Die Neunziger – Suchen und Finden

Hier Teil drei meiner Reise durch die Jahrzehnte. Nachdem wir auf die Siebziger– und Achtzigerjahre geschaut haben, betrachten wir nun die

Neunzigerjahre.

Das Jahrzehnt begann, politisch bemerkenswert, mit der Auflösung des Ostblocks, allen voran der mächtigen UdSSR, und der Wiedervereinigung Deutschlands. Aus der DDR wurden über Nacht die „fünf neuen Bundesländer“, auch „Beitrittsgebiet“ genannt, scherzhaft „Neufünfland“ oder böse „Dunkeldeutschland“. Nicht alle waren über die neue Freiheit glücklich, viele Betriebe und Fabriken wurden abgewickelt, wie man es nannte; zahlreiche Bürger des vormaligen Arbeiter- und Bauernstaates verloren ihre Arbeitsplätze, die von Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften mussten ihnen wie Hohn vorkommen.

Ich war zum ersten Mal Anfang 1990 jenseits der Zonengrenze, als es die DDR formal noch gab. Von Bielefeld fuhren wir mit dem Auto nach Wernigerode in den Harz, dort fuhr die schmalspurige, noch überwiegend mit Dampfloks betriebene Harzquerbahn der Deutschen Reichsbahn nach Nordhausen ab. Bislang kannten wir sie nur aus Berichten in Eisenbahnzeitschriften, nun konnten wir sie uns endlich anschauen und mitfahren, ohne schikanöse Grenzkontrollen befürchten zu müssen. Das war ganz was anderes als die Gütersloher Dampfkleinbahn, hier müssen die Loks schwer am Berg arbeiten, bis heute.

Ich als Wessi

In den Folgejahren besuchten wir weitere dampfbetriebene Schmalspurbahnen in Mecklenburg und Sachsen, die erstaunlicherweise alle bis heute überlebt haben. Wobei die Begeisterung für mein langjähriges Lieblingshobby langsam nachließ: Die HO-Modellbahn auf dem Dachboden war abgebaut, um größer und besser wieder aufgebaut zu werden. Auch die L.G.B.-Bahn im Garten wurde wegen Gartenarbeiten vorübergehend demontiert. Beide wurden indes nicht wieder aufgebaut, zum einen aus Zeitgründen, zum anderen aufgrund akuter Interessenverschiebung; später zog ich bei meinen Eltern aus, noch später aus Bielefeld weg nach Bonn, dazu kommen wir noch. Das Hobby Modelleisenbahn hatte sich bis auf weiteres erledigt. Nur der Dampfkleinbahn blieb ich noch an vielen Wochenenden treu.

Hinzu kam meine noch junge Selbsterkenntnis zwischenmenschliche Präferenzen betreffend. Erst im Jahr zuvor hatte ich mir nach längerer Verdrängung endlich eingestanden, dass ich mit Mädchen eine allenfalls freundschaftliche Beziehung aufbauen konnte, wohingegen mit Jungs so einiges denkbar und wünschenswert erschien. Diese Einsicht war zwar sehr befreiend, allerdings fehlten mir vorläufig Ideen für eine Konkretisierung. Eine große Hilfe war mir dabei mein alter Schulfreund C., der für sich dieselbe Erkenntnis schon einige Jahre zuvor gewonnen und sich gut darin eingerichtet hatte. Er hatte einen Freund, der des öfteren wechselte, und er kannte sich bestens aus in einschlägigen ostwestfälischen Treffpunkten.

Ein solcher war „Muttis Bierstube“ in der Bielefelder Innenstadt, eine von außen unauffällige Gaststätte am Kesselbrink. Dorthin nahm er mich an einem Samstagabend mit, wobei es mehrere Überredungsversuche brauchte, ehe ich dazu bereit war. Ganz geheuer war mir das ganze nicht: Man(n) konnte nicht einfach hineingehen wie in andere Kneipen, sondern wir standen vor einer Eisentür und mussten klingeln. Kurz darauf öffnete sich ein Kläppchen in der Tür, wir wurden begutachtet und augenscheinlich für eintretenswert befunden, die Pforte ward uns aufgetan.

Viel war noch nicht los, wir waren zu früh, vor Mitternacht brauchte man dort nicht hinzugehen, erklärte mir C. Die anwesenden Männer waren überwiegend älter, einige von ihnen bestätigten die gängigen schwulen Klischees: nasale Stimme, blond gesträhnte Föhnfrisuren, dünne Oberlippenbärte, auffällige Ohrringe, bizarre Brillenmodelle, Zigaretten mit abgeknickten Handgelenken haltend, ab und zu kreischte einer auf. So sollte ich auch werden? Ein unbehaglicher Gedanke. Immerhin waren sie bekleidet und blieben auf Distanz. (Gaststätten, in denen das anders war, lernte ich gut zehn Jahre später kennen, dazu kommen wir in den Zweitausendern.)

Auch beruflich änderte sich einiges für mich. Auf wohlmeinendes Drängen eines Vorgesetzten bewarb ich mich in die gehobene Beamtenlaufbahn, obwohl ich mich im mittleren Dienst wohl fühlte: Die Identifikation mit dem Unternehmen war nach wie vor hoch, die Arbeit machte Spaß, nur die Bezahlung hätte besser sein können. Wider Erwarten wurde ich angenommen, bereits zum 1. März 1990 wurde ich zum „Postinspektoranwärter“ ernannt, das bedeutete eine erneute, dreijährige Ausbildung mit Studienabschnitten in Köln und dem südhessischen Dieburg, immer wieder unterbrochen von Praxisblöcken in verschiedenen Dienststellen in Bielefeld.

Das Grundstudium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Köln dauerte sechs Monate, ich hasste es: Untergebracht waren wir in einem Wohnheim mit Doppelzimmern und zentralen Waschräumen und Toiletten je Stockwerk. Mit meinem Zimmergenossen H. kam ich gut klar, dennoch wünschte ich mir sehnlichst immer wieder eine Tür, die ich schließen konnte, um mal allein zu sein. Einige wenige ältere Kollegen hatten das Glück eines Einzelzimmers, ich beneidete sie sehr darum.

September 1990 auf einer von der FH organisierten Veranstaltung, daher die Krawatte. Und nach mehreren Kölsch, daher der Blick.

Dass unser Wohnheim in Köln in unmittelbarer Nähe zum schwulen Ausgehviertel am Rudolfplatz lag, wusste ich nicht. Viel hätte mir die Kenntnis mangels Einzelzimmer auch nicht genützt.

Etwas angenehmer waren die Bedingungen später in Dieburg, wo die Bundespost ihre eigene Fachhochschule betrieb. Es gab mehrere Wohnheime, dort waren wir in Einzelzimmern untergebracht, immerhin mit Waschbecken. Dafür gab es nicht die speziellen Ausgeh- und Kennenlernmöglichkeiten wie in Köln. Wenn man davon ausging, dass etwa fünf Prozent der Menschen das eigene Geschlecht bevorzugen, musste es auch hier unter den Studenten einige geben, aber wie sollte ich das herausfinden? Die Möglichkeiten des Internets und heute allgegenwärtiger Datengeräte mit Apps zur Kontaktsuche hatte ich noch nicht. Immerhin kam ich im dritten und letzten Studienabschnitt während einer Geburtstagsfeier meinem Kurskameraden A. näher. Doch hielt das nicht lange, die Folge war lang anhaltender Herzschmerz meinerseits bis zum Ende des Studienabschnitts und ein wenig darüber hinaus.

Studieren mit Selbstauslöser

Das war überhaupt mein Hauptproblem: Wenn ich einen kennen lernte, war ich sofort hin und weg und sah uns dauerhaft in Liebe verbunden. Doch die schwule Welt drehte sich anders – viele suchten das kurze Vergnügen, danach konnte man froh sein, wenn sie noch grüßten, wenn man sich das nächste Mal zufällig sah. Das zu begreifen war ein längerer, oft schmerzhafter Weg.

Kurz nach bestandener Laufbahnprüfung für den gehobenen Dienst zog ich bei meinen Eltern aus in eine Einliegerwohnung im Bielefelder Ortsteil Quelle, auf der anderen Seite des Teutoburger Waldes. Die Vermieter, ein älteres Ehepaar, das unter mir wohnte, waren freundlich, die Miete sehr günstig. Die neue Freiheit war großartig – endlich konnte ich am Wochenende spätabends noch raus, ohne „Was, jetzt noch?“ gefragt zu werden: in Muttis Bierstube, ins EXIT, ins Magnus, ins Heat, zu den Partys im Jugendzentrum Kamp oder in Paderborn. Über Nacht wegbleiben, wenn es sich spontan ergab. Besucher empfangen, ohne hinterher erklären zu müssen, wer das war; manche kamen einmal, andere öfter. Oder einfach alleine sein. Nur den mütterlichen Wäscheservice nahm ich noch gerne in Anspruch, jeden Montagabend fuhr ich zum Wäschetausch nach Stieghorst.

Mein Wohnzimmer mit zeitgenössischer Einrichtung

Erstmals hatte ich Befassung mit Computern, zunächst bei der Arbeit, später auch zu Hause mit einem Rechner, den ich gebraucht von einem Kollegen gekauft hatte und der ständig abstürzte. Die Geräte waren noch nicht vernetzt, die Bildschirme, zunächst nur schwarz-weiß, riesige Klötze, bevorzugte Software war Microsoft Works, womit immerhin Textverarbeitung und Tabellenkalkulation möglich waren.

Da die regelmäßigen Besuche der örtlichen Lokalitäten nicht zum gewünschten Ergebnis führten, meistens fuhr ich nachts enttäuscht allein nach Hause, gab ich Kontaktanzeigen mit Chiffrenummer auf. Es kam zu mehreren Treffen, einmal fuhr ich gar zu einer Verabredung nach Osnabrück. Der Richtige war indes nicht dabei, allenfalls entstand nur einseitige Zuneigung, zumeist vom Gegenüber. Vielleicht war ich zu wählerisch.

Dabei war ich – bei aller Bescheidenheit – eigentlich ganz hübsch

Doch blieb das Liebesglück auch mir nicht dauerhaft versagt: 1994 lernte ich, wiederum auf einer Geburtstagsfeier, F. kennen, mit dem ich immerhin eineinhalb Jahre zusammen blieb. Er war diesbezüglich wesentlich weiter als ich, wollte gerne mit mir zusammenziehen, am liebsten hätte er mich geheiratet und Kinder adoptiert, wenn das schon möglich gewesen wäre. Ich dagegen war sehr darauf bedacht, dass weder Eltern noch Kollegen von meiner Vorliebe für Jungs erfuhren, zumal ich inzwischen Vorgesetztenfunktion hatte und um meine Autorität fürchtete. Daran ist es letztlich mit uns gescheitert.

Zusammen mit ihm war ich das erste Mal auf Gran Canaria gewesen, einem in Homokreisen beliebten Urlaubsziel. Auch dort wurden unsere unterschiedlichen Sichtweisen des Zusammenlebens deutlich. Während ich noch an die Monogamie als allein zulässige Variante glaubte, wollte er gerne mal einen Dritten mit in den Bungalow nehmen, nicht zum Kartenspielen, was ich empört ablehnte. Ein anderes Mal überredete er mich, abends im Yumbo Centrum zusammen einen Darkroom aufzusuchen. Bereits in der ersten Minute geriet ich in Panik, obwohl nichts Unanständiges passiert war, und ich zerrte ihn schnell wieder raus.

Im Herbst nach unserer Trennung war ich das zweite Mal auf der Insel, jetzt alleine. Dort fand ich bald Anschluss und erkannte auch an Unanständigkeiten die erfreuliche Seite, auch zu dritt und nicht nur im Dunklen.

Auch auf Gran Canaria, etwas später

Erst drei Jahre später, nachdem ich am Himmelfahrtstag auf einer Gruppenwanderung dem Liebsten, dem Mann fürs Leben, begegnet war, begann ich langsam, mich zu öffnen, zunächst gegenüber den Eltern, später auch Kollegen. Ablehnung oder Nachteile erfuhr ich dadurch nie. Nur mein Vater hatte Probleme damit, von mir keine Enkel erwarten zu können. Man kann es nicht allen recht machen.

Auch den Begriff der Monogamie definierten wir einvernehmlich neu, mit nicht allzu strenger Auslegung. Vielleicht erzähle ich darüber in den Zweitausendern ein wenig.

In beruflicher Hinsicht ergaben sich weitere Änderungen. Die Post wurde privatisiert und umstrukturiert, aus der Bundesbehörde sollte eine gewinnbringende Aktiengesellschaft werden. Dadurch stieg der Arbeitsdruck erheblich, erstmals haderte ich nach einer Versetzung in eine andere Dienststelle mit dem Job. Meine persönliche Arbeitsfreude und Motivation sank, weil ich das Gefühl hatte, meine Arbeit nicht mehr in der Qualität zu schaffen, die ich von mir selbst erwartete. Ich fühlte mich zerrieben zwischen den Budgetvorgaben von oben und dem Gegendruck von unten. Auch die nächste Beförderung lag in weiter Ferne. Etwas musste sich grundsätzlich ändern, wobei ein kompletter Wechsel des Arbeitgebers nicht in Frage kam.

Bei der Arbeit

Der Zufall kam mir zur Hilfe: Nach einer regionalen Veranstaltung in Dortmund kam ich mit einem Abteilungsleiter der Zentrale in Bonn ins Gespräch, dem ich mein grundsätzliches Interesse an einem Wechsel vortrug. Er notierte sich meinen Namen, einige Wochen später erhielt ich einen Anruf aus Bonn, ob ich noch interessiert wäre, in einer anderen Abteilung suchten sie jemanden mit Betriebserfahrung. Das musste ich mit dem Liebsten besprechen, immerhin hätte das einen Umzug bedeutet, wenn es klappte. Wir kamen schnell überein, es anzunehmen. Der Liebste studierte noch ein halbes Jahr, nach seinem Abschluss würde er dann ebenfalls nach Bonn kommen.

Ich bekam den Job, zunächst zur Probe, daher behielt ich erstmal meine Wohnung in Bielefeld-Quelle. In Bonn wohnte ich in einem Appartementhotel im wenig pittoresken Stadtteil Tannenbusch, was schöner klingt als es war: Wenn ich morgens die Vorhänge aufschob, blickte ich statt auf Nadelhölzer auf Hochhäuser und viel Beton. Abends nach Feierabend war ich froh, wenn ich den Fußweg von der Stadtbahn ins Hotel unbehelligt überstanden hatte, danach ging man besser nicht nochmal vor die Tür.

Wir führten eine Wochenendbeziehung. Freitagnachmittag fuhr ich mit der Bahn nach Bielefeld, sonntagabends zurück. Bereits am frühen Nachmittag wurde ich unruhig, schaute immer wieder auf die Uhr, wie viele gemeinsame Stunden wir noch hatten, ehe ich wieder zum Bahnhof musste. Ich weiß nicht, wie andere Paare das schaffen, oft über viele Jahre und viel größere Distanzen als die zweihundert Kilometer zwischen Bielefeld und Bonn. Für mich war und ist das auf Dauer nichts.

Die Arbeit in der Zentrale war grundlegend anders als ich es von der Niederlassung gewohnt war. Das Gute war, ich hatte keine Personalverantwortung mehr. Dafür musste ich lernen, dass vieles mit anderen Abteilungen und Bereichen abzustimmen war, wobei stets auch auf persönliche Befindlichkeiten einiger Bereichsleiter zu achten war. Auch an meinen neuen Chef musste ich mich erst gewöhnen, der es für richtig befand, neuen Mitarbeitern erstmal „die Uhr zu stellen“. Dabei wurde er nie laut, er verstand es perfekt, auch leise jemanden zur Schnecke zu machen.

Meine erste Weihnachtsfeier der Zentrale. Von einem Rheinländer kaum noch zu unterscheiden

Doch hatte ich mich anscheinend bewährt, zum April des Folgejahres 1999 wurde ich offiziell von der Niederlassung Herford zur Zentrale versetzt. Ich musste mich nun um eine Wohnung in Bonn bemühen. Die fand ich nach längerer Suche und mehreren Besichtigungen in der Bonner Südstadt, im Dachgeschoss eines Gründerzeithauses. Das Haus war bei näherer Betrachtung eine Bruchbude, bedurfte dringend einer Renovierung. Dahinter verlief die Bahnstrecke nach Koblenz, bei der Durchfahrt von Güterzügen klirrten die Gläser im Schrank, vor allem nachts wurde meine Liebe zur Bahn auf die Probe gestellt. Vor dem Haus fuhr, nicht ganz so laut, die Straßenbahn. Die Wohnung hatte weder Schallschutz noch Balkon, die Miete betrug das dreifache meiner Bielefelder Wohnung. Dennoch verliebte ich mich spontan in die Dachkammer und fühlte mich dort sehr wohl, an den Bahnlärm gewöhnte ich mich bald.

Drei Monate nach meinem Umzug kam der Liebste nach. Das war eine erneute Umstellung, bis dahin hatte ich immer alleine gewohnt. Zudem war die Dachkammer für zwei Personen recht klein bemessen. Dennoch rauften wir uns mit unseren unterschiedlichen Gewohnheiten bald zusammen und begannen, nach einer größeren Wohnung mit Balkon zu suchen.

In technischer Hinsicht brach eine neue Zeit ein. Noch vor dem Umzug hatte ich mir das erste Mobiltelefon zugelegt, ein klobiges Ding von Alcatel mit ausziehbarer Antenne. Und in unserer Dachkammer hatten wir erstmals Internet, das über ein fiependes und rasselndes Modem aufgerufen und minutengenau abgerechnet wurde. Ich verbrachte Stunden damit, über spezielle Seiten spezielle Bilder herunterzuladen, die manchmal Minuten brauchten, um sich aufzubauen. An das Herunterladen von Musik oder gar Filmen war noch nicht zu denken, das Wort „streaming“ noch unbekannt.

Wie in den Achtzigern geschildert, hatte mir der Schulsport jede Freude an sportlicher Betätigung genommen. Nach langjähriger Abstinenz begann ich in den Neunzigern mit Laufen. Zunächst, noch in Bielefeld, mit meinem Kollegen O., in den ich, obwohl Hetero, aber ein sehr zutraulicher, eine Zeit lang ziemlich verschossen war. In Bonn behielt ich es bei, zunächst mehrere Runden um die Poppelsdorfer Allee, später am Rhein.

Auch das schwule Leben in Bonn und Köln erkundeten wir. In Bonn gab es drei Kneipen, von Art und Publikum her Muttis Bierstube in Bielefeld ähnlich, eine sogar mit Dunkelraum. Und es gab das Schwulen- und Lesbenzentrum am Frankenbad, wo man sich montagabends traf, ungefähr einmal im Monat war am Samstag eine Party. Dort lernten wir bald einige Leute kennen.

An Wochenenden fuhren wir oft mit der Bahn nach Köln, wo wir vor allem die zahlreichen Lokale in der Umgebung des Rudolfplatzes aufsuchten, nicht weit vom Wohnheim, wo ich neun Jahre zuvor im Doppelzimmer gehaust hatte. Manche Lokale besuchte man nicht nur zum Quatschen und Biertrinken, dazu mehr bei Betrachtung der Zweitausender.

Ich trat in Köln einem Verein schwul-lesbischer Bahnfreunde bei, auch das gibt es. Einmal monatlich traf man sich zum Stammtisch, an Wochenenden gab es ab und zu Bahntouren, bei denen eine Einkehr zu Kaffee und Kuchen ein wesentlicher Programmpunkt war. Der Eisenbahnfreund ist speziell, das wusste ich aus langjähriger (Selbst-)Erfahrung, der schwule Mann auch, wie ich im Laufe der Zeit erkannte. Die Kombination von beidem ist sehr speziell.

Werfen wir einen Blick auf Dinge, die sich in den Neunzigern außerhalb meiner kleinen Welt ereigneten.

In musikalischer Hinsicht mochte ich Oasis, überhaupt Britpop; das zweite Album der Traveling Wilburys, das „Vol. 3“ hieß, bereits ohne Roy Orbison, da zuvor gestorben; M People, Prince, Fatboy Slim, das Album „The Division Bell“ von Pink Floyd, INXS, Primal Scream, Electronic, Moby, The Verve; zu erwähnen sind weiterhin Fool’s Garden und Army Of Lovers. Zu meinem Bedauern starb die Single zu Beginn des Jahrzehnts aus, daher musste ich die wesentlich teureren Single-CDs kaufen; ganze Alben kaufte ich nur selten. Freddy Mercury starb an AIDS.

Helmut Kohl wurde nach sechzehn Jahren als Bundeskanzler abgewählt, für ihn übernahm der SPD-Mann Gerhard Schröder zusammen mit den Grünen.

Wladimir Putin wurde erstmals Ministerpräsident von Russland.

Die Amerikaner marschierten zum ersten Golfkrieg in Irak ein, Jugoslawien hörte nach den Balkankriegen auf zu existieren.

Den Jahreswechsel von 1999 nach 2000 erlebten der Liebste und ich mit Blick aus dem Dachfenster auf die Lichter der Stadt, die vielleicht gleich erlöschen würden. Das hatten IT-Experten als sogenannten Y2K-Effekt für möglich gehalten, weil viele IT-Systeme auf nur zweistellige Jahreszahlen programmiert waren und deshalb womöglich den Jahreswechsel auf 2000 nicht verarbeiten konnten. Die Lichter blieben an, die Zweitausender hatten begonnen. Dazu demnächst mehr.

Woche 29/2022: Ächz!

Montag: Es gab schon montäglichere Montage. Ab Mittag wurde es ziemlich warm, morgen wird es heiß.

Abends auf dem Weg zum Supermarkt gingen zwei Herren vor mir her, die ihr Polohemd als Angehörige eines regionalen Sicherheitsdienstes auswies. Der eine hatte die Haare an den Seiten kurz geschoren, dazu trug er einen langen Zopf. Der andere, augenscheinlich etwas älter, war von hagerer Gestalt, mit einem großen Ohrring und großflächig tätowiertem Unterarm. Im Dunklen möchte man denen mit Sicherheit nicht begegnen.

Laut Zeitung hat heute Namenstag, wer Answer heißt. Noch Fragen?

Dienstag: Warmsinn. Angeblich der heißeste Tag des Jahres, ist zu lesen. Mit Blick auf den Kalender hätte ich keine Hemmungen, dagegen zu wetten. Eine Wetterwette. (Verzeihung.)

Ansonsten war der Werktag dank heruntergelassener Jalousien und Ventilator durchaus erträglich, wobei die Mittagsrunde durch den Park nicht allzu lang ausfiel. Notiz an mich: Demnächst für die Rückfahrt mit dem Rad eine kurze Sporthose einpacken. Wobei mittlerweile niemand mehr Anstoß daran nimmt, wenn an heißen Tagen auch männliche Kollegen mit kurzer Hose ins Werk kommen, sogar im Mutterhaus, wo man vor einigen Jahren noch schief angekuckt wurde, wenn man ohne Krawatte erschien. So ändert sich manches auch zum Guten, auch wenn ich selbst noch nicht so weit bin, beruflich Bein zu zeigen.

„Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer?“ sang Rudi Carell in den Siebzigern. Vermutlich kommt das auch bald auf irgendeinen Index.

Mittwoch: In einem Artikel über den heißen Sommer 2003 schreibt die Zeitung „die Gletscher ächzten“. Dazu stelle ich mir ein Donald-Duck-Comic vor, wo ein Gletscher zu sehen ist, an den die legendäre Erika Fuchs eine Sprechblase „Ächz!“ geschrieben hat.

Ächzanlass haben auch die Wasservögel im Rheinauenpark, weil ihr See noch immer einer Sandwüste gleicht.

Blick auf das Mutterhaus

Da es auch heute warm werden sollte, packte ich morgens die gestern vermisste Sporthose ein und zog sie vor der Rückfahrt an. Merke: Trägt man als Mann eine Sporthose ohne Innenhose und darunter Boxershorts, muss man beim Radfahren ein wenig acht geben, dass nichts heraus hängt.

Einen anderen Weg der Abkühlung wählte abends der Geliebte, indem er „All I Want For Christmas“ von Mariah Carey spielte und im Rahmen seiner Möglichkeiten mitsang.

Donnerstag: Den donnerstäglichen Fußmarsch ins Werk brach ich ab wegen Regens und stieg nach etwa einem Kilometer in die erstaunlich leere Stadtbahn. Nach dem Aussteigen an der Zielhaltestelle überholten mich erst ein junger Mann in Daunenjacke, dafür knöchelfrei, dann eine Frau ohne Jacke, die sich als Regenschutz eine zusammengefaltete FFP2-Maske auf die Kopfoberseite hielt.

Vormittags brachte eine Brandschutzübung Abwechslung in den Arbeitstag, immerhin bei Sonnenschein und allgemein guter Stimmung. Man weiß nicht, was im Ernstfall schlimmer wäre: die Rauchentwicklung oder der ohrenschmerzende Alarmton in den Fluren.

Zurück ging ich zu Fuß, den leichten Niesel ignorierend. Auf halber Strecke begegnete mir einer sprechend, ohne erkennbare Kopfhörer oder sonstige Telekommunikationsmittel. Entweder hielt er ein ausführliches Selbstgespräch, oder irgendeine technische Innovation habe ich mal wieder versäumt.

Auf dem Rückweg. Heller wurde es nicht mehr.

In einer internen Mitteilung ist von „weiblichen Mitarbeitenden“ zu lesen. Gender-Gaga.

Gelesen:

Biologisch gibt es zwei Geschlechter, wobei das soziale Geschlecht, also das Gender, natürlich facettenreicher sein kann. Aber was weiß ich schon? Auf die uralte Frage „Ist es ein Mädchen oder ein Junge?“ werden die Ärzte im Kreißsaal bald antworten: „Keine Ahnung, das müssen Sie es schon selbst fragen.“

Jochen-Martin Gutsch im SPIEGEL

Freitag: In der Kantine gab es Fisch, wie jeden Freitag. Auch so etwas, das ich bislang nicht hinterfragte und was deswegen unbeantwortet blieb. Das ist nicht schlimm, Hauptsache es schmeckt, wie Oma immer sagte.

Samstag: Da ich im vergangenen Jahr an entscheidender Stelle nicht Nein gesagt habe, erforderten ehrenamtliche Verpflichtungen, mit deren Inhalt ich Sie nicht unnötig langweilen möchte, eine erneute Reise nach Ostwestfalen, dieses Mal mit dem Auto. Wie auf der Hinfahrt im Radio zu hören war, fand im nordostwesfälischen Hille ein Kaninchenhochsprungwettbewerb statt, unter strenger veterinärischer Aufsicht zur Wahrung des Tierwohles. Andere Menschen haben auch komische Hobbys.

Von den Lieben hatte ich den Auftrag erhalten, mehrere Kästen einer speziellen Limonade mitzubringen, die nur in Ostwestfalen erhältlich ist. Leider war sie bis auf einen Kasten ausverkauft und sie wird aus dem Programm genommen. Dafür gab es im Getränkemarkt noch Restbestände an Herforder Maibock, der unmöglich ungekauft bleiben konnte, auch wenn schon bald der August naht.

Sonntag: Ein weiterer warmer Tag. Auf Frühstück und Durchsicht der Sonntagszeitung folgte der übliche Spaziergang mit kurzer Einkehr.

Verstehe ich nicht
Alkoporn
Die Bonner Südstadt ist bekannt für ihre Gründerzeit-Bebauung und schattigen Alleen.

***

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche ohne Grund zum Ächzen.

Woche 28/2022: Zwischen den Wellen

Montag: Manchmal muss man aus Routinen ausbrechen. Entgegen der Gewohnheit ging ich bereits heute zu Fuß ins Werk, in der Hoffnung, ein längerer Gang durch die Morgenfrische würde des Montags Müdigkeit mildern. Was den gewünschten Effekt betrifft: ging so.

Vergangene Woche beschrieb ich im Zusammenhang mit einem Friseurbesuch mein Unbehagen, das allzu Offensichtliche auszusprechen. Heute erschien beim Öffnen eines neuen Internet-Tabs das vermutlich von Microsoft so eingerichtete Bild eines Eisberges, dazu dieser Hinweis:

Manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.

Auf dem Rückweg ging ich hinter dem Mutterhaus an einem vorbei, der Tenorhorn übte, weithin gut hörbar, beziehungsweise nicht gut; er mühte sich immer wieder mit einer kurzen Tonfolge ab, die nicht recht gelingen wollte, auch nicht bei der werweißwievielten Wiederholung. Ob es Teil eines Liedes war oder eine Etüde, war nicht zu erkennen. Ebenfalls nicht, warum er ausgerechnet dort übte statt im Schallschutz des heimischen Kellers. Vielleicht haben die Nachbarn auf Unterlassung geklagt oder der Vermieter mit Beendigung des Mietverhältnisses gedroht, wundern würde es nicht. Er muss noch viel üben. Oder besser Briefmarken sammeln.

Das Wetter zeigte sich tagsüber trübe, erst am Abend heiterte es auf und bildete auf diese Weise meine persönliche Stimmung ziemlich genau ab.

Dienstag: Gegen 14 Uhr ist die Arbeitsunlust am größten. Dann rief auch noch ein ehemaliger Kollege an und schwärmte vom Ruhestand. Als er fragte, wie lange ich noch zu arbeiten habe, kamen mir die Tränen und die Lippen begannen zu zittern.

In einem Artikel der PSYCHOLOGIE HEUTE über Alter und Eintritt ins Rentenalter las ich von „Firmenpatriarchen und -patriarchinnen.“ Patriarchinnen? Ein weiteres Mosaiksteinchen im Bild einer Welt, die immer weniger meine ist.

Oder dieses: Die Zeitung berichtet über einen vierzigjährigen Wanderer, der vom Rhein-Sieg-Kreis einen Bußgeldbescheid über mehr als zehntausend Euro erhalten hat. Grund: Bei seinen Wanderungen verstieß er immer wieder gegen Naturschutzbestimmungen, indem er gesperrte Wege benutzte, in Schutzhütten übernachtete, im Wald Feuer entfachte und mutwillig einen Feuersalamander und eine Spinne beunruhigte. Über all das berichtete er umfassend auf Youtube, was der behördlichen Beweisführung sehr entgegenkam. Bei Reue hätte man ihm einen Nachlass gewährt, indes: „Ich bin es leid, mich zu verbiegen und die geforderte Einsicht und Reue zu zeigen“, so der vom rechten Wege Abgekommene. Weiter: „Es kann aber auch nicht sein, dass man erst Verordnungen lesen muss, bevor man einen Wald betritt.“ Ich finde es einmal mehr unerträglich, wie Medien Menschen, die sich nicht an Regeln halten wollen und deswegen zur Rechenschaft gezogen werden, Gelegenheit geben, sich als Opfer darzustellen.

Mittwoch: Wie der heutigen Wikipedia-Startseite zu entnehmen ist, starb vergangenen Sonntag im Alter von 69 Jahren ein „kanadischer Rockeranführer und Verbrecher“. Bemerkenswert, mit welchem Lebenswandel man es auf die Wikipedia-Startseite schafft. Doch wer weiß, vielleicht steht dort dereinst, wenn für mich die Zeit gekommen ist: „Carsten K., erfolgloser und weitgehend unbeachteter Kleinblogger“.

»Ich könnte heulen vor Wut!«, so endet ein Kommentar in der Berliner Zeitung. Dabei ging es nicht um den russischen Angriff auf die Ukraine oder die beharrliche Weigerung der FDP, Vernunft anzunehmen, vielmehr wurde die Schließung zweier Postfilialen beklagt. Heul doch, möchte man da antworten.

Donnerstag: Zu Fuß ins Werk, wie jeden Donnerstag.

Morgendliche Rheinruhe
Wenn es doch so einfach wäre
Das Geheimnis meiner Schönheit
Um Gottes Willen

In der Zeitung ein weiterer Artikel über den Dienstag genannten Falschwanderer, dieses Mal etwas kritischer, vielleicht haben sie es selbst gemerkt. In diesem Zusammenhang ist das Wort „Outdoorer“ zu lesen, was vermutlich soviel wie Freiluftinfluencer bedeutet. Die Verwendung solcher Wörter sollte auch bußgeldbewehrt sein.

Ich habe mir übrigens einen lang gehegten Wunsch erfüllt, beziehungsweise seine Erfüllung in die Wege geleitet: Ende September werde ich eine viertägige Alleinzeit am Niedersonthofener See im Allgäu verbringen, wo unsere Familie bis in die Achtziger häufig Urlaub machte. Darauf freue ich mich sehr und bin gespannt, was sich dort seitdem verändert hat, und was nicht. In letztere Kategorie fällt hoffentlich der allgegenwärtige leichte Kuhdungduft, ohne den das Allgäu für mich undenkbar wäre.

Freitag: Dieses Layla-Lied, über das sich gerade empört wird, kenne ich nicht, und das zu ändern liegt nicht in meiner Absicht. Es interessiert mich einfach nicht. Im Übrigen verstehe ich die Aufregung nicht. Der Anteil der Liedtexte, die in fragwürdiger Weise körperliche Reize preisen, dürfte erheblich sein, ohne dass daran nennenswert Anstoß genommen wurde und wird.

Gelesen in der PSYCHOLOGIE HEUTE über Hochbegabte: »Das Erdulden von Geschwätz erzeugt bei ihnen immense innere Spannung.« Bin ich hochbegabt? Aber in was nur?

Samstag: Aus Gründen familiärer und freundschaftlicher Kontaktpflege reiste ich nach Bielefeld, man muss diese Zeit zwischen den Wellen nutzen. Bei der Gelegenheit komme ich nicht umhin, den Schienenpersonennahverkehr zu loben: Die Bahnen waren pünktlich und nicht überfüllt.

„Alles wird schlechter“, hörte ich hinter mir jemanden ins Telefon sprechen, der am Düsseldorfer Flughafen zugestiegen war und seine Gesprächspartnerin davon in Kenntnis setzte, dass sein Gepäck nicht mitgeflogen war und sich noch in München befand.

Das sah der Vater einer dreiköpfigen Familie vermutlich anders: Immer wieder zeigte er sich begeistert von dem modernen Zug, der Anzeige der Anschlüsse vor dem nächsten Halt auf dem Monitor und der (funktionieren) Klimaanlage. Vielleicht war er zum letzten Mal Zug gefahren, als die Bahn den Nahverkehr noch mit Silberlingen abwickelte.

Flickwerk in Duisburg

In Essen ist an einem Gebäude der Stadtwerke der Schriftzug »Wohlfühlwärme von STEAG« zu lesen. Hoffentlich noch recht lange, möchte man eingedenk der aktuellen Entwicklung hinzufügen.

Kurz vor Rheda-Wiedenbrück mahnte der Triebfahrzeugführer per Lautsprecherdurchsage einen Fahrgast, der offenbar Freude daran hatte, immer wieder den Knopf für die Anforderung einer Rollstuhlrampe zu betätigen: „Dieser Zug ist ein Beförderungsmittel und kein Abenteuerspielplatz.“ Ein Satz aus Kindertagen: Oft, wenn wir uns irgendwo aufhielten, wo es einem Erwachsenen nicht genehm war, auf einer Baustelle oder so, wurde uns beschieden „Hier ist kein Spielplatz.“ Lange nicht gehört.

Vor Gütersloh sagte mein Sitznachbar ins Telefon: „Die Aufgabenstruktur soll ziemlich geil sein.“ Ein ebenso bemerkens- wie notierenswerter Satz.

Sonntag: Am Vormittag besuchte ich kurz die Dampfkleinbahn, die nach zweijähriger Zwangspause wieder fährt.

Lok 7 „Gustav“, Baujahr 1949, baustellenbedingt (auch bei der Kleinbahn wird gebaut) auf der sonst planmäßig nicht mehr befahrenen Oststrecke zwischen Mühlenstroth-Postdamm und Mühlenstroth-Forst

Danach trat ich ab Gütersloh die Heimreise nach Bonn an mit einer Bahn, die wesentlich stärker ausgelastet war als die Dampfkleinbahn. „Es zwingt Sie niemand, sich für neun Euro in überfüllte Züge zu quetschen“, sagte ein offenbar genervter Triebfahrzeugführer per Lautsprecher, nachdem er Fahrgäste aus der ersten Klasse verscheucht hatte. Er schien noch nicht völlig überzeugt von dem aktuellen Angebot der Bundesregierung.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche, möglichst in Wohlfühlwärme statt allzu großer Hitze.

Woche 27/2022: Umdiedreißigjährige

Montag: „Ich bin gerade etwas lost.“ – „Sorry, ich musste mich erst unmuten (gesprochen: anmjuten).“ – Was Leute in Besprechungen so reden, wenn sie geschäftig wirken wollen. Ansonsten verlief der Wochenbeginn ruhig ohne unmutauslösende Momente.

»Keiner der Koalitionspartner fand das Tempolimit so wichtig, dass es Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hätte. Wir haben uns auf andere Maßnahmen konzentriert.«

Verkehrsminister Wissing gegenüber dem SPIEGEL auf die Frage, warum sich die FDP gegen ein Tempolimit sperrt. In einer amerikanischen Ulksendung käme an dieser Stelle wohl Hintergrundgelächter.

Dienstag: Mittags beim Flanieren durch den Park sah ich eine Wildgans regungs- und fassungslos auf den wasserlosen, noch immer in Sanierung befindlichen See blicken, wo mittlerweile Sand verteilt wird. Nur Geduld, rief ich ihr zu, bis Ende August soll es fertig sein, stand in der Zeitung. Sie nickte kurz, ohne den Blick von der Sandwüste abzuwenden.

Wasser- und fassungslos

Mittwoch: Jeder Tag ist anders, niemals ist einer wie der andere. Und doch verlaufen sie oft ähnlich: Aufstehen, Bad, Kaffee, Fahrt ins Werk, Bürokrams, Besprechung (heute erstmals nach Monaten sogar als Präsenztermin im Mutterhaus, insofern war der Tag besonders), Mittagspause mit Kantine (Cordon Bleu) und kurzem Spaziergang durch den Park, Pressespiegel, mehr Bürokrams, in letzter Zeit auch wieder Schwätzchen mit Kollegen, Feierabend, Fahrt nach Hause; Brötchen für das Abendessen mit den Lieben besorgen, Zeitung und Blogs lesen, heute oder Tagesschau kucken, Essen, zeitig ins Bett, Lesen, Schlafen. Und keine Idee, was ich ins Blog schreiben soll. So ein Tag war heute. Das ist nicht schlimm.

Donnerstag: Es gibt sie noch, die guten Jobs. Dabei meine ich nicht meinen, wobei, doch, der ist auch ganz gut. Aber nicht so gut wie dieser: Als ich morgens zu Fuß ins Werk ging, fuhr ein Fahrzeug der Bundes-Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung vorbei und blieb etwa hundert Meter vor mir am Rheinufer stehen. Ihm entstiegen zwei Herren, die mit elektrischem Grasmäher und Laubbläser die weißen Schilder von Bewuchs befreiten und reinigten, die alle hundert Meter die Rheinkilo- beziehungsweise Hektometrierung (heißt das so?) markieren. Der Fahrer blieb derweil sitzen, bis seine Kollegen fertig waren mit Mähen und Blasen, um sie zum nächsten Schild zu chauffieren.

Ich dagegen werde (zugegeben nicht schlecht) dafür bezahlt, mir Sätze wie diesen anzuhören: „Der Ball liegt im Feld von …, der muss da jetzt ein Preisschild dranmachen.“

Auf dem Rückweg – dunkle Wolken über Bonn-Beuel

Gelesen in einem SPIEGEL-Artikel über Monogamie im Tierreich: »Und bei den Fischen unterhalten Tigerhaie und Seepferdchen oft dauerhafte Zweierbeziehungen.« Die Kinder möchte ich sehen: Tigerpferdchen? Also Zebras? Im selben Artikel werden Reptilien aufgrund ihrer Promiskuität als „wechselfreudig“ bezeichnet. Ein wahrer Schatz im Silbensee.

Freitag: Die Welt ächzt vor Überbevölkerung. Bald acht Milliarden Menschen tummeln und drängeln sich darauf, täglich werden es mehr. Andererseits klagen viele Branchen über Personalmangel. Wie kann das sein? Wo sind die alle?

Abends war ich im Friseursalon meines Vertrauens, jetzt in neuen Räumlichkeiten mit einem für mich neuen Friseur, weil meine Stammfriseurin Urlaub hat. Ein wenig Unbehagen kommt jedes Mal wieder auf bei der Frage „Was kann ich für Sie tun?“ – Was soll man da sagen, das nicht allzu offensichtlich klingt wie „Etwas kürzer“? Natürlich kürzer, länger geht ja wohl kaum. Oder mehr, vor allem hinten-oben, wo es immer lichter wird. Etwas übergriffig fand ich die Frage nach meiner beruflichen Tätigkeit, die ich mit einem knappen „Bürojob in einem großen Unternehmen“ beantwortete. Die Gegenfrage „Und Sie?“ verkniff ich mir. Mit dem Ergebnis war ich indes zufrieden.

Samstag: Bereits gegen halb neun morgens hob nebenan das laute Rauschen eines Gasbrenners an, Sie kennen diese Flammenwerfer, die von Dachdeckern benutzt werden, um Teerpappe gefügig zu machen. Was hier geflammt wurde, war nicht zu erkennen, vermutlich beseitigte jemand Unkraut, die Leute kommen oft auf die absurdesten Ideen, wenn es der Bequemlichkeit dient. Anscheinend ist das Gas noch immer zu billig, woran sich zunächst auch nicht viel ändern wird, wenn Herr Putin den Hahn zudrehen lässt, da hierfür kein Erdgas verwendet wird.

Meine Empörung hielt sich dennoch in Grenzen, da ich schon aufgestanden war, um später mit der Bahn nach Dortmund zu fahren, wo ich mit C., meinem ältesten Schulfreund, verabredet war. Also natürlich nicht der älteste an Jahren, sondern den ich am längsten kenne, Sie verstehen schon. Auch nach über fünfzig Jahren ist der Kontakt trotz der räumlichen Entfernung nicht abgerissen, wir telefonieren zu den Geburtstagen, und ab und zu – viel zu selten – treffen wir uns auf halber Strecke zwischen Bonn und Bünde in Dortmund.

Die An- und Abreise im Nahverkehr bot einmal mehr die Möglichkeit, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Mir war es egal, ich hatte einen Sitzplatz am Fenster. Auf dem Hinweg saßen hinter mir welche auf dem Weg zu einem Festival, wenn ich es richtig verstanden habe. Sie unterhielten sich im üblichen Jargon der Umdiedreißigjährigen, mit „genau“ und „tatsächlich“ sowie englischen Einsprengseln in jedem zweiten Satz. In Düsseldorf stieg eine lärmende Hobby-Fußballmannschaft hinzu, die von den Umdiedreißigjährigen eine Flasche Rosé gereicht bekam, die einmal den Gang runter und wieder rauf gereicht wurde, natürlich ohne Gläser. Mich grauste. Erfreulicherweise stiegen sie bereits in Mülheim an der Ruhr wieder aus, was zu folgendem, durchaus witzigen Dialog mit den Umdiedreißigjährigen führte: „Was wollt ihr denn in Mülheim?“ – „Da haben wir unsere Ruhr.“

Diese wunderschöne V 60 stand im Dortmunder Hauptbahnhof herum und verlangte nach Fotografiertwerden

Seuchenbedingt lag das letzte Treffen mit Freud C. drei Jahre zurück, daher gab es viel zu erzählen, und da Erzählen durstig macht, gab es Weißwein dazu. Viel Weißwein, was die Koordination der Rückreise etwas abenteuerlich werden ließ. Aber der Umstieg in Köln gelang, ich kam wohlbehalten, wenn auch etwas später als ursprünglich geplant, zu Hause an.

Sonntag: Da der Weißwein von gestern nachwirkte, fiel der Spaziergang heute etwas länger aus.

Auch kam ich erst heute dazu, die Samstagsausgabe des General-Anzeigers fertig zu lesen. Wolfgang Pichler schrieb darin über Rap: „… dieses höchst gewöhnungsbedürftige Gebell auf den Billig-Musiksendern, wo Leute mit suboptimalem Klamotten- und Schmuckgeschmack so dreinblicken, als wollten sie entweder ein­ander oder den Zuschauer massakrieren, während sie nicht druckfähige Äußerungen über eigenes und fremdes Sexualverhalten von sich geben.“

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche.

Woche 26/2022: Keine nennenswerten Imponderabilien

Montag: Der erste Arbeitstag nach zwei Wochen Urlaub zog sich in müder Lustlosigkeit. Immerhin ruhig mit nur einem Besprechungstermin und einer erstaunlich geringen Anzahl an Mails, die keine nennenswerten Imponderabilien enthielten und bis zum Nachmittag weitgehend abgearbeitet oder gelöscht waren. Das ist ja immer wieder das Schöne, vieles erledigt sich von selbst.

Überschattet war der Tag von der traurigen Nachricht über den Unfalltod einer Kollegin, der mal wieder deutlich macht, wie wichtig es ist, das Leben täglich zu genießen, auch montags nach dem Urlaub. Warum erkennen wir das immer erst zu solchen Anlässen?

Der Oberste US-Gerichtshof hat bereits in der vergangenen Woche das Recht auf Abtreibungen eingeschränkt, das haben Sie sicher mitbekommen. Wie heute in der Zeitung zu lesen ist, will man sich als nächstes mit dem Gebrauch von Verhütungsmitteln, der Zulässigkeit intimer gleichgeschlechtlicher Beziehungen und der Homo-Ehe befassen. Sie meinen, das ist halt Amerika? Ja, noch ist es das. Mir wird bang. (Lesen Sie dazu gerne auch die Ausführungen von Herrn Fischer.)

Mit einer Art fieser Erheiterung lese in Blogs und Zeitung die Berichte über die derzeitigen Zustände an deutschen Flughäfen, Wartezeiten bei Sicherheitskontrollen, abhanden gekommenes Gepäck und ausgefallene Flüge, und denke: Warum tun die sich das an?

Nach Rückkehr aus dem Werk hörte ich erstmals nach längerem wieder die Singstarkrähe von gegenüber, die mit einem nicht identifizierbaren „Lied“ die Siedlung beschrie.

Unterdessen fand ich im Briefkasten einen persönlichen Brief aus Badgastein vor, über den ich mich sehr freue.

Dienstag: Energiesparen ist möglich. Man kann zum Beispiel mit insgesamt fünfunddreißig Sekunden Wasserlaufzeit duschen, einschließlich Vorlauf bis zum Erreichen der angenehmen Temperatur, wenn man beim Einseifen konsequent den Hahn abdreht; ich habe das mal für Sie ausprobiert. Nimm dies, Putin.

Abends war ich laufen, obwohl es dazu etwas zu warm war, aber irgendeine Ausrede findet sich ja immer. Nach Rückkehr wunderte ich mich über die polizeiliche Absperrung der Wilhelmstraße, in unmittelbarer Nähe zu unserer Wohnung. Da ahnte ich noch nicht, dass kurz zuvor ein menschlicher Kopf vor dem in nämlicher Straße befindlichen Landgericht abgelegt worden war; den mutmaßlichen Rest fand man etwas entfernt in Rheinnähe. Du liebe Güte.

Mittwoch: O du schöner Westerwald, Eukalyptusbonbon. Vielleicht kennen Sie dieses alte Volkslied, das in meiner Jugend gerne zum Bier gesungen wurde; je mehr Bier, desto lauter. Aus beruflichem Anlass hielt ich mich eineinhalb Tage in Hachenburg im Westerwald auf, wo unsere Abteilung sich traf. Nach nicht übertrieben langer Beschäftigung mit fachlichen Themen gingen wird zum Freizeitprogramm über, das aus einer Besichtigung der örtlichen Brauerei bestand, wo der Abend schließlich ausklang, ohne Eukalyptusbonbons.

Mehr Freiheit ist kaum denkbar

Bei Ankunft an der Brauerei war der Hof voll an schwarzen Autos, minütlich kamen weitere hinzu und warteten geduldig, um sich einen weißen, für ein alkoholfreies Produkt des Hauses werbenden Schriftzug schräg über die Motorhaube kleben zu lassen. Als Belohnung gab es zwei Kästen des nämlichen Getränkes. Was Menschen alles tun, wenn es was umsonst gibt.

Warten für Werbung für kalten Kaffee

Auch sonst war es ganz schön:

Biergarten

Donnerstag: Morgens nach dem Aufwachen hallte der Brauereibesuch noch etwas nach. Währenddessen verhöhnte mich mein Ohrwurm mit „Es geht mir gut“ von Marius Müller-Westernhagen.

Laut Zeitungsbericht empfiehlt ein Experte, Gas nicht per Gießkanne zu verteilen. Es ist immer schön, das augenscheinlich Offensichtliche von einem Fachmann bestätigt zu wissen. Wie viele Kannenfüllungen benötigte man allein für fünfunddreißig Sekunden Brausebad?

Freitag: Jede Krise gebiert ihre eigenen Begriffe, siehe „Herdenimmunität“, „Inzidenzwert“ oder „Kontaktpersonennachverfolgung“. Erstmals las ich heute in der Zeitung das Wort „Gasmangellage“ und ahne, das künftig öfter zu hören und lesen.

Nachmittags standen wir bei Getränken und Häppchen zusammen, um einen Kollegen in den Ruhestand zu verabschieden, und also sprachen wir: „Lass uns über was anderes als Corona reden.“ – „Einverstanden. Gaskrise? Atomkrieg?“ Gelacht haben wir dennoch.

Der am Dienstagabend gefundene Kopf wurde nach gerichtsmedizinischer Erkenntnis erst abgetrennt, nachdem der ursprüngliche Inhaber eines natürlichen Todes gestorben war. Der kurz nach dem Fund gefasste Ableger hat sich somit nicht des Mordes schuldig gemacht, sondern der „Störung der Totenruhe“, auch so ein Straftatbestand, über den Herr Buschmann vielleicht mal nachdenken sollte.

Samstag: Nach Erledigung der üblichen Samstagsgeschäftigkeiten hielt ich Einkehr in der Lieblings-Weinbar. Bei Rosé unterhielt ich mich als einziger Gast bestens mit dem Wirt, daher wurden aus dem beabsichtigten einen Glas drei. Man hat von dort aus ausgezeichnete Aussicht auf die draußen Vorübergehenden, weshalb ich dieses Lokal sehr mag, gerade am Samstagmittag. Während der Unterhaltung sah ich einen, der an der gegenüberliegenden Straßenbahnhaltestelle an einem „Durstlöscher“-Päckchen saugte und sich dabei ausgiebig selbst fotografierte oder filmte. Kein Zweifel, die Welt wir immer bekloppter. (Leergesaugte Durstlöscher-Packungen liegen inzwischen in nahezu gleicher Zahl in der Gegend herum wie Einweg-Kaffeebecher.)

Sonntag: Heute war in Köln CSD. Nach Jahren der Abwesenheit und Seuche war ich wieder dabei, nahm auch an der Parade teil, obwohl mittlerweile für derlei etwas zu alt. Doch erstmals war auch mein Arbeitgeber mit Wagen und bemerkenswert großer Gruppe vertreten, daher wollte ich mir das nicht entgehen lassen.

Auf der Deutzer Brücke, kurz nach Beginn
Eine Abwechslung gegenüber den üblicherweise zur Schau gestellten Muskelaufbauten

Danach war mein Bedarf an größeren Menschenansammlungen, wummernder Bassbeschallung von vorne und hinten sowie hormonell herausfordernden Anblicken am Wegesrand gedeckt, daher nahm ich die nächste Bahn zurück nach Bonn, die durch ihre Belegung einen Eindruck verschaffte von den Auswirkungen des gepriesenen Neuneurotickets.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche mit stets einem Hauch Gas in der Leitung. Genießen Sie gehobenen Hauptes das Leben.