Woche 27/2022: Umdiedreißigjährige

Montag: „Ich bin gerade etwas lost.“ – „Sorry, ich musste mich erst unmuten (gesprochen: anmjuten).“ – Was Leute in Besprechungen so reden, wenn sie geschäftig wirken wollen. Ansonsten verlief der Wochenbeginn ruhig ohne unmutauslösende Momente.

»Keiner der Koalitionspartner fand das Tempolimit so wichtig, dass es Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hätte. Wir haben uns auf andere Maßnahmen konzentriert.«

Verkehrsminister Wissing gegenüber dem SPIEGEL auf die Frage, warum sich die FDP gegen ein Tempolimit sperrt. In einer amerikanischen Ulksendung käme an dieser Stelle wohl Hintergrundgelächter.

Dienstag: Mittags beim Flanieren durch den Park sah ich eine Wildgans regungs- und fassungslos auf den wasserlosen, noch immer in Sanierung befindlichen See blicken, wo mittlerweile Sand verteilt wird. Nur Geduld, rief ich ihr zu, bis Ende August soll es fertig sein, stand in der Zeitung. Sie nickte kurz, ohne den Blick von der Sandwüste abzuwenden.

Wasser- und fassungslos

Mittwoch: Jeder Tag ist anders, niemals ist einer wie der andere. Und doch verlaufen sie oft ähnlich: Aufstehen, Bad, Kaffee, Fahrt ins Werk, Bürokrams, Besprechung (heute erstmals nach Monaten sogar als Präsenztermin im Mutterhaus, insofern war der Tag besonders), Mittagspause mit Kantine (Cordon Bleu) und kurzem Spaziergang durch den Park, Pressespiegel, mehr Bürokrams, in letzter Zeit auch wieder Schwätzchen mit Kollegen, Feierabend, Fahrt nach Hause; Brötchen für das Abendessen mit den Lieben besorgen, Zeitung und Blogs lesen, heute oder Tagesschau kucken, Essen, zeitig ins Bett, Lesen, Schlafen. Und keine Idee, was ich ins Blog schreiben soll. So ein Tag war heute. Das ist nicht schlimm.

Donnerstag: Es gibt sie noch, die guten Jobs. Dabei meine ich nicht meinen, wobei, doch, der ist auch ganz gut. Aber nicht so gut wie dieser: Als ich morgens zu Fuß ins Werk ging, fuhr ein Fahrzeug der Bundes-Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung vorbei und blieb etwa hundert Meter vor mir am Rheinufer stehen. Ihm entstiegen zwei Herren, die mit elektrischem Grasmäher und Laubbläser die weißen Schilder von Bewuchs befreiten und reinigten, die alle hundert Meter die Rheinkilo- beziehungsweise Hektometrierung (heißt das so?) markieren. Der Fahrer blieb derweil sitzen, bis seine Kollegen fertig waren mit Mähen und Blasen, um sie zum nächsten Schild zu chauffieren.

Ich dagegen werde (zugegeben nicht schlecht) dafür bezahlt, mir Sätze wie diesen anzuhören: „Der Ball liegt im Feld von …, der muss da jetzt ein Preisschild dranmachen.“

Auf dem Rückweg – dunkle Wolken über Bonn-Beuel

Gelesen in einem SPIEGEL-Artikel über Monogamie im Tierreich: »Und bei den Fischen unterhalten Tigerhaie und Seepferdchen oft dauerhafte Zweierbeziehungen.« Die Kinder möchte ich sehen: Tigerpferdchen? Also Zebras? Im selben Artikel werden Reptilien aufgrund ihrer Promiskuität als „wechselfreudig“ bezeichnet. Ein wahrer Schatz im Silbensee.

Freitag: Die Welt ächzt vor Überbevölkerung. Bald acht Milliarden Menschen tummeln und drängeln sich darauf, täglich werden es mehr. Andererseits klagen viele Branchen über Personalmangel. Wie kann das sein? Wo sind die alle?

Abends war ich im Friseursalon meines Vertrauens, jetzt in neuen Räumlichkeiten mit einem für mich neuen Friseur, weil meine Stammfriseurin Urlaub hat. Ein wenig Unbehagen kommt jedes Mal wieder auf bei der Frage „Was kann ich für Sie tun?“ – Was soll man da sagen, das nicht allzu offensichtlich klingt wie „Etwas kürzer“? Natürlich kürzer, länger geht ja wohl kaum. Oder mehr, vor allem hinten-oben, wo es immer lichter wird. Etwas übergriffig fand ich die Frage nach meiner beruflichen Tätigkeit, die ich mit einem knappen „Bürojob in einem großen Unternehmen“ beantwortete. Die Gegenfrage „Und Sie?“ verkniff ich mir. Mit dem Ergebnis war ich indes zufrieden.

Samstag: Bereits gegen halb neun morgens hob nebenan das laute Rauschen eines Gasbrenners an, Sie kennen diese Flammenwerfer, die von Dachdeckern benutzt werden, um Teerpappe gefügig zu machen. Was hier geflammt wurde, war nicht zu erkennen, vermutlich beseitigte jemand Unkraut, die Leute kommen oft auf die absurdesten Ideen, wenn es der Bequemlichkeit dient. Anscheinend ist das Gas noch immer zu billig, woran sich zunächst auch nicht viel ändern wird, wenn Herr Putin den Hahn zudrehen lässt, da hierfür kein Erdgas verwendet wird.

Meine Empörung hielt sich dennoch in Grenzen, da ich schon aufgestanden war, um später mit der Bahn nach Dortmund zu fahren, wo ich mit C., meinem ältesten Schulfreund, verabredet war. Also natürlich nicht der älteste an Jahren, sondern den ich am längsten kenne, Sie verstehen schon. Auch nach über fünfzig Jahren ist der Kontakt trotz der räumlichen Entfernung nicht abgerissen, wir telefonieren zu den Geburtstagen, und ab und zu – viel zu selten – treffen wir uns auf halber Strecke zwischen Bonn und Bünde in Dortmund.

Die An- und Abreise im Nahverkehr bot einmal mehr die Möglichkeit, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Mir war es egal, ich hatte einen Sitzplatz am Fenster. Auf dem Hinweg saßen hinter mir welche auf dem Weg zu einem Festival, wenn ich es richtig verstanden habe. Sie unterhielten sich im üblichen Jargon der Umdiedreißigjährigen, mit „genau“ und „tatsächlich“ sowie englischen Einsprengseln in jedem zweiten Satz. In Düsseldorf stieg eine lärmende Hobby-Fußballmannschaft hinzu, die von den Umdiedreißigjährigen eine Flasche Rosé gereicht bekam, die einmal den Gang runter und wieder rauf gereicht wurde, natürlich ohne Gläser. Mich grauste. Erfreulicherweise stiegen sie bereits in Mülheim an der Ruhr wieder aus, was zu folgendem, durchaus witzigen Dialog mit den Umdiedreißigjährigen führte: „Was wollt ihr denn in Mülheim?“ – „Da haben wir unsere Ruhr.“

Diese wunderschöne V 60 stand im Dortmunder Hauptbahnhof herum und verlangte nach Fotografiertwerden

Seuchenbedingt lag das letzte Treffen mit Freud C. drei Jahre zurück, daher gab es viel zu erzählen, und da Erzählen durstig macht, gab es Weißwein dazu. Viel Weißwein, was die Koordination der Rückreise etwas abenteuerlich werden ließ. Aber der Umstieg in Köln gelang, ich kam wohlbehalten, wenn auch etwas später als ursprünglich geplant, zu Hause an.

Sonntag: Da der Weißwein von gestern nachwirkte, fiel der Spaziergang heute etwas länger aus.

Auch kam ich erst heute dazu, die Samstagsausgabe des General-Anzeigers fertig zu lesen. Wolfgang Pichler schrieb darin über Rap: „… dieses höchst gewöhnungsbedürftige Gebell auf den Billig-Musiksendern, wo Leute mit suboptimalem Klamotten- und Schmuckgeschmack so dreinblicken, als wollten sie entweder ein­ander oder den Zuschauer massakrieren, während sie nicht druckfähige Äußerungen über eigenes und fremdes Sexualverhalten von sich geben.“

***

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche.

Woche 41: Vielleicht nicht mehr lange

Montag: Da fährt man mal eine Woche lang nicht ins Werk, schon ist es morgens finster.

Während der frühmorgendlichen Zeitungslektüre las ich einen Satz, der Christian Lindner aus der zotig-forschen Feder geflossen sein könnte: „Bei der herbstlichen Leistungsschau zeigen die Cucurbitaceae-Züchter ihre prallsten Exemplare und wetteifern darum,“ (theatralische Pause, zwinker zwinker, nicht was Sie schon wieder denken, hö hö) „wer den schwersten Kürbis des Jahres gezogen hat.“

Wenig Erbauliches las ich dagegen in den Mails, die nach einwöchiger Abwesenheit in größerer Anzahl meiner Kenntnisnahme harrten: „… gezielter Input für die Visualisierung eines Drafts“ – „Wir haben die Agenda für den Call finalisiert.“ Merken die es wirklich nicht?

Dienstag: Donald Trump ist aus dem Krankenhaus entlassen. Vielleicht ertrugen sie dort einfach sein Gelaber nicht mehr, nachdem sie sich nicht getraut hatten, ihm das kürzlich noch von ihm selbst empfohlene Desinfektionsmittel zu spritzen. Wie zu erwarten behauptet er, man müsse vor Corona keine Angst haben. Unterdessen denkt die ganze Welt: Ich weiß, man soll niemandem wünschen … – trotzdem … Immer diese blöde Moral.

„Vielleicht ist Moral nichts anderes als der Versuch einer Entschuldigung für diejenigen, die es nicht wagen, ihre Träume und Wünsche und Wahrheiten auszuleben?“, schreibt Herr Emil, und bekommt dafür ein Sternchen von mir.

Wohl eher keine Moralschwäche, eher Gedankenlosigkeit mittags in der Kantine. Scheinbar Trumps absurder Empfehlung folgend, rücken die lieben Kolleginnen und Kollegen mit ihren Stühle zu viert und mehr an Tische, wo nur zwei sitzen dürfen. Warum wird das nicht kontrolliert und unterbunden? Ich schwanke zwischen Ratlosigkeit und Wut.

Mittwoch: „Ich habe die Kollegen mal cc‘ed“, schreibt einer in einer Mail, die ich Cc erhalten habe. Noch so einer, der es offenbar nicht merkt.

Meinen oben geschilderten Unmut bezüglich des Abstandhaltens in der Kantine habe ich schriftlich gegenüber der Werksleitung geäußert. Mal sehen, ob es eine Reaktion gibt.

Donnerstag: Wenn jemand aus einer WhatsApp-Gruppe Geburtstag hat (oder sich krank meldet) ist die einzig richtige Aktion, ihm die Gratulation (oder Genesungswünsche) als persönliche Nachricht zu übermitteln und dann die Gruppe für acht Stunden stummzuschalten.

Aufsitzrasenmäher gelten gemeinhin als beliebtes Männerspielzeug. Das gilt vermutlich auch und erst recht für den Monster-Laubbläser, den ich mittags im Rheinauenpark zunächst schon von weitem hörte, dann sah – allein schon wegen der immensen Geräuschentwicklung. Aus Gründen, die mir verschlossen bleiben, mögen es ja viele Männer laut.

Ansonsten gerierte ich mich heute leicht trottelig. Merke: Wenn man ein Paket aus der Packstation abholen und ein weiteres darin einlegen will, beachte man unbedingt die Reihenfolge – erst das eine einlegen, dann das andere entnehmen. Im umgekehrten Fall kann es sonst passieren, dass man die Packstation mit derselben Sendung verlässt, mit der man ankam.

Freitag: „Ein ruhend Beschäftigter ist nicht aktiv beschäftigt“, sagte einer. Ein schöner Satz zum Wochenende. Ein anderer sprach von „Beschäftigtinnen und Beschäftigten“. Auch schön.

Das Wetter war mir in dieser Woche gnädig: Es regnete häufig, nur nie, wenn ich ins Werk oder zurück radelte. Vielleicht habe ich einen Regenschutzengel. – Mal unter uns Radfahrern: Das Missachten einer roten Ampel wird nicht akzeptabler, wenn man dazu auf den Gehweg nebenan ausweicht.

Abends begaben wir uns zum Essen ins Wirtshaus. Auf dem Weg dorthin und zurück sah ich viele Menschen in den Straßen und vor den Gaststätten, unbekümmert, unmaskiert, eng beieinander, und dachte: Vielleicht nicht mehr lange.

Das schlimmste an diesem Abend aber war die Melodie aus der Reklame für ein neuartiges Trimmrad, auf dem man sich über einen Bildschirm anschreien lassen kann, die vorübergehend als Ohrwurm den Sender meines Hirnradios beherrschte. Gut gemacht, Paloton.

Samstag: Nach dem Frühstück schickte mich der Liebste zum Metzger unseres Vertrauens. Auf dem Türschild mit den Öffnungszeiten ist auch eine Notfall-Telefonnummer angegeben. Falls außerhalb der Geschäftszeiten die Leberwurst ausgeht?

„Die Schönheit des Alters wird oft unterschätzt. Hier kommt sie zur Geltung“, las ich in der Zeitung über einen Rotwein von der Côte-du-Rhône. Vielleicht ist dieser Satz auch zur Hebung der Frühlaune geeignet, wenn ich ihn an den Spiegel im Bad hefte.

Sonntag: „Das neue Zuhause für Querdenker“, las ich während des Spaziergangs auf dem Werbeplakat eines Büromöbelhauses in der Innenstadt. Vielleicht sollte die Marketingabteilung darüber aus aktuellem Anlass nochmal in sich gehen.

Kurze Zeit später kam ich an einem Hutgeschäft vorbei mit dem schönen Namen „Hutgeflüster“. Leider hat es offenbar den Geschäftsbetrieb eingestellt, jedenfalls deuten die zugeklebten Scheiben darauf hin*. Der Hut als alltägliche Kopfbedeckung ist einfach außer Mode, wie ich schon mehrfach beklagte.

Des Weiteren sah ich eine wegen Bauarbeiten verkehrsbefreite Autobahn …

… einen Radweg (hier war vielleicht im Rahmen des Vorhabens „Fahrradhauptstadt Bonn“ etwas Geld übrig) …

… und ein herbstliches Stilleben mit dem unsterblichen Designklassiker Monobloc-Stuhl:

Ansonsten in dieser Woche erfreulich waren ein nicht zu langer erster Arbeitstag, Queen, Rheinischer Sauerbraten und ein Haarschnitt.


*) Nachtrag vom 14. Dezember 2020 – Heute erreichte mich ein Hinweis des Ladeninhabers (oder der Inhaberin, das geht aus der Nachricht nicht hervor):

Mein kleines Lädchen ist nach wie vor aktiv. Ich stelle dort Hüte nach altem Hutmacher-Handwerk her und verkaufe diese auch. Glücklicherweise gibt es auch heute noch Menschen, die ihren Kopf gerne mit (individuellen) Hüten schmücken. Bei starker Sonneneinstrahlung lasse ich hin und wieder ein großflächiges Rollo im Schaufenster herunter, um meine Hüte zu schützen. Daher wirkte es auf Sie vermutlich wie geschlossen. Ich würde mich freuen, wenn Sie in Ihrem Blog einen kurzen Hinweis geben könnten, dass das Atelier nach wie vor „lebt“.

Dieser Bitte komme ich selbstverständlich gerne nach.