Woche 47/2021: Mehr China wagen

Montag: Heute wurde die nächste Weihnachtsfeier abgesagt und durch ein Bildschirm-Event ersetzt. Da mich solche Veranstaltungen zutiefst deprimieren, sicher erwähnte ich das schon, ohne mich. Es ist und bleibt mir ein Rätsel, wie man Freude daran haben kann, mit dem dienstlichen Laptop auf dem Büffet, angeleitet durch einen Bildschirmkoch in der heimischen Küche etwas zuzubereiten, um es anschließend gemeinsam mit den ebenfalls nur im Monitor mitessenden Kollegen zu verzehren.

Dienstag: Wie empirisch ermittelt wurde, entstehen Träume von Blasendruck häufig durch Blasendruck.

Dem weihnachtlichen Schenkdruck stehe ich seit geraumer Zeit eher ablehnend gegenüber, deshalb bin ich sehr dankbar für unser diesjähriges Weihnachtsgabenverzichtsabkommen. Das heißt nicht, dass ich mich nicht über Geschenke freue, am meisten, wenn sie unerwartet eingehen, so wie heute gleich zwei. Das erste war ein Paket mit sechs Flaschen unterschiedlicher Biersorten, die der Rücksendung eines von mir verliehenen Buches beigefügt waren. Da ich weiß oder wenigstens annehme, dass die Schenkerin hier mitliest, auf diesem Wege nochmals: Liebe N., ich danke Ihnen ganz herzlich für die Sendung, ich werde sie genießen! Das zweite völlig überraschende Geschenk machte mir der Geliebte, auch hierüber freue ich mich außerordentlich:

Da zurzeit nicht absehbar ist, wie lange es noch geht, waren der Liebste und ich abends auf den Bonner Weihnachtsmarkt. Es war nicht sehr voll und auch sonst fühlte es sich anders an als gewohnt, inklusive einem diffusen Unbehagen. Immerhin wurden unsere Impfnachweise kontrolliert und Ordnungskräfte patrouillierten.

Mittwoch: Immer bemerkenswert, wenn jemand wegen irgendeiner ihn erregenden Unpässlichkeit „einen Hals bekommt“. Hatte er vorher keinen, oder hat er danach zwei? Beides nicht sehr schön.

Ähnlich wie die Halsbekommer empfinde ich stets, wenn ein stehendes Kraftfahrzeug ohne Fahrer mit laufendem Motor irgendwo herumemissioniert. Auf einer (immer noch nicht angelegten) Liste der Dinge, die ich noch tun will, ehe für mich das Licht ausgeht, stünde, in ein solches Auto einzusteigen und es um die nächste Straßenecke zu fahren. Heute Abend, auf dem Weg vom Einkaufen, wäre wieder dazu die Gelegenheit gewesen. Man ist einfach zu ängstlich.

Donnerstag: Heute war wieder „Inseltag“, das heißt ein Tag Urlaub zwischendurch, nur so für mich, ohne besonderen Anlass. Das ursprüngliche Vorhaben, die Wahner Heide zu durchqueren, wurde verschoben zugunsten a) eines Frühstücks im Café (mit Kontrolle von Impfnach- und Personalausweis, sehr lobenswert) und b) einer Begehung der nicht mehr betriebenen Industriebahn von Beuel nach Hangelar, was ich schon lange vorhatte. Im höchst unwahrscheinlichen Fall, dass Sie etwas über diese Bahn wissen wollen, schauen Sie gerne hier. Hier einige Eindrücke:

Am Bahnsteig links konnte man bis 2019 während der Großkirmes „Pützchens Markt“ von und nach Bonn-Beuel und Hangelar an- und abreisen. Angesichts der maroden Gleise und der aktuellen Lage schwer vorstellbar, dass das jemals wieder möglich sein wird.
Bahnhof Hangelar, Blick auf das heutige Streckenende. Früher ging es weiter bis Großenbusch. Müssen Sie auch nicht unbedingt kennen.

Freitag: »Die Vertrauensstellung zwischen dieser Arbeitsstation und der primären Domäne konnte nicht hergestellt werden«, meldete der Werksrechner beim ersten Anmeldeversuch am Morgen. Beim zweiten Versuch war das Vertrauen wieder hergestellt, die Hoffnung auf einen frühen Feierabend zerstört.

Das Wort „Omikron“ erscheint noch etwas ungewohnt; wir werden uns sehr schnell daran gewöhnen.

„Wer wird die Menschheit retten?“, fragt die Werbung für das Buch eines Drogeriehändlers. Die Antwort mag manchem die Laune trüben: Niemand. Wir sind nicht mehr zu retten. Unser natürlich Unvermögen, zugunsten eines langfristigen Wohlergehens kurzfristig auf etwas zu verzichten, wird uns in absehbarer Zeit auslöschen.

Samstag: Alle Jahre wieder – es knirschte etwas im Gebälk des häuslichen Harmoniegefüges, als Weihnachtsdekorationseuphorie sich an Lichterkettenskepsis rieb. Das Wort „Weihnachtsa…loch“ fiel wieder.

Fahrräder rasen auf Fußwegen, Fußgänger bummeln auf Radwegen, Autos parken auf Rad- und Fußwegen, Geschwindigkeitskontrollen sind ein Angriff auf die persönliche Freiheit; Menschen wollen sich nicht impfen lassen und keine Maske tragen; Müll wird am Straßenrand entsorgt; Bahnstrecken und Stromleitungen werden nicht ausgebaut, weil sich Menschen und Lurche gestört fühlen. Vielleicht sollten wir manchmal etwas mehr China wagen.

»Man sollte wirklich nicht alles mit sich selbst verarbeiten, sondern manchmal eine kleine Beschwerde führen, damit man so freundlich zurechtgewiesen und über sich selbst aufgeklärt würde.«

Johann Wolfgang von Goethe

Sonntag: „#Wegistdasziel“ steht auf einem Werbeplakat für Zigaretten. Abgesehen von der Frage, warum das noch immer erlaubt ist: Wo ist das Ziel hin?

Noch drei Bilder der Woche:

„Individuelle Wohnkonzepte“ – früher auch bekannt als Wohnhäuser

Kommen Sie gut durch die Woche und möglichst konfliktfrei durch die Adventszeit.

Mir fehlen die passenden Worte

Gerne schriebe ich was kluges über die Folgen der unfassbaren Ereignisse in Paris am vergangenen Freitagabend. Über meine Fassungslosigkeit. Über die Ahnung, dass sich ähnliches jederzeit wiederholen kann, überall, auch hier in Bonn, wo vor drei Jahren nur deshalb nichts passierte, weil die Bombe am Hauptbahnhof wegen Konstruktionsfehlern nicht hochging. Über das wiedererwachte Unbehagen, aus dem Haus zu gehen, morgens mit der Stadtbahn zur Arbeit zu fahren und abends zurück, oder mit dem Zug nach Köln; den bald beginnenden Weihnachtsmarkt zu besuchen, demnächst Karnevalszüge, oder im Sommer den Kölner Christopher Street Day – welch prädestinierte Ziele für Verrückte!

Jetzt erst recht, heißt es, wir dürfen uns von der Angst vor Terror nicht einschüchtern lassen, denn genau dann hätten die Wahnsinnigen ihr Ziel erreicht. Ja, das stimmt wohl, jedoch für einen Menschen wie mich, mit großem Talent zum Katastrophisieren, leichter gesagt als getan.

Darüber würde ich gerne was schreiben, aber ich fürchte, mir fehlen dazu die passenden Worte.

Über Toleranz

Wannenspaß

Mag sein, dass ich mich wiederhole. Egal, das Thema ist mir ein Anliegen, obwohl ich nicht persönlich betroffen bin. Also: Der Bundestag hat kürzlich die gesetzliche Verschärfung des Sexualstrafrechts beschlossen. So ist es nunmehr nicht mehr nur – zu recht – verboten, Pornos mit Kindern zu produzieren, anzubieten und in welcher Weise auch immer zu konsumieren, auch dürfen nackte oder fast unbekleidete Kinder nun nicht mehr fotografiert werden, zum Beispiel am Strand oder im Freibad, zum Zwecke der lustmildernden Betrachtung.

 

Als Grund hierfür wird der Schutz des Kindes als schwächstem Glied der Gesellschaft genannt, dem ist kaum zu widersprechen. Und doch fühle ich dabei ein gewisses Unbehagen. Warum? Darum: So wie es Hetero-, Homo-, Bi- und weiß der Himmel was noch für Sexuelle gibt, so gibt es auch Pädophile, und auch die haben sich, genauso wie die Vorgenannten, ihre Neigung wahrlich nicht ausgesucht. Und wie jeder christlich-heterosexuelle Frauenunterdrücker haben auch sie ein Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, so lange sie damit niemanden schädigen oder beeinträchtigen.

 

Ich frage mich: Inwieweit nimmt ein Kind durch ein heimlich gemachtes Foto Schaden? Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird es niemals davon erfahren, erst recht wird ihm dadurch keine ohne Zweifel verabscheuenswürdige Gewalt angetan. Gewiss, auch mir würde es nicht behagen, ergötzte sich ein gereifter Herr zu Hause vor seinem Rechner am Bild meines Sohnes, der in Badehose oder ohne am Strand Sandburgen baut, und doch: was bleibt diesen Mitmenschen jetzt noch, sich auf legale Weise mit ihrer angeborenen, unfreiwilligen Präferenz zu arrangieren? Niemand komme mir jetzt bitte mit Therapie, Gebet, Enthaltsamkeit oder gar Sterilisation, so wollte man den Schwulen vor noch nicht allzu langer Zeit auch beikommen, und diese Zeiten sind zum Glück vorbei, jedenfalls erstmal, wobei nicht völlig auszuschließen ist, dass sich der Wind in dieser Hinsicht irgendwann wieder dreht, dazu muss man gar nicht auf muslimische Fundamentalisten oder die NPD schauen.

 

Wenn Kinder die schwächste und schutzbedürftigste gesellschaftliche Gruppe sind, so sind Pädophile wohl die am meisten gehasste und verachtete. „Schwanz ab!“ und „alle vergasen“, so die üblichen Forderungen in diversen Internetforen. Die ARD veranstaltete kürzlich ihre „Themenwoche Toleranz“. Wir sind heute tolerant gegenüber Liebhabern von Peitsche und Leder, Religionen aller Art einschließlich Veganismus, Apple und Facebook, allen denkbaren Hautfarben, Huren, Bankern, Mahlzeit- und Gesundheit-Sagern, Linkshändern, Rothaarigen, Glatzen, Schnauzbärten, Segelohren, Helene-Fischer-Fans*, Hundehaltern und -hassern, Schwaben, Liegeradfahrern, AfD-Wählern, sogar FDP-Politikern. Nur die Pädophilen können in absehbarer Zeit nicht damit rechnen. Da bin ich echt froh, nur auf Jungs zu stehen, die schon seit geraumer Zeit Haare um den Pillermann haben, es sei denn, sie rasieren sich die aus unerfindlichen Gründen ständig ab, aber das ist ein anderes Thema. Laut einer Umfrage unter jungen Jurastudenten befürwortet übrigens ein Drittel von ihnen die Einführung der Todesstrafe.

 

So, und jetzt beschimpfen Sie mich bitte unflätig und zahlreich. Vorschläge: Schwanzlutscher, Arschficker, Drecksau, Kinderfickerversteher. Ihnen fällt bestimmt noch was besseres ein.

 

 

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  • * Das geht zu weit, Lenchen F. ist die Größte, sie bedarf keiner Toleranz, sondern verdient unsere volle Bewunderung.**

 

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** Während ich obige Fußnote hinzufüge, drückt sich der kalte Stahl eines Pistolenlaufs gegen meine Schläfe. Kann mal bitte jemand unauffällig die Polizei rufen?