Heimatgedanken

Bielefeld gibt es wirklich, lassen Sie sich von anders lautenden Behauptungen nicht beirren. Ich muss das wissen, es steht als Geburtsort in meinem Personalausweis, ich habe dort 32 Jahre meines Lebens verbracht. Davon 26 Jahre in einem östlichen Stadtteil namens Stieghorst, dort steht mein Elternhaus; Stieghorst ist das, was ich wohl als meine Heimat bezeichnen muss. Meine Eltern leben dort, in ihrem/unserem 1960er-Jahre Reihenhaus in einer Siedlung, die überwiegend aus 1960er-Jahre-Reihen- und Mietshäusern besteht.

Seit 1999 wohne ich in Bonn, nicht gerade weit weg von Bielefeld, aber doch so weit, dass es mich nur noch relativ selten in meine ostwestfälische Heimat verschlägt, vielleicht vier- bis fünfmal im Jahr. (Ostwestfalen, was für ein im Grunde unsinniges Wort, etwa so wie Doppelhaushälfte; von ersterem könnte man, rein mathematisch betrachtet, den Mittelwert bilden und käme auf „Falen“, zweiteres ließe sich zu „Haus“ kürzen.) Gestern nun war ich wieder dort. Das erste, was man wahrnimmt, wenn man an der Endhaltestelle der Stadtbahn aussteigt, ist das Einkaufszentrum, ein in den frühen 1970er-Jahren gebautes Gebäudekonglomerat, das an Hässlichkeit seinesgleichen sucht, gleichwohl in dieser oder ähnlicher Form in wohl jeder größeren Stadt zu finden ist: drei- bis fünfstöckige Flachdachbauten mit viel Beton und Waschbetonverkleidungen, mittendrin eine Gaststätte mit dem Namen „Alt Stieghorst“, was nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik entbehrt.

Stieghorst hat sich seit meiner Kindheit stark verändert: Die Stadtbahn endete früher in Sieker und man musste in den Bus umsteigen, um nach Stieghorst zu gelangen; die Textilfabrik, deren Schornstein früher den Stadtteil überragte und der eine Art Wahrzeichen war (was schon einiges über Stieghorst aussagt), ist dem Erdboden gleich gemacht und das Gelände neu bebaut worden; das kleine Wäldchen an der Stieghorster Straße mit der alten Fabrikantenvilla darin existiert nicht mehr und musste Wohnhäusern weichen; wo einst die Glasbaufirma in unserer Straße stand, die der Familie eines alten Freundes von mir gehörte, gähnt jetzt eine große freie Fläche. Das sind nur einige Beispiele von vielen.

Obwohl sich so vieles verändert hat, was ja völlig normal ist, nicht nur in Stieghorst sondern überall, ist es nach wie vor sehr vertraut. Und doch frage ich mich, je mehr, desto älter ich werde und desto länger es her ist, dass ich dort lebte: Wie kann es sein, dass ich mich dort als Kind, Jugendlicher und auch noch junger Erwachsener so wohl gefühlt habe? Wie konnte es 26 Jahre dauern, bis ich dort weg zog? Alles ist so vorstädtisch, die Architektur überwiegend hässlich, eine gewisse Spießigkeit springt einem überall entgegen; selbst mein Elternhaus empfinde ich kaum noch als „Heimat“, obwohl ich dort die bislang meiste Zeit meines Lebens verbrachte. Vielleicht liegt es daran, dass sich das Haus von innen mindestens so stark verändert hat wie Stieghorst im Ganzen, neue Möbel, neue Farben, nichts ist so geblieben wie damals, als ich auszog; vielleicht liegt es aber auch einfach an dem räumlichen und zeitlichen Abstand, den ich inzwischen zu Stieghorst im Allgemeinen und zu meinem Elternhaus im Besonderen gewonnen habe.

Ich liebe meine Eltern, habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihnen, freue mich sehr, wenn ich sie sehe, ich weiß, dass das viel zu selten ist. Und doch beschleicht mich so etwas wie Erleichterung, wenn ich wieder im Auto sitze und auf die A2 Richtung Bonn auffahre. Bonn ist nun mein Lebensmittelpunkt, ja meine Heimat. Und ich bin mir sicher, wenn meine Eltern eines – hoffentlich sehr fernen – Tages nicht mehr sind, wird es mich nach Bielefeld-Stieghorst voraussichtlich nie wieder verschlagen. – Das klingt hart, oder?