Woche 39/2022: Nahezu perfekt und relativ glücklich

Montag: Die bekannte Fischrestaurantkette bietet als „Fang der Woche“ Wels-Currywurst mit Pommes an, wie ich morgens auf dem Weg zum Bahnhof sah. Guten Appetit.

Ich reiste ins Allgäu, wo ich vier Tage lang den ersten Alleinurlaub seit – lassen Sie mich überlegen: sechsundzwanzig Jahren verbrachte. (Zuletzt war ich 1996 allein auf Gran Canaria, nachdem sich mein damaliger Freund von mir getrennt hatte und der Kessel brummte; das ist eine andere Geschichte.) Hier im Allgäu machten wir oft mit der Familie Urlaub, deshalb war es auch eine Reise in meine Jugend.

Die Bahnfahrt verlief nicht pünktlich, doch immerhin so wenig verspätet, dass ich in Ulm den Anschluss noch bekam. Bis Ulm reiste ich im Abteil, weil der gebuchte Intercity in der ersten Klasse, die ich mir gönnte, nur Abteilwagen aufwies. Derart reise ich ungern wegen der Gegenüberfußproblematik und der Gefahr, ins Gespräch verwickelt zu werden. Es sprach trotz fünf belegter Plätze jedoch niemand, einschließlich Gruß- und Abschiedsformel. Zudem hatte ich einen Fensterplatz mit Blick auf den Rhein, also nahezu perfekt.

„Tragen Sie Ihre Maske aktiv über Mund und Nase“, wurde regelmäßig durchgesagt. Wie trägt man eine Maske aktiv, und wie passiv?

Ab Memmingen nahm ich erstmals trotz verhüllter Nase den regionaltypischen Kuhdungduft wahr und lächelte unter der aktiv getragenen Maske. Sie werden vielleicht zu recht einwerfen, dass die bedenkliche Ausbringung von Gülle Ursache dieser olfaktorischen Empfindung ist. Dem widerspreche ich nicht, möchte damit nur zum Ausdruck bringen, dass genau dieser Geruch für mich untrennbar mit den früheren Familienurlauben verbunden, somit positiv besetzt ist.

Bei Ankunft am Zielbahnhof lächelte ich noch mehr
Die Dieseltriebzüge der Baureihe 633 weisen nicht nur eine übelgelaunte Physiognomie auf, sie sind auch recht unkomfortabel und dröhnen innen sehr laut. Für längere Reisen nicht zu empfehlen.
Im Hintergrund der Niedersonthofener See

Nach Ankunft in Martinszell (eigentlich Oberdorf, der Ort Martinszell liegt etwa einen Kilometer vom gleichnamigen Bahnhof entfernt) schloss sich ein etwa einstündiger Spaziergang zur Unterkunft in Niedersonthofen an, den ich bei Sonnenschein auch innerlich strahlend zurück legte. Ich sah viel Vertrautes; gleichwohl hat sich in den vergangenen zweiunddreißig Jahren, seit ich das letzte Mal hier war, einiges verändert.

Gegen Abend der See nochmal aus der Nähe
Der Grünten, gleichsam der Mont Ventoux des Oberallgäus

Abendessen im Restaurant. Der Landgasthof ist für Einzelesser nicht optimal möbliert. So belegte ich alleine einen Sechsertisch und hatte fast ein schlechtes Gewissen, als ich das zweite Bier bestellte. Hauptsache, mir wurde kein auf Englisch das Gespräch suchender Beisitzer zugeteilt. (Da ich diesen Gedanken bei Tisch ins Notizbuch schrieb, halten sie mich jetzt vielleicht für einen Testesser von Michelin. Mal sehen wie der Service in den nächsten Tagen wird.)

Als Absacker bestellte ich einen Enzian. Schmeckte gar nicht mal so gut, außerdem ist er klar, nicht blau. Heino lügt. (Kleine Gaudi am Rande, verzeihen Sie. Ich weiß natürlich, dass Enzian blau blüht.)

Dienstag: Bereits vor dem Weckergetöse wachte und stand ich auf. Bis mittags regnete es andauernd, was mich dank Lektürevorrat nicht grämte. Als der Regen kurz nach zwölf nachließ, machte ich mich auf zu der Tour, auf die ich mich seit Buchung dieses Aufenthalts am meisten freute. Sie führte über Oberdorf (bitte nicht verwechseln mit Oberstdorf) durch das Werdensteiner Moos, über Eckartz, Freibrechts und Gopprechts zurück nach Niedersonthofen.

Auf dem Weg nach Oberdorf
Mont Grünten in Wolken, rechts hinten die Oberst(!)dorfer Alpen
Letztere aus anderer Perspektive
Zwischen Oberdorf und Eckartz
Ebenso, nun sonnenbeschienen
Gopprechts
Es muss schlimm sein, den Tag mit so einer Glocke am Hals zu verbringen. Immerhin wurden ihnen nicht, wie den meisten Artgenossinnen, in jungen Jahren die Hörner weggeätzt. Insgesamt wirkten sie relativ glücklich.

Das Werdensteiner Moos ist ein ehemaliges Torfabbaugebiet, das ab den Neunzigerjahren renaturiert worden ist. Bis dahin war es ein unzugänglicher Wald, so kannte ich es noch aus früheren Urlauben. Heute führt ein Rundweg hindurch, mit Informationstafeln zur Geschichte des Torfabbaues und Natur des Mooses/Moores.

Zwischendurch regnete es immer wieder. Dennoch – und trotz nach Rückkehr feuchter Füße – stimmten Vorfreude und Ereignis völlig überein.

(Während dieser Niederschrift übt im Gasthof nebenan die örtliche Blaskapelle. Ich mag Bayern sehr, trotz Söder, Scheuer und [bitte denken Sie sich hier ein besonders intensives Würgegeräusch] Dobrindt.)

Mittwoch: Wie morgens beim Frühstück zu hören war, werden in Kempten händeringend Busfahrer gesucht. Dabei stelle ich mir vor, wie Leute diverser Verkehrsbetriebe sich in eine wild aufgemischte Menschentraube drängen, jeden fragen „Sind Sie Busfahrer?“, und sobald jemand ja sagt, stürzen sich alle auf ihn und es kommt zum Handgemenge.

Es regnete durchgehend den ganzen Tag, wie angekündigt. Das hielt mich nicht von einem längeren Spaziergang durch Oberdorf und Martinszell ab; nach monatelanger Vorfreude blieb ich nun nicht wegen Fußfeuchtegefahr im Zimmer. Nach Rückkehr waren die Schuhe komplett durchnässt, das war es wert. Vielleicht sollte ich mir mal wasserdichte Wanderschuhe zulegen.

Niedersonthofener See im Regen, Blick zum Westufer

Mein Unterkunft gewährendes Gasthaus hatte heute Ruhetag, deshalb aß ich abends (ebenfalls sehr gut) in einem Wirtshaus etwas außerhalb des Ortes. Es heißt „Sonne“, immerhin ein Lichtblick an diesem Regentag. Und doch: Alleine zu essen macht auf Dauer keinen Spaß. Drei Tage Alleinzeit sind vorerst genug, ich freue mich auf die Rückkehr in die Arme der Lieben morgen Abend.

Auf dem Rückweg vom Essen war der Grünten verschwunden, vergleiche Montag, letztes Bild

Donnerstag: Tag des Abschieds vom Allgäu. Noch immer regnete es, was den Abschiedsschmerz auch hier (siehe vergangene Woche) ein wenig linderte.

Ein letzter Blick zurück auf das umwölkte Niedersonthofen

Die Züge waren sehr voll, bereits der (viel zu kurze) Regionalexpress nach Ulm in der zweiten Klasse vollbesetzt. Wo wollten die vielen Leute hin an einem gewöhnlichen Donnerstagmittag? Vorausschauend hatte ich ja erste Klasse gebucht und fand ein angenehmes Plätzchen. Hinter Kempten geleitete die Zugbegleiterin ein älteres Paar, dessen männlicher* Teil nicht gut zu Fuß war, in das Erste-Klasse-Abteil und bat uns bereits darin Sitzende um Verständnis. Meine Frage, wofür, schließlich hatte ich nur für einen Platz bezahlt und den auch bekommen, wurde mit Kaffee-Gutscheinen für alle Abteilinsassen beantwortet, den ich allerdings zurückließ, da er nur an bestimmten süddeutschen Bahnhöfen einlösbar war, von denen ich bis Jahresende voraussichtlich keinen mehr aufsuchen werde.

*mutmaßlich, man darf das ja nicht mehr einfach so behaupten anhand äußerlichen Anscheines.

Im ICE nach Mannheim saß vor mir eine Frau, die allerlei Business-Blödsinn in ihr Telefon absonderte, und diesen Satz: „Tobi und ich haben diese Challenge, wer zuerst die Heizung andreht.“ Cool, hätte man wohl früher gesagt; wie man heute sagt, weiß ich nicht und es ist mir auch egal.

Ab Mannheim wurde mir das außergewöhnliche Vergnügen zuteil, in einem Panoramawagen der Schweizer Bundesbahn Platz zu nehmen. Eine angenehmere Art zu reisen ist kaum denkbar, obwohl man sich auch hier gegenüber sitzt, immerhin ohne diesen beengenden Tisch dazwischen.

Wenn gegen Ende einer längeren Reise das Siebengebirge zu sehen ist, geht mir jedes Mal das Herz auf

Weitere Beobachtungen und Erkenntnisse innerhalb und außerhalb des Zuges:

  1. In Memmingen gibt es Lärmschutzwände mit Lurchlöchern. Das sind kleine Öffnungen am Boden, darüber in etwa ein Meter Höhe jeweils ein Schild mit einem stilisierten Schwanzlurch oberhalb eines auf der Spitze stehenden Dreiecks, somit für die Durchgang begehrenden Lurche viel zu hoch angebracht.
  2. Selbst Fabrikschornsteine wurden im neunzehnten Jahrhundert schmuckvoller gebaut als heute die meisten Wohnhäuser.
  3. Bei Jungs mit knöchelfrei getragenen Hosen schwanke ich häufig zwischen „wie erotisch“ und „wie albern“. Bei Männern über vierzig bin ich mir sicher.
  4. Es ist lächerlich, einen Fachhandel „Küchen Kompetenz Centrum“ zu nennen.

Freitag: Immer noch Urlaub. Dies nahm ich zum Anlass, auswärts zu frühstücken, in einer Gaststätte in der Bonner Südstadt, die bei Ankunft wenige Minuten nach Öffnung schon gut besucht war, nicht nur von Menschen im Rentenalter. Haben die nichts zu tun? Grund mag das anheimelnde Ambiente des Lokals sein; die Qualität des gereichten Frühstücks spricht indessen nicht dafür: Zum „Französischen Frühstück“ wurde kein Baguette serviert, dafür ein Körbchen mit einem Croissant (immerhin), einer Scheibe Vollkornbrot und einem Brötchen. Letzteres war offenbar billigste Aufbackware, das bereits beim Aufschneiden in mehrere Teile zerbröselte. Daher werde ich dort wohl nicht mehr so bald frühstücken.

Im Rewe sind die ersten Weihnachts-Süßwaren erhältlich, was wieder einige Konsumenten auf die Palme (beziehungsweise Tanne) bringen wird. Ich blieb am Boden, freute mich und packte einige Nougat-Marzipan-Riegel ins Körbchen.

Samstag: Ein ungewöhnlich milder Tag. Mittags in der Fußgängerzone bemerkte ich, wie nur drei Tage Allgäu ausgereicht haben, mich von Menschen in größerer Zahl zu entwöhnen und wie wenig ich es vermisst habe – Leute, die langsam vor mir her gehen und einfach stehen bleiben; Kinderwagen, die mir in die Hacken geschoben zu werden drohen; Fahrräder und Elektroroller im Fußgängerslalom; Tier-/Kinder-/Umwelt- Wasauchimmerschützer, die arglose Passanten an ihre Stände zu zerren suchen, um ihnen ein Gespräch aufzuzwingen.

Sonntag: Zwei Wochen Urlaub sind zu Ende, somit die großen Vorfreude-Ereignisse für dieses Jahr aufgebraucht. Erfreuen wir uns also weiterhin an Kleinigkeiten, die das Leben auch im Alltag bereithält.

Wie solches – das Ende eines jeden menschlichen Seins kann schöner kaum beschrieben werden:

… sie werden wohl jenen unbeliebten, aber notwendigen natürlichen Prozessen zum Opfer gefallen sein, mittels welcher die Kreisläufe des Organischen immer weiter zu kreisen befähigt sind.

Max Goldt: Preisung der grotesken Dame

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Ich wünsche Ihnen einen erfreulichen Feiertag, eine angenehme Woche und mir einen nicht allzu unlustschweren Neustart in den Arbeitsalltag. Zum Glück erst Dienstag.

Woche 28/2022: Zwischen den Wellen

Montag: Manchmal muss man aus Routinen ausbrechen. Entgegen der Gewohnheit ging ich bereits heute zu Fuß ins Werk, in der Hoffnung, ein längerer Gang durch die Morgenfrische würde des Montags Müdigkeit mildern. Was den gewünschten Effekt betrifft: ging so.

Vergangene Woche beschrieb ich im Zusammenhang mit einem Friseurbesuch mein Unbehagen, das allzu Offensichtliche auszusprechen. Heute erschien beim Öffnen eines neuen Internet-Tabs das vermutlich von Microsoft so eingerichtete Bild eines Eisberges, dazu dieser Hinweis:

Manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.

Auf dem Rückweg ging ich hinter dem Mutterhaus an einem vorbei, der Tenorhorn übte, weithin gut hörbar, beziehungsweise nicht gut; er mühte sich immer wieder mit einer kurzen Tonfolge ab, die nicht recht gelingen wollte, auch nicht bei der werweißwievielten Wiederholung. Ob es Teil eines Liedes war oder eine Etüde, war nicht zu erkennen. Ebenfalls nicht, warum er ausgerechnet dort übte statt im Schallschutz des heimischen Kellers. Vielleicht haben die Nachbarn auf Unterlassung geklagt oder der Vermieter mit Beendigung des Mietverhältnisses gedroht, wundern würde es nicht. Er muss noch viel üben. Oder besser Briefmarken sammeln.

Das Wetter zeigte sich tagsüber trübe, erst am Abend heiterte es auf und bildete auf diese Weise meine persönliche Stimmung ziemlich genau ab.

Dienstag: Gegen 14 Uhr ist die Arbeitsunlust am größten. Dann rief auch noch ein ehemaliger Kollege an und schwärmte vom Ruhestand. Als er fragte, wie lange ich noch zu arbeiten habe, kamen mir die Tränen und die Lippen begannen zu zittern.

In einem Artikel der PSYCHOLOGIE HEUTE über Alter und Eintritt ins Rentenalter las ich von „Firmenpatriarchen und -patriarchinnen.“ Patriarchinnen? Ein weiteres Mosaiksteinchen im Bild einer Welt, die immer weniger meine ist.

Oder dieses: Die Zeitung berichtet über einen vierzigjährigen Wanderer, der vom Rhein-Sieg-Kreis einen Bußgeldbescheid über mehr als zehntausend Euro erhalten hat. Grund: Bei seinen Wanderungen verstieß er immer wieder gegen Naturschutzbestimmungen, indem er gesperrte Wege benutzte, in Schutzhütten übernachtete, im Wald Feuer entfachte und mutwillig einen Feuersalamander und eine Spinne beunruhigte. Über all das berichtete er umfassend auf Youtube, was der behördlichen Beweisführung sehr entgegenkam. Bei Reue hätte man ihm einen Nachlass gewährt, indes: „Ich bin es leid, mich zu verbiegen und die geforderte Einsicht und Reue zu zeigen“, so der vom rechten Wege Abgekommene. Weiter: „Es kann aber auch nicht sein, dass man erst Verordnungen lesen muss, bevor man einen Wald betritt.“ Ich finde es einmal mehr unerträglich, wie Medien Menschen, die sich nicht an Regeln halten wollen und deswegen zur Rechenschaft gezogen werden, Gelegenheit geben, sich als Opfer darzustellen.

Mittwoch: Wie der heutigen Wikipedia-Startseite zu entnehmen ist, starb vergangenen Sonntag im Alter von 69 Jahren ein „kanadischer Rockeranführer und Verbrecher“. Bemerkenswert, mit welchem Lebenswandel man es auf die Wikipedia-Startseite schafft. Doch wer weiß, vielleicht steht dort dereinst, wenn für mich die Zeit gekommen ist: „Carsten K., erfolgloser und weitgehend unbeachteter Kleinblogger“.

»Ich könnte heulen vor Wut!«, so endet ein Kommentar in der Berliner Zeitung. Dabei ging es nicht um den russischen Angriff auf die Ukraine oder die beharrliche Weigerung der FDP, Vernunft anzunehmen, vielmehr wurde die Schließung zweier Postfilialen beklagt. Heul doch, möchte man da antworten.

Donnerstag: Zu Fuß ins Werk, wie jeden Donnerstag.

Morgendliche Rheinruhe
Wenn es doch so einfach wäre
Das Geheimnis meiner Schönheit
Um Gottes Willen

In der Zeitung ein weiterer Artikel über den Dienstag genannten Falschwanderer, dieses Mal etwas kritischer, vielleicht haben sie es selbst gemerkt. In diesem Zusammenhang ist das Wort „Outdoorer“ zu lesen, was vermutlich soviel wie Freiluftinfluencer bedeutet. Die Verwendung solcher Wörter sollte auch bußgeldbewehrt sein.

Ich habe mir übrigens einen lang gehegten Wunsch erfüllt, beziehungsweise seine Erfüllung in die Wege geleitet: Ende September werde ich eine viertägige Alleinzeit am Niedersonthofener See im Allgäu verbringen, wo unsere Familie bis in die Achtziger häufig Urlaub machte. Darauf freue ich mich sehr und bin gespannt, was sich dort seitdem verändert hat, und was nicht. In letztere Kategorie fällt hoffentlich der allgegenwärtige leichte Kuhdungduft, ohne den das Allgäu für mich undenkbar wäre.

Freitag: Dieses Layla-Lied, über das sich gerade empört wird, kenne ich nicht, und das zu ändern liegt nicht in meiner Absicht. Es interessiert mich einfach nicht. Im Übrigen verstehe ich die Aufregung nicht. Der Anteil der Liedtexte, die in fragwürdiger Weise körperliche Reize preisen, dürfte erheblich sein, ohne dass daran nennenswert Anstoß genommen wurde und wird.

Gelesen in der PSYCHOLOGIE HEUTE über Hochbegabte: »Das Erdulden von Geschwätz erzeugt bei ihnen immense innere Spannung.« Bin ich hochbegabt? Aber in was nur?

Samstag: Aus Gründen familiärer und freundschaftlicher Kontaktpflege reiste ich nach Bielefeld, man muss diese Zeit zwischen den Wellen nutzen. Bei der Gelegenheit komme ich nicht umhin, den Schienenpersonennahverkehr zu loben: Die Bahnen waren pünktlich und nicht überfüllt.

„Alles wird schlechter“, hörte ich hinter mir jemanden ins Telefon sprechen, der am Düsseldorfer Flughafen zugestiegen war und seine Gesprächspartnerin davon in Kenntnis setzte, dass sein Gepäck nicht mitgeflogen war und sich noch in München befand.

Das sah der Vater einer dreiköpfigen Familie vermutlich anders: Immer wieder zeigte er sich begeistert von dem modernen Zug, der Anzeige der Anschlüsse vor dem nächsten Halt auf dem Monitor und der (funktionieren) Klimaanlage. Vielleicht war er zum letzten Mal Zug gefahren, als die Bahn den Nahverkehr noch mit Silberlingen abwickelte.

Flickwerk in Duisburg

In Essen ist an einem Gebäude der Stadtwerke der Schriftzug »Wohlfühlwärme von STEAG« zu lesen. Hoffentlich noch recht lange, möchte man eingedenk der aktuellen Entwicklung hinzufügen.

Kurz vor Rheda-Wiedenbrück mahnte der Triebfahrzeugführer per Lautsprecherdurchsage einen Fahrgast, der offenbar Freude daran hatte, immer wieder den Knopf für die Anforderung einer Rollstuhlrampe zu betätigen: „Dieser Zug ist ein Beförderungsmittel und kein Abenteuerspielplatz.“ Ein Satz aus Kindertagen: Oft, wenn wir uns irgendwo aufhielten, wo es einem Erwachsenen nicht genehm war, auf einer Baustelle oder so, wurde uns beschieden „Hier ist kein Spielplatz.“ Lange nicht gehört.

Vor Gütersloh sagte mein Sitznachbar ins Telefon: „Die Aufgabenstruktur soll ziemlich geil sein.“ Ein ebenso bemerkens- wie notierenswerter Satz.

Sonntag: Am Vormittag besuchte ich kurz die Dampfkleinbahn, die nach zweijähriger Zwangspause wieder fährt.

Lok 7 „Gustav“, Baujahr 1949, baustellenbedingt (auch bei der Kleinbahn wird gebaut) auf der sonst planmäßig nicht mehr befahrenen Oststrecke zwischen Mühlenstroth-Postdamm und Mühlenstroth-Forst

Danach trat ich ab Gütersloh die Heimreise nach Bonn an mit einer Bahn, die wesentlich stärker ausgelastet war als die Dampfkleinbahn. „Es zwingt Sie niemand, sich für neun Euro in überfüllte Züge zu quetschen“, sagte ein offenbar genervter Triebfahrzeugführer per Lautsprecher, nachdem er Fahrgäste aus der ersten Klasse verscheucht hatte. Er schien noch nicht völlig überzeugt von dem aktuellen Angebot der Bundesregierung.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche, möglichst in Wohlfühlwärme statt allzu großer Hitze.

Die Siebziger – Kindheit im Glück

Vorwort

Die Achtzigerjahre erfreuen sich größter Beliebtheit: Radiosender spielen bevorzugt die Hits aus dieser Zeit, außerhalb von Seuchenzeiten kann man an jedem Wochenende irgendwo auf eine Achtziger-Party gehen, und immer wieder können wir uns im Fernsehen Dokumentationen über die „wilden Achtziger“ anschauen, die auch oft genauso heißen, diese zeitweise etwas langatmigen Sendungen, in denen Ausschnitte aus Musikvideos, Straßenszenen und Modeerscheinungen aus dieser Zeit gezeigt werden, die dann am Bildrand eingeblendete, mehr oder weniger bekannte, deutlich in die Jahre gekommene Personen mehr oder weniger witzig kommentieren. (Vor einiger Zeit kommentierte dort gar Wolfgang Bosbach, ohne den früher keine Talkshow stattfinden konnte.)

Warum ausgerechnet die Achtziger? Vielleicht, weil die Programmverantwortlichen diese Zeit besonders intensiv empfunden haben, da sie ihre eigene Jugend darin erlebten. Als in den späten Sechzigern auf diese Welt Gebetener kann ich das bestens nachvollziehen, auch ich würde jederzeit die Achtziger als mein Jahrzehnt bezeichnen, wenn man mich danach fragte. Daher habe ich beschlossen, die für mich wichtigsten Ereignisse, Erlebnisse und Empfindungen aus dieser Zeit hier niederzuschreiben.

„Moment“, mögen Sie vielleicht fragen, „wieso Achtziger? In der Überschrift steht Siebziger.“ Sie haben recht, etwas Geduld bitte: Wenn ich schon in Erinnerungen krame, dann kann ich gleich auch noch was über die Siebziger schreiben, ebenso die Neunziger, die Zweitausender (oder „Nuller“, wenn Ihnen das lieber ist, ich persönlich mag den Begriff nicht so), die Zehner und, warum nicht auch schon, die Zwanziger, auch wenn die gerade erst begonnen haben, aber bereits jetzt reichlich Stoff liefern, wenngleich wenig erfreulichen. Als großer Freund des Grundsatzes „Immer eins nach dem anderen“ beginne ich also mit den Siebzigerjahren; die anderen Jahrzehnte folgen danach in chronologischer Reihenfolge.

Die Siebzigerjahre

Meine früheste Erinnerung überhaupt ist die an einen kleinen Koffer aus Pappe, in den ich einige Stofftiere, Matchbox-Autos und weitere Spielsachen packte, denn wir fuhren mit dem Zug zum ersten Mal in den Urlaub nach Büsum an der Nordsee. Wir, das waren meine Eltern und mein sieben Jahre älterer Bruder Michael. In Büsum wohnten wir in einer aus heutiger Sicht sehr einfachen Pension in der Westerstraße, weiteres darüber schrieb ich bereits vor längerer Zeit hier. Doch es gefiel uns dort, deshalb blieb es für die nächsten Jahre unser Sommerurlaubsziel, in den Siebzigern waren wir noch nicht sehr anspruchsvoll.

Weitere Erinnerungen an Büsum in den Siebzigern: Oma und Opa Severin, ein altes Ehepaar, das in einem noch älteren flachen Ziegelhaus gegenüber der Pension wohnte und meinen Bruder und mich mit Tee und Gebäck versorgte, wenn wir sie besuchten. Später starb der Opa, und nach dem Tod der Oma wurde das schöne alte Haus abgerissen. – Mein erstes Softeis, am liebsten Waldmeister. – Meine erste Begegnung mit Pizza, die mein Vater, der sonst nicht gerade dazu neigte, Unbekanntes auszuprobieren, in einem Restaurant bestellte und mit der er sich wegen des harten Bodens sehr abmühte. Seine Antwort auf die Frage des Sohnes unserer Pensionswirtin am nächsten Tag, was das denn sei, Pizza: „Eine Sperrholzplatte mit Tomaten drauf.“ – Warmer Milchreis mit Zimt, den wir uns Mittags aus der Bude am Hafen holten und im Strandkorb aßen. – Deiche mit Schafen und ihren Hinterlassenschaften darauf. – Kohlfelder in der Umgebung. – Mein Drachen mit dem zehn Meter langen roten Schweif. – Krabbenkutter im Hafen. – Die viel zu kalte Nordsee mit Krebsen, Quallen und anderem Getier darin, die Eiswasserdusche danach.

Zweites Sommerurlaubsziel wurde ein paar Jahre später Martinszell im Allgäu, das wir fortan im jährlichen Wechsel mit Büsum besuchten. Auch darüber ist bereits alles Wesentliche geschrieben. Hinzufügen sind noch: Der Niedersonthofener See in der Nähe, den wir an warmen Tagen aufsuchten und der mir, ähnlich wie die Nordsee, zum Baden viel zu kalt war. (Meine Eltern konnten Niedersonthofen übrigens nicht aussprechen, sie sagten stets „Niedersandhofen“, warum auch immer. Das galt auch für die nicht weit entfernte Stadt Sonthofen.) – Der Widdumer Weiher, ein kleiner mit Seerosen bedeckter See in der Nähe, wo ich zum ersten Mal Frösche sah, die waren gar nicht grün, sondern braun, und wo wir in heftigem Regen genauso nass wurden, als wären wir in den Weiher gesprungen, bis uns unser freundlicher Bauer und Pensionswirt mit dem Auto abholte. – Das Werdensteiner Moos, dessen Wiesen und Wäldchen man auf dem Weg in das Dorf Eckarts durchwanderte – Ausflüge ins nahe Immenstadt, wo ich zum ersten Mal mit einem Sessellift auf einen Berg fuhr. Das war toll, dieses fast lautlose Schweben über Wiesen, Felsen, Bäche und hellbraune, glockenbehängte Kühe hinweg. Nur das Ein- und Aussteigen in das beziehungsweise aus dem fahrenden Schwebemöbel an den Endstationen war etwas aufregend. – Spezi mit Eis und Zitronenscheibe, das ich ausschließlich im Allgäu trank. Später, in den Achtzigern, auch bayrisches Doppelbock-Bier.

Mit vier Jahren kam ich in den Kindergarten. Anfangs fremdelte ich ein wenig, freundete mich aber bald sowohl mit der Situation als auch anderen Kindern an, was gegenseitige Besuche und Einladungen zu Kindergeburtstagen mit Topfschlagen und Eierlaufen nach sich zog. Später schwatzte ich der Leitung eine historische Eisenbahnerlaterne ab, die nur sinnlos in einer Ecke herumstand und nie leuchtete. Ich weiß gar nicht, wo die heute abgeblieben ist. Mittags war schon Feierabend, dann holte mich mein Opa ab.

Opa und Oma väterlicherseits wohnten oben in unserem Reihenhaus in Bielefeld-Stieghorst, wobei „wohnen“ bedeutete: Sie bewohnten ein kombiniertes Wohn-/Koch-/Esszimmer und ein kleineres Schlafzimmer mit einem riesigen Ehebett. Vom Architekten waren die beiden Räume wohl als Kinderzimmer geplant gewesen. Da sie die Großeltern beherbergten, schliefen mein Bruder und ich in einem für uns hergerichteten Kellerraum in Doppelstockbetten (ich oben), in dem wir uns außerhalb der üblichen Nachtzeiten mangels Tageslicht nur selten aufhielten, vielmehr fand das Leben, wenn nicht draußen, überwiegend im Esszimmer statt, das durch eine Glaswand von der Küche abgetrennt war, oder im Wohnzimmer, wo ich mich auf dem Teppich stundenlang mit Lego und Playmobil beschäftigen konnte. Abends waren wir oft zum Fernsehen oben bei Oma und Opa; Oma bot uns Butterbrote „mit guter Butter“ an, die wir, da wir schon gegessen hatten, ablehnten, woraufhin Oma eingeschnappt war („Dann bekommst du auch nix zu Weihnachten“), Opa saß schweigend in seinem Sessel und rauchte Handelsgold-Zigarren.

Der Fernseher, in den ersten Jahren schwarz-weiß, kannte nur drei Programme, wobei das Dritte meistens von äußerst verschneiter Wiedergabequalität war. Auch Fernbedienungen waren nicht gebräuchlich. Dafür war der Apparat einfach zu bedienen: an-aus, laut-leise, Programmauswahl, hell-dunkel, Kontrasteinstellung. Nach dem Einschalten musste man ein paar Minuten warten, bis Bildschirm und Ton langsam erwachten, schon lief das Ding. (Nicht wie heute, wo in einer App und auf mindestens drei Fernbedienungen diverse Knöpfe in bestimmter Reihenfolge zu drücken sind, bis wenigstens ein rätselhaftes Auswahlmenü angezeigt wird.) Später bekamen wir Farbfernseher, immer noch große schwere Kästen, jetzt auf einem separaten Standfuß, immerhin schon mit Fernbedienung, die beim Betätigen einen eigentümlichen, hochfrequenten Ton erzeugte. Wir schauten samstags nach dem Baden „Am laufenden Band“ mit Rudi Carell, außerdem, an anderen Tagen, „Was bin ich“, „Väter der Klamotte“, „Schweinchen Dick“ und einiges anderes.

Meine Großmutter Grete wirkte oft etwas schlechtlaunig und maulte ihren Alois (klang wie „Alwis“) an. Der verließ dann gerne das Haus, machte mit mir lange Spaziergänge, in den nahen Park auf den Spielplatz und zum Enten Füttern, durch die Felder, wo er mir die verschiedenen Getreidesorten erklärte, und in das Ehlentruper Wäldchen, wo in ehemaligen Bombentrichtern jede Menge entsorgter Hausrat des Kindes Interesse weckte. Oder wir schauten zu, wie ein weiterer Bauernhof abgerissen wurde, um Platz zu schaffen für neue Wohnhäuser. Stieghorst hat sich in der Zeit stark verändert, aus der ehedem ländlich geprägten Ansiedlung wurde durch Bebauung von Wiesen und Feldern eine wenig pittoreske Vorstadt, das Einkaufszentrum in brauner Waschbetonästhetik zeugt noch heute davon. Dennoch fühlten wir uns dort wohl.

Ich liebte meinen Opa sehr, niemals entfuhr ihm ein böses Wort, sosehr seine Grete auch grantelte. Umso mehr traf mich sein Tod nach kurzem Krankenhausaufenthalt, er wurde nicht mal siebzig. Meine Oma lebte einige Jahre länger, in denen sich ihre Laune nicht wesentlich besserte. Immerhin: Danach bekam ich endlich ein richtiges Zimmer mit Tageslicht.

Wir verbrachten viel Zeit draußen, zumeist ohne erwachsene Aufsicht und selbstverständlich ohne mobile Erreichbarkeit. Wir spielten auf der Rasenfläche vor dem Haus, aber auch im nahen Ehlentruper Wäldchen, von wo wir oft erst nach Stunden zurückkehrten, bevor es dunkel wurde. Auf dem Gehweg vor dem Haus lernte ich Fahrradfahren mit dem Klapprad ohne Gangschaltung, und Rollschuhlaufen auf Rollen, die an einer längenverstellbaren Schiene mit Riemen unter die normalen Straßenschuhe geschnallt wurden. Im Winter, wenn Schnee lag, in den Siebzigern lag viel Schnee, bauten wir auf der Rasenfläche Schneemänner und Iglus, und wir gingen mit unseren Schlitten in den Park, wo es einen kleinen Hang gab, der schon nach kurzer Zeit eher braun als weiß war.

Mein anderes Großelternpaar, die Eltern meiner Mutter, wohnten in der Nähe von Göttingen am Rischenkrug, weshalb sie den Titel „Oma und Opa Rischenkrug“ trugen, wohingegen die anderen beiden anderen unbetitelt blieben; „Oma/Opa Obergeschoß“ (mit ß, da lange vor der Rechtschreibreform), darauf wäre niemand gekommen. Über den Rischenkrug habe ich im Übrigen hier bereits alles Wesentliche vermerkt.

Am Rischenkrug wurde meine Begeisterung für die Eisenbahn geboren, da das Haus meiner Großeltern direkt an einem Bahnübergang stand. Manchmal kam hier eine der letzten Dampflokomotiven in freier Wildbahn durch, deren dumpfes Heulen auch bei uns zu Hause ganz selten noch zu hören war, wenn eine die unbeschrankten Bahnübergänge bei Oldentrup passierte. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte meine Bahnbegeisterung mit dem Erwerb des ersten L.G.B.-Zuges, der fortan in unserem Garten seine Runden drehte. Jahrelang hatte ich mir eine L.G.B.-Bahn herbeigesehnt, lange darauf gespart. An dem Tag, als ich das erste Mal auf dem Teppich im Esszimmer das Gleisoval zusammengesteckt hatte, sich die Lok mit den beiden Wagen sanft in Bewegung setzte, da war ich wohl der glücklichste Junge zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge. – Auch darüber ist hier und da das meiste bereits aufgeschrieben.

Nicht nur Dampflokomotiven, auch Dampfmaschinen vermochten mich zu begeistern, die früher als normales Kinderspielzeug galten und als solches bei Quelle bestellbar waren. (Liebe Kinder, Quelle war so etwas ähnliches wie Amazon, lange bevor es das Internet gab. Stadt auf der Amazon-Seite suchte man im Quelle-Katalog, einem dicken Buch, das der Postbote zweimal jährlich brachte. Meine Mutter war sogar Quelle-Sammelbestellerin, das heißt sie nahm Bestellungen aus der Nachbarschaft entgegen und bestellte dann für alle; die Waren wurden ein paar Tage später in blauen Kartons geliefert. Kurz nach der Jahrtausendwende hatte Quelle den Kampf gegen den Onlinehandel endgültig verloren. Der Mitbewerber Neckermann hielt sich etwas länger, musste aber auch aufgeben. Nur der Otto-Versand hat bis heute überlebt; den dicken gedruckten Katalog gibt es allerdings auch hier schon lange nicht mehr.) Zum ersten Mal erlebte ich eine Dampfmaschine, genauer: Dampfwalze im Betrieb bei Arno T., dem Nachbarssohn, ein paar Jahre älter als ich. Sofort war ich fasziniert: Man füllte Wasser in den Kessel, legte Esbit-Trockenbrennstoff, der an Würfelzucker erinnerte, in den Brennschieber, zündete es an und schob den Brenner unter den Kessel. Dann verteilte man an verschiedenen Stellen ein paar Tropfen Öl und wartete. Nach ein paar Minuten war das Rauschen des siedenden Wassers zu hören, weitere Minuten später begann das Sicherheitsventil zu blasen, dann konnte es losgehen: Ein kleines Hebelchen umlegen, mit der Hand am Schwungrad drehen, dann schnurrte die Maschine los, Öl- und Wassertropfen um sich spritzend. Mit einem weiteren Hebel wurde das Zahnrad eingerastet, dann fuhr die Walze los, gelenkt über ein kleines Steuerrad am Führerhaus. So lange, bis das Esbit abgebrannt, längstens bis das Wasser im Kessel fast aufgebraucht war. Darauf musste man achten: Niemals Feuer unter dem Kessel, wenn im Schauglas kein Wasser mehr sichtbar war, das hätte die Maschine zerstört.

Ich selbst bekam eine Dampfmaschine zum Geburtstag, allerdings keine Walze, die über den Teppich fuhr, sondern eine stationäre Maschine, an die man über Treibriemen weitere Maschinchen anschließen konnte, wie Hammerwerk, Betonmischer, Dynamo und andere, es gab ein buntes Sortiment an Zubehör. Ein paar Jahre später kaufte ich Arno seine Dampfwalze ab, er hatte inzwischen das Interesse daran verloren.

Die Firma Wilesco und ihr Sortiment gibt es bis heute, allerdings bezweifle ich, dass Eltern ihren Kindern heute noch Dampfmaschinen kaufen und sie unbeaufsichtigt damit spielen lassen. Immerhin, ganz ungefährlich sind die Dinger mit offenem Feuer und heißen Flächen nicht, daher als Spielzeug für Kinder im Grundschulalter nur bedingt geeignet.

Mein Grundschulalter fiel in die Siebziger, die Schule lag gut einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, uns mit dem Auto dorthin zu bringen und mittags wieder abzuholen, stattdessen gingen wir zu Fuß, nur am ersten Schultag in (groß-)elterlicher Begleitung, danach zu dritt, Anke und Mechthild von nebenan und ich. Grundsätzlich war das auch aus Sicht heutiger Eltern unbedenklich, da keine verkehrsreichen Straßen zu überqueren waren, stattdessen führte der Weg durch den Park und die Engländersiedlung, wo die britischen Soldaten mit ihren Familien wohnten. Problematischer wurde es später, als wir wegen des geänderten Zugangs zum Schulgelände einen anderen Weg gehen mussten, auf dem uns die Schüler der Sonderschule begegneten. Die waren oft wenig freundlich gesinnt, einige hatten große Freude daran, uns Grundschüler regelmäßig anzurempeln, zu beschimpfen, manchmal auch zu schlagen und beklauen. Da sie zumeist etwas älter waren, hatten wir dem wenig entgegenzusetzen.

Ansonsten fühlte ich mich in der Grundschule ganz wohl. Das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen fiel mir nicht schwer, selbst die Mengenlehre verstand ich problemlos – im Gegensatz zu unseren Eltern, die regelmäßig daran verzweifelten. Sogar den Schulsport mochte ich noch einigermaßen, einschließlich der Bundesjugendspiele; der Hass darauf kam erst später auf. Was ich gar nicht mochte, war der Schwimmunterricht in der vierten Klasse, zu dem wir einmal wöchentlich mit einem Bus zum Hallenbad am Kesselbrink in der Innenstadt gefahren wurden. Als Nichtschwimmer fiel es mir sehr schwer, das Schwimmen zu erlernen, woran die Schwimmlehrerin Frau B., ein richtiger Wasserdrachen, wohl einen erheblichen Anteil hatte. Richtig gelernt habe ich es erst später am Gymnasium, und konnte endlich das Freischwimmer-Abzeichen erwerben, das ich stolz an meiner Badehose trug.

Auch die Rahmenbedingungen passten: Ich fand schnell Freunde, die Lehrer waren nett, in den Pausen spielten wir „Räuber und Gendarm“. Das Verhältnis zwischen Jungs und Mädchen wurde vorübergehend ein wenig distanziert, was aber ganz normal in dem Alter war. Dafür hatte ich bereits im ersten Schuljahr einen Schulhofschwarm, ein Junge aus der Vierten, der mich in gewisser Weise faszinierte, mit dem ich freilich kein Wort sprach.

Nach der Grundschule kam ich auf das Gymnasium in Heepen, das mit dem Bus zu erreichen war. Daran musste ich mich erst gewöhnen, der Schulbus morgens und mittags war gedrängt voll, man fand nur mit Glück einen Sitzplatz. Wenn er an der Haltestelle ankam und die Türen sich zischend öffneten, brach ein heftiges Drängen und Schubsen los. Zudem war er eine kleine Ewigkeit unterwegs, weil er einen Umweg über Hillegossen und Oldentrup fuhr. Das sollte ich nun in den nächsten neun Jahren jeden Tag ertragen?, fragte ich mich in den ersten Tagen. Ein paar Jahre später konnten wir den regulären Linienbus nehmen, nachdem dessen Fahrplan an die Schulzeiten angepasst worden war, der einigermaßen direkt nach Heepen fuhr und nicht so voll war wie der Schulbus. Erst ab der Oberstufe in den Achtzigern fuhren wir überwiegend mit dem Fahrrad, den Bus nahmen wir nur noch bei Regen.

Mit den täglichen Busfahrten entstand ein etwas skurriles Hobby: Busnummern sammeln. Also nicht die Linienbezeichnungen, sondern die Wagennummern, die bei den Bussen der Stadtwerke Bielefeld jeweils in den Ecken angebracht waren. Es entstand eine Art Wettbewerb, wer welchen Wagen schon gesehen und notiert hatte; besonders begehrt waren die alten Magirus und Büssing, von denen es nur noch wenige Exemplare gab. Aus der reinen Nummernjagd entstand mit der Zeit ein Interesse an Bussen generell, Hersteller, Typ, Baujahr, und ich begann, Omnibusmodelle zu sammeln. Die Sammlung besteht und wächst bis heute.

Wie schon auf der Grundschule kam ich auch auf dem Gymnasium gut zurecht, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Es gab bessere und fleißigere Schüler als mich, aber auch wesentlich schlechtere. Die Lehrerinnen und Lehrer waren, von Ausnahmen abgesehen, angenehm. Eine dieser Ausnahmen war Ferdinand K., Musiklehrer, der in einer eigenen Welt lebte und uns schrecklichste Lieder singen ließ, schlimmer noch: Immer wieder mussten wir einzeln vor der Klasse vorsingen, was für für Jungs kurz vor dem Stimmbruch kein Spaß ist und mir jede Freude am Singen für Jahre vergällte, vor jeder Musikstunde graute mir: Hoffentlich bin ich heute nicht dran.

Eine andere besonders humorlose Ausnahme war Herr B., Physik. Schon aufgrund des körperlichen Volumens eine imposante Erscheinung, verstand er es wie kein anderer, uns durch Angst zu disziplinieren, dabei konnte (oder wollte) er sich nicht einmal unsere Namen merken. Seine Spezialität war es, jemanden zur Lösung einer Aufgabe an die Tafel zu holen und ihn dann vor der Klasse fertig zu machen, wenn die Lösung nicht seinen Ansprüchen genügte. Als es eines Tages hieß, er sei überraschend gestorben, ging ein allgemeines Aufatmen durch die Schulflure, niemand, außer vielleicht seiner Frau, die ebenfalls am Heeper Gymnasium lehrte, trauerte ihm nach.

Ein ganz spezieller Vogel war Manfred S., Deutsch, Religion, Sport, von allen nur „Menne“ genannt. Er war nicht bösartig oder fies, dafür führte er gerne mal vor der Klasse einen Kopfstand aus und zeigte uns seine Kriegsverletzung am Bein. Womöglich war im Feld nicht nur das Bein getroffen worden. Immerhin, in Deutsch ließ er uns „So zärtlich war Suleyken“ und Gedichte von Eugen Roth lesen, das sei ihm zugute gehalten. Außerdem deklamierte er gerne ein Gedicht, das ich bis heute auswendig kann, das geht so: »Lang genug geschienen habend / senkt die Sonne sich am Abend. / Sie hat vollendet ihren Lauf / drum hört sie auch zu scheinen auf.«

Zunehmendes Unbehagen bereiteten mir die Sportstunden. Das lag vor allem an den Mannschaftssportarten wie Fuß- und Basketball. Mir fehlte jeder Ehrgeiz, mich dafür anzustrengen, dass ein Ball in, über oder durch ein Netz flog, daher blieb ich beim Mannschaften wählen stets als Letzter oder Vorletzter übrig. Hinzu kam ein geringes, in Richtung Minderwertigkeitskomplexe tendierendes Selbstbewusstsein. Ich war ein sehr dünnes Kind, was ich mir seit frühester Kindheit anhören musste: „Du muss mehr essen, damit du mal was auf die Rippen bekommst“ oder „Beim Duschen musst du wohl hin- und herspringen, damit dich mal ein Wasserstrahl trifft.“ Während andere Jungs schon ein paar Muskeln aufzuweisen hatten, staken meine dürren Ärmchen und Beine aus Turnhemd und -hose. Schlimmer noch war Schwimmen, wo wir die meiste Zeit bibbernd auf der Fensterbank saßen und uns die vom Lehrer trocken dargebrachten Bewegungsabläufe zeigen ließen, die wir anschließend im Becken in die Praxis umzusetzen hatten.

Damit nicht genug: Da mein Bruder beim CVJM Volleyball spielte, schickten meine Eltern auch mich dorthin, „Das tut dir gut“, jeden Freitagabend. Ich hasste es, bekam kein Gefühl für den Ball und das Spiel, schaffte es daher nie, in eine Mannschaft aufgenommen zu werden. Irgendwann hatten meine Eltern ein Einsehen und erließen mir diese Pein.

Haustiere hatte ich auch: Mehrere Landschildkröten, die in den Siebzigern ohne Rücksicht auf den Artenschutz in Zoohandlungen für wenig Geld zu kaufen waren, Wasserschildkröten, Fische und einen Wellensittich, Jacob hieß der, ich liebte ihn sehr. Der wollte zwar nicht sprechen und ließ sich nicht anfassen, war aber sonst sehr zutraulich, kam auf Finger, Schultern und Kopf und wurde ziemlich alt. Mangels Zimmer mit Tageslicht, siehe oben, stand der Käfig anfangs auf dem Regal im Esszimmer, wo der Vogel einmal fast gestoben wäre, als mein Freund Uwe und ich unsere Dampfmaschinen auf dem Küchentisch laufen ließen. Uwes Maschine qualmte besonders stark, bald war das obere Drittel des Raumes in Rauch gehüllt, also die Sphäre, in der sich Jacobs Unterkunft befand. Erst als er lautlos von der Stange fiel, bemerkten wir sein Unwohlsein, brachten den Käfig schnell in das Wohnzimmer, wo sich das arme Tier nur langsam erholte.

Nachdem meine Oma ihrem „Alwis“ gefolgt war, bekam ich endlich ein eigenes Zimmer, zunächst das kleinere, ehemals großelterliches Schlafzimmer, weil mein Bruder als der Ältere von uns Anspruch auf das größere Zimmer erhob. Das bezog er allerdings nie, weil er kurz zuvor zur Bundeswehr nach Goslar eingezogen worden war, wo es ihm so gut gefiel, dass er dort blieb, daher bekam ich es in den Achtzigern zugeteilt. Jacob zog mit um in mein Zimmer, wo er sich frei bewegen konnte, weil der Käfig die meiste Zeit offen stand. Meistens hielt er sich dennoch im Käfig auf, vielleicht weil es dort Futter gab.

Ein eher dunkles Kapitel bezüglich häuslicher Tierhaltung waren die Frösche, die ich fing und mit nach Hause nahm, wenn wir am Wochenende in der Senne waren. Anfangs hielt ich sie in einer Kaffeedose aus durchsichtigem Kunststoff und ließ sie nach ein paar Tagen im Park frei (wo sie vermutlich nicht sehr lange überlebten), später richtete ich ihnen immerhin ein relativ komfortables Terrarium ein, wo ich sie täglich mit Regenwürmern aus dem Garten fütterte. Einmal nahm ich Froschleich aus einem Tümpel mit und ließ daraus zu Hause Kaulquappen schlüpfen. Auch die wurden später in den Ententeich im Park entlassen; es ist kaum anzunehmen, dass sie dort heimisch wurden und später Froschkonzerte gaben. Hierfür bitte ich die Natur ausdrücklich um Entschuldigung.

Über Froschkonzerte komme ich zum Thema Musik, bitte verzeihen Sie diese etwas holprige Überleitung. Im Kindergarten sangen wir regelmäßig, zum Beispiel „Meister Jakob, schläfst du noch“, das Lied von der Brücke zu Avignon, sogar auf Französisch, soweit ich mich erinnere, und ein Lied über einen Cowboy namens Bill, das ich nicht mehr auf die Reihe bekomme. In der Grundschule nahmen wir „Die Moldau“ von Smetana durch, die fand ich toll und hörte sie fortan täglich zu Hause von Schallplatte in unserer Musiktruhe, einem sperrigen Möbel, das in der Stube (so hieß das Wohnzimmer) stand und Radio und Plattenspieler beherbergte. In den Plattenteller konnte man eine Art intelligenten Dorn stecken, auf dessen oberes Ende ein Stapel von Singles gesteckt wurde. Sobald die aktuelle Platte auf dem Plattenteller zu Ende gespielt und der Tonarm wieder in die Ausgangslage gefahren war, gab der Dorn über eine geheimnisvolle Mechanik die nächste Single frei, die dann auf den Plattenteller über die zuvor abgespielte Platte fiel, anschließend senkte sich der Tonarm darauf und spielte sie ab, so lange, bis der obere Stapel abgespielt war, alles ganz automatisch.

Ich lernte auch selbst Instrumente zu spielen, zuerst Blockflöte, später Trompete im Posaunenchor des CVJM, wo mein Bruder bereits einige Zeit mitspielte.

Im Übrigen waren die Siebziger musikalisch geprägt von „Hitparade“ mit Dieter-Thomas Heck und „Disco“ mit Ilja Richter im Fernsehen; erwähnenswerte Interpreten waren neben anderen Boney M, die Bee Gees, Village People, Sailor (die ich persönlich ganz besonders toll fand, weshalb ich Karneval nur noch als Seemann – nein als George Kajanus, deren Sänger ging; vielleicht war ich sogar ein ganz kleines bisschen verliebt in ihn gewesen) und natürlich ABBA, die ich erstmals 1975 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson sah und spontan begeistert war.

Das erste Telefon bekamen wir übrigens erst gegen Ende der Siebziger, den bekannten grauen Einheitsapparat mit Wählscheibe der Bundespost, sogar mit zwei Anschlussdosen im Haus, eine in der Stube und eine in Omas Schlafzimmer, wobei ich im Nachhinein nicht mehr weiß, wozu meine Oma am Bett einen Telefonanschluss benötigte. Bei nicht fest in der Wand installierten Apparaten war außerdem eine zusätzliche Glocke im Hausflur fernmeldeamtlich vorgeschrieben, die einen Höllenlärm machte und Tote wecken konnte.

Eine weitere Eigenheit der Siebziger war der Badetag einmal in der Woche, zumeist samstags, das heute selbstverständliche tägliche Brausebad war unüblich. Die Badewanne wurde eingelassen, nacheinander wurde dann gebadet, üblicherweise ohne das Wasser zwischendurch zu wechseln. Wenn ich an der Reihe war, meistens als letzter, schwammen kleine weiße Flöckchen auf der Oberfläche. Eine Dusche wurde erst viel später in der Waschküche im Keller eingebaut, der wöchentliche Badetag hielt sich jedoch noch bis in die Achtziger.

Selbstverständlich fanden die Siebziger auch außerhalb von Bielefeld-Stieghorst statt, nur bekam ich davon als Kind nicht allzu viel mit, weil mich Politik nicht interessierte. Regiert wurden wir von Willy Brandt und später Helmut Schmidt, die SPD waren gewissermaßen die Guten, die CDU die Bösen, und die FDP, die sich noch F.D.P. schrieb, irgendwas dazwischen.

Silvester 1979 verbrachten wir vermutlich wie in den Jahren zuvor: Es gab Fondue zu essen, vielleicht durfte ich schon ein Glas Wein mittrinken, meine Eltern waren da wenig streng (wie sie überhaupt wenig streng waren, körperliche Züchtigungen kamen selten und in geringen Dosen vor. Nur einmal eskalierte es ein wenig, als meinem Vater die Hand ausrutschte, den genauen Grund weiß ich nicht mehr, ich glaube mein war Bruder schuld, aber schneller als ich, weshalb ich mich mit dem Kopf in der Musiktruhe wiederfand; vermutlich erschrak mein Vater mehr darüber als ich. Bleibende Schäden trug ich meines Wissens nicht davon, aber wer weiß, was ohne dieses Ereignis für mich anders gelaufen wäre in dieser Welt, wo der Flügelschlag eines Schmetterlings angeblich einen Wirbelsturm auf der anderen Seite der Erde auszulösen vermag). Nach dem Essen wurde irgendwas im Fernsehen geschaut, um Mitternacht gingen wir dann vor das Haus, wo wir unsere Knaller zündeten, die Erwachsenen tranken dazu Sekt. Die Achtziger begannen. Darüber demnächst mehr.

Niemals in New York

Ich war noch niemals in New York,

und das möcht‘ ich nicht ändern.

Viel eher zieht es mich nach Bork-

um statt nach fernen Ländern.

 

Was sollte ich in Afrika,

zu sehen wildes Tier?

Dann lieber Gran Canaria,

da gibt es Kölner Bier.

 

In der Provence halt ich’s gut aus,

im Allgäu und der Rhön.

Das ist zu weit nicht von zu Haus,

zudem ist es dort schön.

 

Am liebsten bin ich hier am Rhein,

den mag ich wirklich leiden.

auf dem Balkon, beim Gläschen Wein,

vor allem: bei euch beiden.