden schreiben für einen Atomkrieg gesorgt) hätten. Ähnliches trug sich am frühen Abend bei uns zu, nachdem der in jeder Hinsicht harmlose Postkartengruß eines alten Freundes erst in die falschen Hände, dann in den falschen Hals geriet und so fast zu einem Eklat mit Polizeieinsatz geführt hätte. „Nichts ist so unlogisch wie die Liebe“, wird Florian Illies im SPIEGEL zitiert.

Mittwoch: In der Kantine verlangte vor mir einer nach einer „richtigen Männerportion“ und schaute sich anschließend beifallheischend um. Ich verdrehte (nur innerlich) die Augen und tat ansonsten so, als hätte ich es nicht gehört, was mich nicht daran hindert, es nun aufzuschreiben.

Aufgeschrieben und mir gesendet (also nicht nur mir, sondern allen, die es abonniert haben) hat Kurt Kister von der Süddeutschen Zeitung folgendes, unter anderem über die allgemein oder wenigstens in meiner Generation bekannte und beliebte Männerportion eines Nudel-Fertiggerichts:

»Es war diese gelbe Pappschachtel, deren Namen ich nicht nenne, weil ich sonst ein Influencer wäre, was ich auf keinen Fall sein möchte. Als ich Matthes die Alutüte aufschneiden sah und er das Tomatenmark in den Topf gab, schmeckte ich 342 einsame Abendessen in möblierten oder nichtmöblierten Wohnungen. Als er die Würzmischung über das Mark streute, wusste ich, dass man aufpassen muss, dass der Herd nicht so weit aufgedreht ist, weil sonst Blasen in der Tomatensauce entstehen. Und als er dann die rote Sauce über die irgendwie leichengelben Nudeln schüttete, roch ich diesen… nennen wir es mal wider besseres Wissen: Duft, und ich spürte schon das Völlegefühl im Magen, das man hat, wenn man die drei Portionen, wie es auf der Schachtel heißt, alleine aß. Ich habe sie immer alleine gegessen.«

Weiter schreibt er zu einen ganz anderen Thema:

»Es sind die Retro-Shows, und sie haben gerne Titel wie „Die 80er Show“. Man sieht irgendwelche Ausschnitte von Songs, Ereignissen oder Werbeclips. Dazwischen labern dann mehr oder weniger bekannte Menschen, oft in einer Ecke des Bildschirms, was sie gerade für Assoziationen hatten oder wie sie es damals erlebt haben. Dafür nimmt man gerne in den Sechzigerjahren geborene lustige Menschen, die vor 20 Jahren entweder mal etwas prominent waren oder auch nur deswegen heute prominent sind, weil sie immer aus der Bildschirmecke heraus was über Led Zeppelin oder Helmut Kohl sagen.«

Als in den Sechzigerjahren geborenem, wenn auch weder besonders lustigem noch (zum Glück) auch nur ansatzweise prominentem Menschen gefällt mir beides außerordentlich gut. Wenn Ihnen das auch gefällt und sie so etwas jeden Mittwoch in Ihrem Maileingang vorfinden möchten, klicken Sie hier und wählen Sie „Deutscher Alltag“ aus.

Donnerstag: »FDP-Chef Christian Lindner (42) und seine Lebensgefährtin Franca Lehfeldt (32) haben sich verlobt und wollen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur heiraten«, steht in der Zeitung. Es liegt mir fern, das alte Gleichnis von Topf und Deckel erneut zu strapazieren, die Dame wird schon wissen, was sie tut, zudem wird sie ihn ohnehin nicht allzu oft auf dem heimischen Sofa herumzulungern haben, wenn er demnächst Minister ist. Viel bemerkenswerter finde ich die zusätzliche Klarstellung durch die DPA, dass die beiden auch heiraten wollen; bislang ging ich davon aus, diese Absicht wohne einer jeden Verlobung inne.

Von Liebesbanden zu Wanderlust: Heute war wieder einer dieser zahlreichen „letzten schönen Tage des Jahres“, den ich dank Inseltag nutzte, um die vierte Rheinsteig-Etappe von Linz am Rhein nach Bad Hönningen zu erwandern. Streckenweise ging es recht steil bergauf, deswegen heißt es ja auch Rheinsteig und nicht -weg oder -pfad. Doch die Mühe lohnt sich.

Letzter Dunst verzieht sich langsam
Nicht nur Wasser sucht sich seinen Weg.
Drogenanbau

Oberhalb von Bad Hönningen verließ ich den Rheinsteig in Richtung Innenstadt und Bahnhof. Krasser konnte der Gegensatz nicht sein: Streichelten zuvor Wälder, Felder und Reben des Wanderers Auge, führte der Weg nun durch eine deprimierende Neubausiedlung mit wenig Grün, viel Pflaster und Schotter vor den Häusern, die nahtlos in ein nicht minder hässliches Industrie- und Gewerbegebiet überging.

Beachtenswert die Hinweise auf Waffen und Gebotsschilder

Die letzten Meter führten durch eine pittoreske Unterführung, die direkt am Bahnhof endete. Da die nächste Bahn in Richtung Bonn in wenigen Minuten abfuhr und keine einladende Gastronomie in Sichtweite war, verzichtete ich gar auf das traditionelle Belohnungsbier.

Hier unversehrt durchzukommen beeilen sich vermutlich sogar Rocker und Hooligans

Freitag: »Sorge vor Krawatten in Köln«, las ich morgens in der Zeitung. So sehr ich das langsame Ende dieses überflüssigen Halsschmuckes auch begrüße – nach nochmaligem Nachlesen galt die Sorge vielmehr Krawallen anlässlich einer größeren Demonstration gegen das Versammlungsgesetz. Wobei auch Krawatten und Versammlungen nicht vollkommen wesensfremd sind.

Apropos Ende: Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der Schreck, wenn im Büro beim Abreißen der Blätter des Dreimonatswandkalenders das Wort „Dezember“ erscheint. Nehmen wir es mit Lebkuchen und Humor, was bleibt uns übrig.

Welche Art von Humor hier den Programmierer trieb, wissen wir nicht.

Samstag: »Stadt Bonn stellt Opernhaus auf den Prüfstand«, titelt die Zeitung. Das wäre wirklich sehenswert.

An einem Informationsstand von Amnesty International in der Innenstadt sah ich im Vorbeigehen – an solchen Ständen, seien es Tier-, Natur-, Kinder- oder Wasauchimmer-Schützer gehe ich stets besonders schnell vorbei, um nicht vollgequatscht zu werden – einen jungen Mann mit zwei langen, geflochtenen Zöpfen, gleichsam die Greta für Verfolgte. Das war so ziemlich das Lächerlichste, was ich seit langem gesehen habe, was ich kaum zu verbergen vermocht hätte, hätte er mich in der üblichen Weise („Hättest du [die glauben immer, einen duzen zu dürfen] kurz Zeit für …“) angesprochen. Hat er zum Glück nicht.

Uhrenumstellung im Haushalt K: Hier werden nicht einfach die Zeiger um eine Stunde zurückgedreht, vielmehr wurden beim Versandhändler meines Misstrauens neue Wanduhren bestellt.

Sonntag: An den Restaurantbesuch gestern Abend erinnere ich mich aufgrund der Fülle an Begleitgetränken nicht in allen Details. Da der Geliebte am Ende keine Schuhe mehr anhatte, wird es ganz gut gewesen sein.

Vor der Kirche in der Inneren Nordstadt steht diese Säule:

Beachten Sie den unfreundlichen Hinweis im orangen Feld, dem ich Folge leistete. Die Verse 26 und 27 lauten: »26 Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; 27 ebenso gaben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer treiben mit Männern Unzucht und erhalten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung.« Irgendwer hat ja immer was zu nörgeln.

Während des Spaziergangs am Nachmittag sah ich an einer Bushaltestelle eine junge Dame stehen, ins Datengerät vertieft, mit einem aufgesetzten Plüsch-Heiligenschein, ansonsten hatte sie nur wenig Engelhaftes an sich. Erst später ging mir auf, dass heute wieder dieses Halloween gefeiert wird.

Zum Schluss noch dieses:

»Aus dem Leben und der Kriminalstatistik weiß ich, dass man in der Regel nicht von einem dunkel durch den Garten huschenden Schatten ermordet wird, sondern von Menschen, zu denen man zu einem früheren Zeitpunkt einmal ,Liebling‘ oder ‚Schatz‘ gesagt hat.«

Denis Scheck in der PSYCHOLOGIE HEUTE

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche voller Liebe, Humor und – wenn Sie mögen – Begleitgetränken.