Gesundheit!

Mit Entsetzen habe ich erfahren, dass es laut dem neuesten Knigge wieder angezeigt ist, dem Niesen eines Mitmenschen mit einem herzlichen „Gesundheit!“ zu begegnen, nachdem es jahrelang verpönt war, wenn auch nur theoretisch. Warum nur theoretisch? Nun, mir sind selten Menschen begegnet, denen es nicht innerhalb von Sekundenbruchteilen nach dem Nieser eines anwesenden geradezu zwanghaft, gleichsam fremdgesteuert entfuhr, ob das nun in Knigges Sinne war oder nicht. Der absurde Automatismus, der diesem Ausruf innewohnt, wird besonders deutlich bei einer Nieserserie, vielleicht zwei- oder dreimal hintereinander im Abstand weniger Sekunden: Dann entsteht schon mal ein Dialog wie „Hatschi“ – „Gesundheit“, „Hatschi“ – „Gesundheit“, „Hatschi“ – „Gesundheit“ und so weiter. (Anmerkung: „Hatschi“ ist natürlich ein reines Kunstwort. Selten habe ich jemanden dieses Wort anlässlich eines Niesers nutzen gehört, vielmehr entfährt dem Niesenden ja ein mehr oder weniger krachender Schnaublaut, der mit den Buchstaben dieser Tastatur nur sehr unvollkommen wiedergegeben kann, so etwas wie „hgrmfsch“, oft noch ergänzt um ein beifallheischendes „Uaaa“ oder „Huiuiui“. Andere wiederum beherrschen die Kunst, den Nieser nahezu lautlos zu erzeugen, sie leiten ihn irgendwie nach innen um, wie auch immer die das machen und wohin auch immer die Luft sich entlädt, wir wollen das hier nicht vertiefen.)

Nun soll es also wieder salonfähig sein, ja schlimmer, es wird geradezu erwartet, so wie man jemandem einen „Guten Morgen“, „Guten Abend“ oder eine „Gute Nacht“ wünscht, je nach Tageszeit, versteht sich. Ich bin verzweifelt! Aber ich mache das nicht mit. So, wie ich bislang anscheinend der einzige mir bekannte kniggekonforme Nichtgesundheitsager war, werde ich dann eben jetzt zum nichtkniggekonformen. Wer ist schon Knigge. Ich lasse mir von den geistigen Nachfahren diese Freiherrn eine solch überflüssige Floskel nicht aufzwingen.

Schlimmer noch als die Erwartung an mich, dieses Wort zu gegebenem Anlass abzusondern, sind die Ausrufe desselben von anderen, wenn mich die Nase reizt. Aber diesem Ungemach begegne ich auf sehr einfache Weise: ich niese nur noch, wenn ich alleine bin. Sobald jemand auch nur in Hörweite ist, niese ich nicht. Das geht! Der Niesreiz kündigt sich ja in der Regel einige Sekunden vorher an. Dann halte ich die Luft an und spreche innerlich (wirklich nur innerlich, das ist wichtig, um nicht für geistesgestört gehalten zu werden, jedenfalls nicht deswegen): „Ich werde jetzt niesen, eins, zwei, haaa…“ und nichts passiert. So wie der Niesreiz kam, geht er wieder, geräusch- und vor allem kommentarlos. Das funktioniert fast immer.

Wenn es sich dann doch mal gar nicht vermeiden lässt und das Unvermeidliche eintritt, gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste wurde von Knigge daselbst empfohlen: Direkt im Anschluss an den Nasendonner fügt man ein „Entschuldigung“ an und nimmt damit, noch bevor sie es aussprechen können, den Gesundheitsagern den Wind aus den Segeln. Die zweite finde ich persönlich origineller: Statt des erwarteten „Danke“ ein unschuldiges „Bitte?“ entgegnen. Das verwirrt den Gegner zunächst, wird ihn aber langfristig an der Sinnhaftigkeit seines Ausrufes zweifeln lassen.

Warum rufen Menschen eigentlich „Gesundheit“, wenn jemandem ein Nasensturm entfährt? Die Entstehung dieser (Un-)Sitte soll auf die Zeiten der Pest und Tuberkulose zurück gehen, wo man allerdings sich selbst meinte, wenn man einem niesenden das Wort zurief. Das mag verständlich erscheinen in Zeiten, wo es nichts geeignetes von Ratiopharm & Co gab. Aber warum um alles in der Welt hat sich dieser Unfug bis in unsrige Tage halten können? Zumal es ja grundsätzlich erstmal nicht schlimm ist, wenn man niest, dem muss ja nicht gleich eine todbringende ansteckende Krankheit zugrunde liegen, vielleicht hat sich ja auch nur ein kleines Insekt verirrt, welches aber wohl nur in den seltensten Fällen Adressat des gerufenen sein wird. Warum also ruft man es nicht auch, wenn jemand hustet, den Arm in Gips trägt oder den Anschein einer Geistesstörung erweckt? Wir können nur froh darüber sein, denn gerade aufgrund des letztgenannten Beispieles wäre zu erwarten, dass vor lauter „Gesundheit!“-Rufen keine halbwegs flüssige Kommunikation mehr zustande käme. Man stelle sich auch einmal die mögliche Geräuschkulisse auf einem Krankenhausflur vor.

Unbestritten ist die Gesundheit elementarer Bestandteil des allgemeinen Lebensglücks. Dennoch hilft es nichts, sie ständig an- oder auszurufen. In diesem Sinne: Wohlsein!