Die Siebziger – Kindheit im Glück

Vorwort

Die Achtzigerjahre erfreuen sich größter Beliebtheit: Radiosender spielen bevorzugt die Hits aus dieser Zeit, außerhalb von Seuchenzeiten kann man an jedem Wochenende irgendwo auf eine Achtziger-Party gehen, und immer wieder können wir uns im Fernsehen Dokumentationen über die „wilden Achtziger“ anschauen, die auch oft genauso heißen, diese zeitweise etwas langatmigen Sendungen, in denen Ausschnitte aus Musikvideos, Straßenszenen und Modeerscheinungen aus dieser Zeit gezeigt werden, die dann am Bildrand eingeblendete, mehr oder weniger bekannte, deutlich in die Jahre gekommene Personen mehr oder weniger witzig kommentieren. (Vor einiger Zeit kommentierte dort gar Wolfgang Bosbach, ohne den früher keine Talkshow stattfinden konnte.)

Warum ausgerechnet die Achtziger? Vielleicht, weil die Programmverantwortlichen diese Zeit besonders intensiv empfunden haben, da sie ihre eigene Jugend darin erlebten. Als in den späten Sechzigern auf diese Welt Gebetener kann ich das bestens nachvollziehen, auch ich würde jederzeit die Achtziger als mein Jahrzehnt bezeichnen, wenn man mich danach fragte. Daher habe ich beschlossen, die für mich wichtigsten Ereignisse, Erlebnisse und Empfindungen aus dieser Zeit hier niederzuschreiben.

„Moment“, mögen Sie vielleicht fragen, „wieso Achtziger? In der Überschrift steht Siebziger.“ Sie haben recht, etwas Geduld bitte: Wenn ich schon in Erinnerungen krame, dann kann ich gleich auch noch was über die Siebziger schreiben, ebenso die Neunziger, die Zweitausender (oder „Nuller“, wenn Ihnen das lieber ist, ich persönlich mag den Begriff nicht so), die Zehner und, warum nicht auch schon, die Zwanziger, auch wenn die gerade erst begonnen haben, aber bereits jetzt reichlich Stoff liefern, wenngleich wenig erfreulichen. Als großer Freund des Grundsatzes „Immer eins nach dem anderen“ beginne ich also mit den Siebzigerjahren; die anderen Jahrzehnte folgen danach in chronologischer Reihenfolge.

Die Siebzigerjahre

Meine früheste Erinnerung überhaupt ist die an einen kleinen Koffer aus Pappe, in den ich einige Stofftiere, Matchbox-Autos und weitere Spielsachen packte, denn wir fuhren mit dem Zug zum ersten Mal in den Urlaub nach Büsum an der Nordsee. Wir, das waren meine Eltern und mein sieben Jahre älterer Bruder Michael. In Büsum wohnten wir in einer aus heutiger Sicht sehr einfachen Pension in der Westerstraße, weiteres darüber schrieb ich bereits vor längerer Zeit hier. Doch es gefiel uns dort, deshalb blieb es für die nächsten Jahre unser Sommerurlaubsziel, in den Siebzigern waren wir noch nicht sehr anspruchsvoll.

Weitere Erinnerungen an Büsum in den Siebzigern: Oma und Opa Severin, ein altes Ehepaar, das in einem noch älteren flachen Ziegelhaus gegenüber der Pension wohnte und meinen Bruder und mich mit Tee und Gebäck versorgte, wenn wir sie besuchten. Später starb der Opa, und nach dem Tod der Oma wurde das schöne alte Haus abgerissen. – Mein erstes Softeis, am liebsten Waldmeister. – Meine erste Begegnung mit Pizza, die mein Vater, der sonst nicht gerade dazu neigte, Unbekanntes auszuprobieren, in einem Restaurant bestellte und mit der er sich wegen des harten Bodens sehr abmühte. Seine Antwort auf die Frage des Sohnes unserer Pensionswirtin am nächsten Tag, was das denn sei, Pizza: „Eine Sperrholzplatte mit Tomaten drauf.“ – Warmer Milchreis mit Zimt, den wir uns Mittags aus der Bude am Hafen holten und im Strandkorb aßen. – Deiche mit Schafen und ihren Hinterlassenschaften darauf. – Kohlfelder in der Umgebung. – Mein Drachen mit dem zehn Meter langen roten Schweif. – Krabbenkutter im Hafen. – Die viel zu kalte Nordsee mit Krebsen, Quallen und anderem Getier darin, die Eiswasserdusche danach.

Zweites Sommerurlaubsziel wurde ein paar Jahre später Martinszell im Allgäu, das wir fortan im jährlichen Wechsel mit Büsum besuchten. Auch darüber ist bereits alles Wesentliche geschrieben. Hinzufügen sind noch: Der Niedersonthofener See in der Nähe, den wir an warmen Tagen aufsuchten und der mir, ähnlich wie die Nordsee, zum Baden viel zu kalt war. (Meine Eltern konnten Niedersonthofen übrigens nicht aussprechen, sie sagten stets „Niedersandhofen“, warum auch immer. Das galt auch für die nicht weit entfernte Stadt Sonthofen.) – Der Widdumer Weiher, ein kleiner mit Seerosen bedeckter See in der Nähe, wo ich zum ersten Mal Frösche sah, die waren gar nicht grün, sondern braun, und wo wir in heftigem Regen genauso nass wurden, als wären wir in den Weiher gesprungen, bis uns unser freundlicher Bauer und Pensionswirt mit dem Auto abholte. – Das Werdensteiner Moos, dessen Wiesen und Wäldchen man auf dem Weg in das Dorf Eckarts durchwanderte – Ausflüge ins nahe Immenstadt, wo ich zum ersten Mal mit einem Sessellift auf einen Berg fuhr. Das war toll, dieses fast lautlose Schweben über Wiesen, Felsen, Bäche und hellbraune, glockenbehängte Kühe hinweg. Nur das Ein- und Aussteigen in das beziehungsweise aus dem fahrenden Schwebemöbel an den Endstationen war etwas aufregend. – Spezi mit Eis und Zitronenscheibe, das ich ausschließlich im Allgäu trank. Später, in den Achtzigern, auch bayrisches Doppelbock-Bier.

Mit vier Jahren kam ich in den Kindergarten. Anfangs fremdelte ich ein wenig, freundete mich aber bald sowohl mit der Situation als auch anderen Kindern an, was gegenseitige Besuche und Einladungen zu Kindergeburtstagen mit Topfschlagen und Eierlaufen nach sich zog. Später schwatzte ich der Leitung eine historische Eisenbahnerlaterne ab, die nur sinnlos in einer Ecke herumstand und nie leuchtete. Ich weiß gar nicht, wo die heute abgeblieben ist. Mittags war schon Feierabend, dann holte mich mein Opa ab.

Opa und Oma väterlicherseits wohnten oben in unserem Reihenhaus in Bielefeld-Stieghorst, wobei „wohnen“ bedeutete: Sie bewohnten ein kombiniertes Wohn-/Koch-/Esszimmer und ein kleineres Schlafzimmer mit einem riesigen Ehebett. Vom Architekten waren die beiden Räume wohl als Kinderzimmer geplant gewesen. Da sie die Großeltern beherbergten, schliefen mein Bruder und ich in einem für uns hergerichteten Kellerraum in Doppelstockbetten (ich oben), in dem wir uns außerhalb der üblichen Nachtzeiten mangels Tageslicht nur selten aufhielten, vielmehr fand das Leben, wenn nicht draußen, überwiegend im Esszimmer statt, das durch eine Glaswand von der Küche abgetrennt war, oder im Wohnzimmer, wo ich mich auf dem Teppich stundenlang mit Lego und Playmobil beschäftigen konnte. Abends waren wir oft zum Fernsehen oben bei Oma und Opa; Oma bot uns Butterbrote „mit guter Butter“ an, die wir, da wir schon gegessen hatten, ablehnten, woraufhin Oma eingeschnappt war („Dann bekommst du auch nix zu Weihnachten“), Opa saß schweigend in seinem Sessel und rauchte Handelsgold-Zigarren.

Der Fernseher, in den ersten Jahren schwarz-weiß, kannte nur drei Programme, wobei das Dritte meistens von äußerst verschneiter Wiedergabequalität war. Auch Fernbedienungen waren nicht gebräuchlich. Dafür war der Apparat einfach zu bedienen: an-aus, laut-leise, Programmauswahl, hell-dunkel, Kontrasteinstellung. Nach dem Einschalten musste man ein paar Minuten warten, bis Bildschirm und Ton langsam erwachten, schon lief das Ding. (Nicht wie heute, wo in einer App und auf mindestens drei Fernbedienungen diverse Knöpfe in bestimmter Reihenfolge zu drücken sind, bis wenigstens ein rätselhaftes Auswahlmenü angezeigt wird.) Später bekamen wir Farbfernseher, immer noch große schwere Kästen, jetzt auf einem separaten Standfuß, immerhin schon mit Fernbedienung, die beim Betätigen einen eigentümlichen, hochfrequenten Ton erzeugte. Wir schauten samstags nach dem Baden „Am laufenden Band“ mit Rudi Carell, außerdem, an anderen Tagen, „Was bin ich“, „Väter der Klamotte“, „Schweinchen Dick“ und einiges anderes.

Meine Großmutter Grete wirkte oft etwas schlechtlaunig und maulte ihren Alois (klang wie „Alwis“) an. Der verließ dann gerne das Haus, machte mit mir lange Spaziergänge, in den nahen Park auf den Spielplatz und zum Enten Füttern, durch die Felder, wo er mir die verschiedenen Getreidesorten erklärte, und in das Ehlentruper Wäldchen, wo in ehemaligen Bombentrichtern jede Menge entsorgter Hausrat des Kindes Interesse weckte. Oder wir schauten zu, wie ein weiterer Bauernhof abgerissen wurde, um Platz zu schaffen für neue Wohnhäuser. Stieghorst hat sich in der Zeit stark verändert, aus der ehedem ländlich geprägten Ansiedlung wurde durch Bebauung von Wiesen und Feldern eine wenig pittoreske Vorstadt, das Einkaufszentrum in brauner Waschbetonästhetik zeugt noch heute davon. Dennoch fühlten wir uns dort wohl.

Ich liebte meinen Opa sehr, niemals entfuhr ihm ein böses Wort, sosehr seine Grete auch grantelte. Umso mehr traf mich sein Tod nach kurzem Krankenhausaufenthalt, er wurde nicht mal siebzig. Meine Oma lebte einige Jahre länger, in denen sich ihre Laune nicht wesentlich besserte. Immerhin: Danach bekam ich endlich ein richtiges Zimmer mit Tageslicht.

Wir verbrachten viel Zeit draußen, zumeist ohne erwachsene Aufsicht und selbstverständlich ohne mobile Erreichbarkeit. Wir spielten auf der Rasenfläche vor dem Haus, aber auch im nahen Ehlentruper Wäldchen, von wo wir oft erst nach Stunden zurückkehrten, bevor es dunkel wurde. Auf dem Gehweg vor dem Haus lernte ich Fahrradfahren mit dem Klapprad ohne Gangschaltung, und Rollschuhlaufen auf Rollen, die an einer längenverstellbaren Schiene mit Riemen unter die normalen Straßenschuhe geschnallt wurden. Im Winter, wenn Schnee lag, in den Siebzigern lag viel Schnee, bauten wir auf der Rasenfläche Schneemänner und Iglus, und wir gingen mit unseren Schlitten in den Park, wo es einen kleinen Hang gab, der schon nach kurzer Zeit eher braun als weiß war.

Mein anderes Großelternpaar, die Eltern meiner Mutter, wohnten in der Nähe von Göttingen am Rischenkrug, weshalb sie den Titel „Oma und Opa Rischenkrug“ trugen, wohingegen die anderen beiden anderen unbetitelt blieben; „Oma/Opa Obergeschoß“ (mit ß, da lange vor der Rechtschreibreform), darauf wäre niemand gekommen. Über den Rischenkrug habe ich im Übrigen hier bereits alles Wesentliche vermerkt.

Am Rischenkrug wurde meine Begeisterung für die Eisenbahn geboren, da das Haus meiner Großeltern direkt an einem Bahnübergang stand. Manchmal kam hier eine der letzten Dampflokomotiven in freier Wildbahn durch, deren dumpfes Heulen auch bei uns zu Hause ganz selten noch zu hören war, wenn eine die unbeschrankten Bahnübergänge bei Oldentrup passierte. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte meine Bahnbegeisterung mit dem Erwerb des ersten L.G.B.-Zuges, der fortan in unserem Garten seine Runden drehte. Jahrelang hatte ich mir eine L.G.B.-Bahn herbeigesehnt, lange darauf gespart. An dem Tag, als ich das erste Mal auf dem Teppich im Esszimmer das Gleisoval zusammengesteckt hatte, sich die Lok mit den beiden Wagen sanft in Bewegung setzte, da war ich wohl der glücklichste Junge zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge. – Auch darüber ist hier und da das meiste bereits aufgeschrieben.

Nicht nur Dampflokomotiven, auch Dampfmaschinen vermochten mich zu begeistern, die früher als normales Kinderspielzeug galten und als solches bei Quelle bestellbar waren. (Liebe Kinder, Quelle war so etwas ähnliches wie Amazon, lange bevor es das Internet gab. Stadt auf der Amazon-Seite suchte man im Quelle-Katalog, einem dicken Buch, das der Postbote zweimal jährlich brachte. Meine Mutter war sogar Quelle-Sammelbestellerin, das heißt sie nahm Bestellungen aus der Nachbarschaft entgegen und bestellte dann für alle; die Waren wurden ein paar Tage später in blauen Kartons geliefert. Kurz nach der Jahrtausendwende hatte Quelle den Kampf gegen den Onlinehandel endgültig verloren. Der Mitbewerber Neckermann hielt sich etwas länger, musste aber auch aufgeben. Nur der Otto-Versand hat bis heute überlebt; den dicken gedruckten Katalog gibt es allerdings auch hier schon lange nicht mehr.) Zum ersten Mal erlebte ich eine Dampfmaschine, genauer: Dampfwalze im Betrieb bei Arno T., dem Nachbarssohn, ein paar Jahre älter als ich. Sofort war ich fasziniert: Man füllte Wasser in den Kessel, legte Esbit-Trockenbrennstoff, der an Würfelzucker erinnerte, in den Brennschieber, zündete es an und schob den Brenner unter den Kessel. Dann verteilte man an verschiedenen Stellen ein paar Tropfen Öl und wartete. Nach ein paar Minuten war das Rauschen des siedenden Wassers zu hören, weitere Minuten später begann das Sicherheitsventil zu blasen, dann konnte es losgehen: Ein kleines Hebelchen umlegen, mit der Hand am Schwungrad drehen, dann schnurrte die Maschine los, Öl- und Wassertropfen um sich spritzend. Mit einem weiteren Hebel wurde das Zahnrad eingerastet, dann fuhr die Walze los, gelenkt über ein kleines Steuerrad am Führerhaus. So lange, bis das Esbit abgebrannt, längstens bis das Wasser im Kessel fast aufgebraucht war. Darauf musste man achten: Niemals Feuer unter dem Kessel, wenn im Schauglas kein Wasser mehr sichtbar war, das hätte die Maschine zerstört.

Ich selbst bekam eine Dampfmaschine zum Geburtstag, allerdings keine Walze, die über den Teppich fuhr, sondern eine stationäre Maschine, an die man über Treibriemen weitere Maschinchen anschließen konnte, wie Hammerwerk, Betonmischer, Dynamo und andere, es gab ein buntes Sortiment an Zubehör. Ein paar Jahre später kaufte ich Arno seine Dampfwalze ab, er hatte inzwischen das Interesse daran verloren.

Die Firma Wilesco und ihr Sortiment gibt es bis heute, allerdings bezweifle ich, dass Eltern ihren Kindern heute noch Dampfmaschinen kaufen und sie unbeaufsichtigt damit spielen lassen. Immerhin, ganz ungefährlich sind die Dinger mit offenem Feuer und heißen Flächen nicht, daher als Spielzeug für Kinder im Grundschulalter nur bedingt geeignet.

Mein Grundschulalter fiel in die Siebziger, die Schule lag gut einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, uns mit dem Auto dorthin zu bringen und mittags wieder abzuholen, stattdessen gingen wir zu Fuß, nur am ersten Schultag in (groß-)elterlicher Begleitung, danach zu dritt, Anke und Mechthild von nebenan und ich. Grundsätzlich war das auch aus Sicht heutiger Eltern unbedenklich, da keine verkehrsreichen Straßen zu überqueren waren, stattdessen führte der Weg durch den Park und die Engländersiedlung, wo die britischen Soldaten mit ihren Familien wohnten. Problematischer wurde es später, als wir wegen des geänderten Zugangs zum Schulgelände einen anderen Weg gehen mussten, auf dem uns die Schüler der Sonderschule begegneten. Die waren oft wenig freundlich gesinnt, einige hatten große Freude daran, uns Grundschüler regelmäßig anzurempeln, zu beschimpfen, manchmal auch zu schlagen und beklauen. Da sie zumeist etwas älter waren, hatten wir dem wenig entgegenzusetzen.

Ansonsten fühlte ich mich in der Grundschule ganz wohl. Das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen fiel mir nicht schwer, selbst die Mengenlehre verstand ich problemlos – im Gegensatz zu unseren Eltern, die regelmäßig daran verzweifelten. Sogar den Schulsport mochte ich noch einigermaßen, einschließlich der Bundesjugendspiele; der Hass darauf kam erst später auf. Was ich gar nicht mochte, war der Schwimmunterricht in der vierten Klasse, zu dem wir einmal wöchentlich mit einem Bus zum Hallenbad am Kesselbrink in der Innenstadt gefahren wurden. Als Nichtschwimmer fiel es mir sehr schwer, das Schwimmen zu erlernen, woran die Schwimmlehrerin Frau B., ein richtiger Wasserdrachen, wohl einen erheblichen Anteil hatte. Richtig gelernt habe ich es erst später am Gymnasium, und konnte endlich das Freischwimmer-Abzeichen erwerben, das ich stolz an meiner Badehose trug.

Auch die Rahmenbedingungen passten: Ich fand schnell Freunde, die Lehrer waren nett, in den Pausen spielten wir „Räuber und Gendarm“. Das Verhältnis zwischen Jungs und Mädchen wurde vorübergehend ein wenig distanziert, was aber ganz normal in dem Alter war. Dafür hatte ich bereits im ersten Schuljahr einen Schulhofschwarm, ein Junge aus der Vierten, der mich in gewisser Weise faszinierte, mit dem ich freilich kein Wort sprach.

Nach der Grundschule kam ich auf das Gymnasium in Heepen, das mit dem Bus zu erreichen war. Daran musste ich mich erst gewöhnen, der Schulbus morgens und mittags war gedrängt voll, man fand nur mit Glück einen Sitzplatz. Wenn er an der Haltestelle ankam und die Türen sich zischend öffneten, brach ein heftiges Drängen und Schubsen los. Zudem war er eine kleine Ewigkeit unterwegs, weil er einen Umweg über Hillegossen und Oldentrup fuhr. Das sollte ich nun in den nächsten neun Jahren jeden Tag ertragen?, fragte ich mich in den ersten Tagen. Ein paar Jahre später konnten wir den regulären Linienbus nehmen, nachdem dessen Fahrplan an die Schulzeiten angepasst worden war, der einigermaßen direkt nach Heepen fuhr und nicht so voll war wie der Schulbus. Erst ab der Oberstufe in den Achtzigern fuhren wir überwiegend mit dem Fahrrad, den Bus nahmen wir nur noch bei Regen.

Mit den täglichen Busfahrten entstand ein etwas skurriles Hobby: Busnummern sammeln. Also nicht die Linienbezeichnungen, sondern die Wagennummern, die bei den Bussen der Stadtwerke Bielefeld jeweils in den Ecken angebracht waren. Es entstand eine Art Wettbewerb, wer welchen Wagen schon gesehen und notiert hatte; besonders begehrt waren die alten Magirus und Büssing, von denen es nur noch wenige Exemplare gab. Aus der reinen Nummernjagd entstand mit der Zeit ein Interesse an Bussen generell, Hersteller, Typ, Baujahr, und ich begann, Omnibusmodelle zu sammeln. Die Sammlung besteht und wächst bis heute.

Wie schon auf der Grundschule kam ich auch auf dem Gymnasium gut zurecht, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Es gab bessere und fleißigere Schüler als mich, aber auch wesentlich schlechtere. Die Lehrerinnen und Lehrer waren, von Ausnahmen abgesehen, angenehm. Eine dieser Ausnahmen war Ferdinand K., Musiklehrer, der in einer eigenen Welt lebte und uns schrecklichste Lieder singen ließ, schlimmer noch: Immer wieder mussten wir einzeln vor der Klasse vorsingen, was für für Jungs kurz vor dem Stimmbruch kein Spaß ist und mir jede Freude am Singen für Jahre vergällte, vor jeder Musikstunde graute mir: Hoffentlich bin ich heute nicht dran.

Eine andere besonders humorlose Ausnahme war Herr B., Physik. Schon aufgrund des körperlichen Volumens eine imposante Erscheinung, verstand er es wie kein anderer, uns durch Angst zu disziplinieren, dabei konnte (oder wollte) er sich nicht einmal unsere Namen merken. Seine Spezialität war es, jemanden zur Lösung einer Aufgabe an die Tafel zu holen und ihn dann vor der Klasse fertig zu machen, wenn die Lösung nicht seinen Ansprüchen genügte. Als es eines Tages hieß, er sei überraschend gestorben, ging ein allgemeines Aufatmen durch die Schulflure, niemand, außer vielleicht seiner Frau, die ebenfalls am Heeper Gymnasium lehrte, trauerte ihm nach.

Ein ganz spezieller Vogel war Manfred S., Deutsch, Religion, Sport, von allen nur „Menne“ genannt. Er war nicht bösartig oder fies, dafür führte er gerne mal vor der Klasse einen Kopfstand aus und zeigte uns seine Kriegsverletzung am Bein. Womöglich war im Feld nicht nur das Bein getroffen worden. Immerhin, in Deutsch ließ er uns „So zärtlich war Suleyken“ und Gedichte von Eugen Roth lesen, das sei ihm zugute gehalten. Außerdem deklamierte er gerne ein Gedicht, das ich bis heute auswendig kann, das geht so: »Lang genug geschienen habend / senkt die Sonne sich am Abend. / Sie hat vollendet ihren Lauf / drum hört sie auch zu scheinen auf.«

Zunehmendes Unbehagen bereiteten mir die Sportstunden. Das lag vor allem an den Mannschaftssportarten wie Fuß- und Basketball. Mir fehlte jeder Ehrgeiz, mich dafür anzustrengen, dass ein Ball in, über oder durch ein Netz flog, daher blieb ich beim Mannschaften wählen stets als Letzter oder Vorletzter übrig. Hinzu kam ein geringes, in Richtung Minderwertigkeitskomplexe tendierendes Selbstbewusstsein. Ich war ein sehr dünnes Kind, was ich mir seit frühester Kindheit anhören musste: „Du muss mehr essen, damit du mal was auf die Rippen bekommst“ oder „Beim Duschen musst du wohl hin- und herspringen, damit dich mal ein Wasserstrahl trifft.“ Während andere Jungs schon ein paar Muskeln aufzuweisen hatten, staken meine dürren Ärmchen und Beine aus Turnhemd und -hose. Schlimmer noch war Schwimmen, wo wir die meiste Zeit bibbernd auf der Fensterbank saßen und uns die vom Lehrer trocken dargebrachten Bewegungsabläufe zeigen ließen, die wir anschließend im Becken in die Praxis umzusetzen hatten.

Damit nicht genug: Da mein Bruder beim CVJM Volleyball spielte, schickten meine Eltern auch mich dorthin, „Das tut dir gut“, jeden Freitagabend. Ich hasste es, bekam kein Gefühl für den Ball und das Spiel, schaffte es daher nie, in eine Mannschaft aufgenommen zu werden. Irgendwann hatten meine Eltern ein Einsehen und erließen mir diese Pein.

Haustiere hatte ich auch: Mehrere Landschildkröten, die in den Siebzigern ohne Rücksicht auf den Artenschutz in Zoohandlungen für wenig Geld zu kaufen waren, Wasserschildkröten, Fische und einen Wellensittich, Jacob hieß der, ich liebte ihn sehr. Der wollte zwar nicht sprechen und ließ sich nicht anfassen, war aber sonst sehr zutraulich, kam auf Finger, Schultern und Kopf und wurde ziemlich alt. Mangels Zimmer mit Tageslicht, siehe oben, stand der Käfig anfangs auf dem Regal im Esszimmer, wo der Vogel einmal fast gestoben wäre, als mein Freund Uwe und ich unsere Dampfmaschinen auf dem Küchentisch laufen ließen. Uwes Maschine qualmte besonders stark, bald war das obere Drittel des Raumes in Rauch gehüllt, also die Sphäre, in der sich Jacobs Unterkunft befand. Erst als er lautlos von der Stange fiel, bemerkten wir sein Unwohlsein, brachten den Käfig schnell in das Wohnzimmer, wo sich das arme Tier nur langsam erholte.

Nachdem meine Oma ihrem „Alwis“ gefolgt war, bekam ich endlich ein eigenes Zimmer, zunächst das kleinere, ehemals großelterliches Schlafzimmer, weil mein Bruder als der Ältere von uns Anspruch auf das größere Zimmer erhob. Das bezog er allerdings nie, weil er kurz zuvor zur Bundeswehr nach Goslar eingezogen worden war, wo es ihm so gut gefiel, dass er dort blieb, daher bekam ich es in den Achtzigern zugeteilt. Jacob zog mit um in mein Zimmer, wo er sich frei bewegen konnte, weil der Käfig die meiste Zeit offen stand. Meistens hielt er sich dennoch im Käfig auf, vielleicht weil es dort Futter gab.

Ein eher dunkles Kapitel bezüglich häuslicher Tierhaltung waren die Frösche, die ich fing und mit nach Hause nahm, wenn wir am Wochenende in der Senne waren. Anfangs hielt ich sie in einer Kaffeedose aus durchsichtigem Kunststoff und ließ sie nach ein paar Tagen im Park frei (wo sie vermutlich nicht sehr lange überlebten), später richtete ich ihnen immerhin ein relativ komfortables Terrarium ein, wo ich sie täglich mit Regenwürmern aus dem Garten fütterte. Einmal nahm ich Froschleich aus einem Tümpel mit und ließ daraus zu Hause Kaulquappen schlüpfen. Auch die wurden später in den Ententeich im Park entlassen; es ist kaum anzunehmen, dass sie dort heimisch wurden und später Froschkonzerte gaben. Hierfür bitte ich die Natur ausdrücklich um Entschuldigung.

Über Froschkonzerte komme ich zum Thema Musik, bitte verzeihen Sie diese etwas holprige Überleitung. Im Kindergarten sangen wir regelmäßig, zum Beispiel „Meister Jakob, schläfst du noch“, das Lied von der Brücke zu Avignon, sogar auf Französisch, soweit ich mich erinnere, und ein Lied über einen Cowboy namens Bill, das ich nicht mehr auf die Reihe bekomme. In der Grundschule nahmen wir „Die Moldau“ von Smetana durch, die fand ich toll und hörte sie fortan täglich zu Hause von Schallplatte in unserer Musiktruhe, einem sperrigen Möbel, das in der Stube (so hieß das Wohnzimmer) stand und Radio und Plattenspieler beherbergte. In den Plattenteller konnte man eine Art intelligenten Dorn stecken, auf dessen oberes Ende ein Stapel von Singles gesteckt wurde. Sobald die aktuelle Platte auf dem Plattenteller zu Ende gespielt und der Tonarm wieder in die Ausgangslage gefahren war, gab der Dorn über eine geheimnisvolle Mechanik die nächste Single frei, die dann auf den Plattenteller über die zuvor abgespielte Platte fiel, anschließend senkte sich der Tonarm darauf und spielte sie ab, so lange, bis der obere Stapel abgespielt war, alles ganz automatisch.

Ich lernte auch selbst Instrumente zu spielen, zuerst Blockflöte, später Trompete im Posaunenchor des CVJM, wo mein Bruder bereits einige Zeit mitspielte.

Im Übrigen waren die Siebziger musikalisch geprägt von „Hitparade“ mit Dieter-Thomas Heck und „Disco“ mit Ilja Richter im Fernsehen; erwähnenswerte Interpreten waren neben anderen Boney M, die Bee Gees, Village People, Sailor (die ich persönlich ganz besonders toll fand, weshalb ich Karneval nur noch als Seemann – nein als George Kajanus, deren Sänger ging; vielleicht war ich sogar ein ganz kleines bisschen verliebt in ihn gewesen) und natürlich ABBA, die ich erstmals 1975 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson sah und spontan begeistert war.

Das erste Telefon bekamen wir übrigens erst gegen Ende der Siebziger, den bekannten grauen Einheitsapparat mit Wählscheibe der Bundespost, sogar mit zwei Anschlussdosen im Haus, eine in der Stube und eine in Omas Schlafzimmer, wobei ich im Nachhinein nicht mehr weiß, wozu meine Oma am Bett einen Telefonanschluss benötigte. Bei nicht fest in der Wand installierten Apparaten war außerdem eine zusätzliche Glocke im Hausflur fernmeldeamtlich vorgeschrieben, die einen Höllenlärm machte und Tote wecken konnte.

Eine weitere Eigenheit der Siebziger war der Badetag einmal in der Woche, zumeist samstags, das heute selbstverständliche tägliche Brausebad war unüblich. Die Badewanne wurde eingelassen, nacheinander wurde dann gebadet, üblicherweise ohne das Wasser zwischendurch zu wechseln. Wenn ich an der Reihe war, meistens als letzter, schwammen kleine weiße Flöckchen auf der Oberfläche. Eine Dusche wurde erst viel später in der Waschküche im Keller eingebaut, der wöchentliche Badetag hielt sich jedoch noch bis in die Achtziger.

Selbstverständlich fanden die Siebziger auch außerhalb von Bielefeld-Stieghorst statt, nur bekam ich davon als Kind nicht allzu viel mit, weil mich Politik nicht interessierte. Regiert wurden wir von Willy Brandt und später Helmut Schmidt, die SPD waren gewissermaßen die Guten, die CDU die Bösen, und die FDP, die sich noch F.D.P. schrieb, irgendwas dazwischen.

Silvester 1979 verbrachten wir vermutlich wie in den Jahren zuvor: Es gab Fondue zu essen, vielleicht durfte ich schon ein Glas Wein mittrinken, meine Eltern waren da wenig streng (wie sie überhaupt wenig streng waren, körperliche Züchtigungen kamen selten und in geringen Dosen vor. Nur einmal eskalierte es ein wenig, als meinem Vater die Hand ausrutschte, den genauen Grund weiß ich nicht mehr, ich glaube mein war Bruder schuld, aber schneller als ich, weshalb ich mich mit dem Kopf in der Musiktruhe wiederfand; vermutlich erschrak mein Vater mehr darüber als ich. Bleibende Schäden trug ich meines Wissens nicht davon, aber wer weiß, was ohne dieses Ereignis für mich anders gelaufen wäre in dieser Welt, wo der Flügelschlag eines Schmetterlings angeblich einen Wirbelsturm auf der anderen Seite der Erde auszulösen vermag). Nach dem Essen wurde irgendwas im Fernsehen geschaut, um Mitternacht gingen wir dann vor das Haus, wo wir unsere Knaller zündeten, die Erwachsenen tranken dazu Sekt. Die Achtziger begannen. Darüber demnächst mehr.

Foto der Woche: Dampf und Glück

Die Aktion „Foto der Woche“ von Aequitas et Veritas läuft bis zum 31. Dezember. Jede Woche zeigt man ein Foto und schreibt was dazu, etwa wann und wo man es gemacht hat, warum man es zeigt oder welche Gedanken man damit verknüpft. Da ich in dieser Woche nichts zeigenswertes fotografiert habe, zeige ich ein 37 Jahre altes.

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Meine Begeisterung für Eisenbahnen und Dampfloks entstand irgendwann in früher Kindheit und führte in die übliche Laufbahn – von Schiebezügen, deren Streckennetz das Muster der Teppichs im Wohnzimmer war, über die Lego-Eisenbahn, dann kam die erste Modellbahnplatte in HO, schließlich die LGB-Eisenbahn im elternhäuslichen Garten. Der größte schienengebundene Wunsch meiner Kindheit und Jugend war es, mal auf einer richtigen Dampflok zu stehen, als Heizer oder gar Lokführer. 

Der Verein Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth machte es möglich. Er betreibt bei Gütersloh, also nicht weit entfernt von Bielefeld, wo wir wohnten, eine Art Modelleisenbahn im Maßstab 1:1. Das heißt, es sind schon richtige Lokomotiven und Wagen, die in ihren früheren Leben mal dem Transport von Gütern und Personen dienten, nur lagen dort, wo sie heute fahren, früher keine Gleise, vielmehr wurden sie erst in den frühen Siebzigerjahren von Eisenbahnfreunden dort verlegt, um die alten Loks – teilweise von Schrottplätzen gerettet und anschließend aufgearbeitet – als Hobby weiter zu betreiben. Eine Art Gnadenhof für ausgemusterte Loks und Wagen, kann man so sagen.

Nach dem ersten Besuch der Dampfkleinbahn mit meinen Eltern, es muss so 1976 gewesen sein, wusste ich: Das ist es, das will ich auch, da will ich mitmachen! In einem Alter, da andere Jungs schon den Mädchen nachstellten, zum Fußball und in die Disko gingen, trat ich dem Verein bei. Bereits im Sommer 1983 stand ich zum ersten Mal als Heizer auf einer Lok, für mich ein wahnsinniges Gefühl von Glück und Stolz, das für Außenstehende, denen bei Eisenbahn vor allem Unpünktlichkeit, Verzögerungen im Betriebsablauf und umgekehrte Wagenreihung einfallen, vielleicht schwer nachzuvollziehen ist.

Hier nun das Foto von September 1983, es zeigt mich mit damals zeitgemäßer Frisur als Heizer der Lok Nr. 12 „Mecklenburg“, Baujahr 1934. Vielleicht ist mein Glücksgefühl nicht unmittelbar zu erkennen, aber seien Sie versichert: Ich war durch und durch erfüllt davon.

Aktives Mitglied bei einer Museumseisenbahn zu sein bedeutet indessen nicht nur, im Sommer auf dem Führerstand einer Lok zu stehen oder in Bahn-Uniform Löcher in Fahrkarten zu knipsen, sondern viel harte Arbeit und Dreck, auch im Winter, wenn es zu Hause bei der Modellbahn in der warmen Stube viel schöner ist. Der Eisenbahnfreund an sich ist eine besondere Spezies, also schon der „normale“, der in beiger Jacke mit Fototasche und ohne erkennbare Frisur am Bahndamm steht, Züge fotografiert und unter seinesgleichen klug daherredet; erst recht aber der aktive Museumseisenbahner. Wie bei anderen Vereinen auch kommen hier die verschiedensten Menschen zusammen: Arbeiter, Techniker, Büromenschen, Akademiker, Schüler, Studenten, Rentner; jeder kann sich einbringen, nicht jeder muss Eisenbahner, Schweißer oder Schlosser sein. Ich habe während meiner aktiven Zeit bei der Dampfkleinbahn Bekanntschaft mit vielen netten und interessanten Leuten gemacht, auch mit schwierigen; keine dieser Bekanntschaften möchte ich missen. Ich habe viel gelernt, über Technik, über Metallbearbeitung, und über Menschen.

Seit meinem Umzug nach Bonn bin ich nur noch sehr selten dort, wenn es hoch kommt einmal im Jahr, in manchen Jahren gar nicht, so wie in diesem. Aber dieses Jahr ist ohnehin anders. Deshalb kann die Bahn zurzeit auch nicht fahren, aber es gibt sie immer noch.

Lebewohl, geliebte Bahn!

Heute ging wieder ein Stück meiner Jugend von mir.

Als ich in kindlichem Alter zum ersten Mal diese großen Züge in einem Bielefelder Spielwarengeschäft ihre Runden drehen sah, wusste ich: So eine Eisenbahn will ich auch haben! Das war doch was anderes als die kleine HO-Bahn, an der mein Bruder im Keller bastelte. Diese Eisenbahn konnte man sogar im Garten aufbauen, die Schienen waren wetterfest, und ich konnte Papa damit eine Flasche Bier zuführen, wenn er in der Sonne auf der Liege lag. Leider waren nicht nur die Züge und Schienen groß, sondern auch ihr Preis, erst recht aus der finanziell sehr beschränkten Sicht eines Grundschülers. Also hieß es: sparen.

Im Sommer 1977 hatte ich endlich genug gespart und konnte mir den ersten Zug kaufen: eine kleine Dampflok, zwei Güterwagen und ein Schienenkreis. Hieraus wuchs im Laufe der Jahre eine große Anlage, die den unseren Garten erschloss, und ein beachtlicher Fahrzeugpark. Unzählige Stunden und viel Geld flossen in meine persönliche Kleinbahn-Gesellschaft. Keine dieser Stunden möchte ich missen, es war eine wunderbare Zeit, fernab vom „Ernst des Lebens“ in meiner selbst geschaffenen kleinen Welt zu versinken und einfach nur Eisenbahn zu spielen, mit Fahrplan und den üblichen Verzögerungen im Betriebsablauf, wenn sich mal wieder eine Lötstelle am Gleis gelöst oder des Gartens Flora der Strecke ermächtigt hatte.

Mitte der Neunziger ging es zu Ende mit der heimischen Eisenbahnromantik, ich zog aus meinem Elternhaus aus in die erste eigene Wohnung, später nach Bonn; hinzu kam eine Interessenverschiebung vom schienengebundenen in den eher zwischenmenschlichen Bereich (wobei ich immer noch ein großes Herz für die Eisenbahn habe). Meine Garten-Kleinbahn ereilte dasselbe Schicksal wie gut vierzig Jahre zuvor ihre Vorbilder: Sie wurde stillgelegt und abgebaut. Seitdem lagerten Loks, Wagen und Schienen auf dem Dachboden und im Keller, einer ungewissen Zukunft entgegen harrend.

Bis heute. Im Wissen, nie mehr Platz, Zeit und Lust zu haben, eine Anlage aufzubauen, habe ich mich schon vor längerem dazu entschieden, alles zu verkaufen. Heute Abend kam ein Modelleisenbahnhändler aus Köln und kaufte mir alles ab. Ein wenig tat es weh, als ich die Sachen aus dem Keller trug und sie in seinem Kofferraum verschwanden, aber doch viel weniger als befürchtet. Ich hoffe sehr, dass meine einst geliebten Loks und Wagen demnächst wieder Kindern Freude machen, so wie mir damals.

Hier ein paar Eindrücke aus schönen Zeiten:

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Nur von „Lok 1“, meiner ersten Lok von 1977, werde ich mich nicht trennen, die hat jetzt einen Ehrenplatz auf dem Schrank:

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Über einmalige Dinge und eine Stunde in Roisdorf

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Tom ruft in seinem Blog dazu auf, Geschichten zu erzählen über Dinge, die man wohl nur einmal erlebt. Da ich das für eine sehr schöne Idee halte, möchte auch ich mich daran beteiligen. So hatte ich mir vorgenommen, ein besonders schönes Erlebnis zu schildern, welches mir als junger Eisenbahnfreund widerfuhr. Leider kam etwas dazwischen, was auch mit Eisenbahn zu tun hat, nur nicht so freundlich.

Also begab es sich, dass am vergangenen Dienstag geschäftliche Gründe, welche nicht näher erläutert sein sollen, meinen Aufenthalt in Köln erforderten, und ich am frühen Abend mit einer angenehmen Müdigkeit in den Regionalexpress stieg, auf dass er mich zurück ins heimische Bonn bringe. Daraus wurde leider nichts, denn die Fahrt endete in Roisdorf (für Nichtrheinländer: man spricht es ‚Roosdorf‘, so wie das westfälische Soest ‚Soost‘ ausgesprochen wird und nicht etwa ‚Söst‘; Oelde spricht man hingegen wie man es schreibt, man muss nicht alles verstehen) mit der Ansage, die Weiterfahrt verzögere sich um unbestimmte Zeit wegen einer Bombendrohung im Bonner Hauptbahnhof. Panik ergriff die Reisenden, bald verließen sie den Zug und liefen mit gezückten Smartphones den Bahnsteig auf und ab.

Aussteigen? Ich dachte nicht daran und widmete mich in einem inzwischen fast leeren Zug meinem Buch, welches ich für solche und ähnliche Anlässe stets in der Tasche habe. Leider erwies sich dieses Nichtdrandenken schon nach kurzer Zeit als Trugschluss, denn eine weitere Ansage bedeutete mir und den verbliebenen Fahrgäste, den Zug zu verlassen, da dieser in wenigen Minuten zurück nach Emmerich zu fahren beabsichtige. In Emmerich war ich mal vor etwa zwanzig Jahren, doch sind mir die zweifellos vorhandenen Schönheiten dieser Stadt nicht mehr erinnerlich, daher beschloss ich, der Aufforderung Folge zu leisten und stieg in die Regionalbahn nach Bonn-Mehlem, welche inzwischen auf dem Nebengleis eingetroffen und aus dem genannten Grunde ebenfalls an der Weiterfahrt gehindert war. Doch ach und weh, auch hier bald die Ansage, man beabsichtige ob der ungewissen Bedrohungslage die Rückfahrt nach Wuppertal, bitte beachten Sie die Ansagen auf dem Bahnsteig. So stand ich mit -zig anderen Menschen ratlos auf dem völlig ansagefreien Bahnsteig.

Der Regionalexpress rollte inzwischen gen Niederrhein, dafür traf nun die Mittelrheinbahn nach Mainz ein, welche ebenfalls an der Weiterfahrt gehindert war. Ein paar stiegen trotzdem ein, ich hingegen wähnte mich schlauer und verließ den Bahnhof in der Hoffnung auf ein Taxi oder eine Bushaltestelle. Das war unklug, manchmal trifft man einfach dumme Entscheidungen. Denn kaum befand ich mich auf dem Bahnhofsvorplatz, sah ich die Mittelrheinbahn in Richtung Bonn abfahren, die Sperrung war offenbar aufgehoben. Also zurück auf den Bahnsteig, wo noch immer die Regionalbahn stand, nach wie vor fest entschlossen, nach Wuppertal statt nach Bonn zu fahren. Nächster planmäßiger Zug nach Bonn eine halbe Stunde später. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal eine halbe Stunde auf dem Roisdorfer Bahnhof verbringen mussten, wenn nein, sei Ihnen gesagt, es gibt schlimmeres, zum Beispiel eine Zahnwurzelentzündung oder Reklame für ein Mittel gegen Scheidenpilz beziehungsweise -trockenheit, jedoch auch weitaus schöneres. Was macht der inzwischen gealterte Eisenbahnfreund, wenn er sich auf einem Bahnhof befindet? Fotos:

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Planmäßig rauschte exakt eine Stunde nach meiner unfreiwilligen Ankunft der nächste Regionalexpress nach Koblenz an uns vorbei; die Idee, uns unfreiwillig gestrandete mit einem unplanmäßigen Halt aufzunehmen, war der Oberzugleitung der Bahn offenbar nicht gekommen, wäre auch etwas zu viel verlangt, wo er gerade so schön pünktlich war. Mit etwa zehnminütiger Verspätung traf endlich die nächste Regionalbahn nach Bonn ein, unglücklicherweise nur halb so lang wie üblich, was eine gewisse Intimität im Inneren zur Folge hatte. Meine Obrigkeitshörigkeit außer acht lassend nahm ich widerrechtlich in der ersten Klasse Platz, wo noch ein Sitz frei war, wenige Minuten danach und eineinhalb Stunden später als geplant traf ich schließlich in Bonn ein.

Vielleicht und hoffentlich war das ja auch ein einmaliges Erlebnis. Lieber Tom, die Geschichte mit dem jungen Eisenbahnfreund reiche ich nach, versprochen! Und vielleicht schreibe ich später noch über eine weitere, garantiert einmalige Begebenheit, in welcher auch die Eisenbahn eine Rolle spielt, die sich jedoch eher ein mittelmäßig begabter Pornoproduzent ausgedacht haben könnte als dass man sie der Wirklichkeit zutraut.

Ach ja, liebe Bombenleger: Bevor ihr euch den ohnehin schon ziemlich kaputten Bonner Hauptbahnhof vornehmt, fangt doch erstmal mit dem Bahnhof von Roisdorf an. Am besten jagt ihr das völlig zweckfreie rote Bauwerk auf dem Bahnsteig in die Luft. Danke!

Spieltrieb

Seit frühester Kindheit interessiere ich mich für die Eisenbahn. Den Ursprung dafür vermute ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits, die in einem ehemaligen Bahnwärterhaus an einem Bahnübergang in der Nähe von Göttingen wohnten. Zwar fuhren schon damals nur noch wenige Züge dort, die Strecke wurde schließlich 1980 stillgelegt, aber diese wenigen Züge reichten aus, um mich zu infizieren: Wenn sich die Schranken bimmelnd senkten, ließ ich alles stehen und liegen und eilte vor das Haus in der Hoffnung, eine Dampflok zu sehen, die es in den Siebzigern noch in der freien Wildbahn gab, die sich aber nur noch höchst selten blicken ließen.

Ich hatte diverse Spielzeugzüge zum schieben, mit denen ich das nahezu unendliche Streckennetz auf dem Teppichmuster im Wohnzimmer abfuhr, eine Lego-Eisenbahn, später eine kleine Fleischmann-H0-Platte, aus der im Laufe der Zeit eine ausgewachsene Anlage auf dem Dachboden meines Elternhauses wuchs, mit Fahrplan und Zugmeldeverfahren; wer Uwe und mich dort beim Eisenbahnspielen beobachtete oder auch nur zuhörte, musste uns für leicht bekloppt halten, ohne Frage zu recht.

Der größte Wunsch meiner Kindheit war eine LGB-Eisenbahn in unserem Garten. Diesen erfüllte ich mir 1977 mit einer Startpackung, bestehend aus Lok, zwei Güterwagen und Schienenkreis. Hieraus entstand im Laufe der Jahre die erträumte Gartenbahn, die unseren Reihenhausgarten erschloss, mit einem großen Fahrzeugpark. Wie schön waren die Sommerabende, wenn ich den Lichtern des Schienenbusses folgte, zwei rote Schlusslichter entfernten sich neben dem Gartenweg, verschwanden kurz im Gebüsch, dann kamen auf der anderen Seite des Rasens drei weiße Lichter auf mich zugebrummt, der Zug durcheilte den kleinen Bahnhof zu meinen Füßen, dann wieder die Schlusslichter, stundenlang, wunderschön, unwiederbringlich.

Mitte der Neunziger führten Zeitmangel – ich stand inzwischen im Berufsleben, und das nicht zu knapp -, mein Auszug aus dem elterlichen Haus in meine erste eigene Wohnung und eine akute Interessenverschiebung dazu, dass meine Garten-Kleinbahn das Schicksal ihrer großen Vorbilder ereilte: sie wurde stillgelegt und abgebaut. Ein Teil der Gleise und einige Fahrzeuge wurden verkauft, der Rest liegt im Keller und harrt einer ungewissen Zukunft entgegen. So richtig trennen kann ich mich noch nicht davon, obwohl klar ist, dass ich nie wieder eine Anlage aufbauen werde. Aber man soll ja nie nie sagen…

Der zweite große schienengebundene Wunsch meiner Kindheit und Jugend war es, auf einer richtigen Dampflok zu stehen, als Heizer oder gar Lokführer. Auch den konnte ich mir erfüllen: Bei Gütersloh betreibt seit 1973 der Verein „Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth“ eine kleine Museumseisenbahn, also mehr eine LGB-Bahn im Maßstab eins zu eins als eine richtige Bahnstrecke, denn die Dampfkleinbahn fährt auch mehr oder weniger im Kreis auf einem überschaubaren Gelände, und die Loks und Wagen sehen so ähnlich aus wie die von LGB, nur eben in groß. Nach dem ersten Besuch dort mit meinen Eltern, es muss so 1976 gewesen sein, wusste ich: Das ist es, das will ich auch, da will ich mitmachen! Mit sechzehn, also in einem Alter, da andere Jungs schon den Mädchen nachstellten, trat ich dem Verein bei, und fortan verbrachte ich so ziemlich jedes Wochenende dort, konnte es Sonntagabends, wenn ich nach Hause fuhr, kaum abwarten, dass es endlich wieder Samstag wird und ich mich in diese eigene kleine Welt begeben konnte, wo Samstags an Schienen und Fahrzeugen herum geschraubt und Sonntags ein modellbahnmäßiger Fahrbetrieb aufgezogen wird. Bereits im Sommer 1983 stand ich zum ersten Mal als Heizer auf einer Lok, damals ein wahnsinniges Glücksgefühl, das für außenstehende, die sich nicht so sehr für die Eisenbahn erwärmen können, wohl schwer nachzuvollziehen ist. Einige Jahre später erwarb ich dann auch die Berechtigung zum Führen einer Dampflok, natürlich nur vereinsintern auf unserer Kleinbahn, aber immerhin, es ließ meinen Kleineisenbahnerstolz nochmals ein ganzes Stück wachsen.

Dabei war es nicht immer einfach. Aktives Mitglied bei einer Museumseisenbahn zu sein bedeutet eben nicht nur, im Sommer auf dem Führerstand einer Lok zu stehen oder in gestriegelter Uniform Löcher in Fahrkarten zu knipsen, sondern viel harte Arbeit und Dreck, auch im Winter, wenn es zu Hause bei der Modellbahn in der warmen Stube viel schöner ist. Und man muss sich, um der Sache willen, mit Leuten arrangieren, mit denen man außerhalb dieses Hobbys nichts zu tun hätte und teilweise wohl auch nicht haben will. Der Eisenbahnfreund an sich ist schon eine besondere Spezies, also schon der „normale“, der mit Fototasche und ohne erkennbare Frisur am Bahndamm steht, Züge fotografiert und unter seinesgleichen klug daherredet; erst recht aber der aktive Museumseisenbahner.

Was bewegt einen Menschen dazu, einen Großteil seiner Freizeit damit zu verbringen, Schienen zu verlegen, Lokomotiven auseinander zu bauen, Teile zu entrosten und neu anzufertigen, das ganze wieder zu einer Lokomotive zusammenzubauen, um damit Wochenendausflügler um eine Gaststätte herum zu kutschieren? Woher kommt die Motivation, am Freitagabend anzureisen, die Nächte in einem muffigen Schlaf- und Schnarchsaal mit zwölf Betten zu verbringen, samstags in der Werkstatt zu stehen, Sonntag früh um sechs aufzustehen, die Lok anzuheizen, auf der man sich den ganzen Tag aufhält, bis man sie abends in den Schuppen fahren kann und todmüde nach Hause fährt, einer neuen Arbeitswoche entgegen? Ich versuche mal, es zu beantworten: Die Ferne zum Alltag, das Gemeinschaftsgefühl, an einer gemeinsamen Sache zu arbeiten, die Freude am Ergebnis, wenn die Lok nach unzähligen Arbeitsstunden, frisch lackiert, wieder fährt, die Anerkennung der Besucher, die erstaunten Blicke der Kinder, und die Flasche Bier am Abend.

Wie bei anderen Vereinen auch kommen hier die verschiedensten Menschen zusammen, die vor allem eines verbindet: das Interesse an einer gemeinsamen Sache. Arbeiter, Techniker, Büromenschen, Akademiker, Schüler, Studenten, Rentner, jeder kann sich einbringen, nicht jeder muss Eisenbahner, Schweißer oder Schlosser sein. Natürlich gibt es auch hier sympathische, im weitesten Sinne normale, auf der anderen Seite aber auch eher schwierige Menschen, die glauben, sich profilieren zu müssen, weil sie es außerhalb des Schienenkreises vielleicht nicht können. Ich habe während meiner aktiven Zeit bei der Dampfkleinbahn Bekanntschaft mit vielen netten und interessanten Menschen gemacht, auch mit schwierigen, aber keine dieser Bekanntschaften möchte ich missen. Ich habe viel gelernt, über Technik, über Metallbearbeitung, und über Menschen.

Auch hier waren es mehrere Faktoren, die zu einem Rückgang meiner Aktivitäten gegen Null geführt haben: die nachlassende Bereitschaft, mich nach einer langen Arbeitswoche den oben beschriebenen Unbequemlichkeiten auszusetzen, die generelle Interessenverschiebung, welcher schon die Gartenbahn zum Opfer fiel; ausschlaggebend war jedoch auch hier die räumliche Entfernung durch meinen Wegzug nach Bonn. Ganz selten, vielleicht noch ein- bis zweimal im Jahr, lasse ich mich dort blicken, es ist dann immer wieder schön und macht Spaß, der Geruch von Kohle und Öl, das Zischen von Dampf, und das Wiedersehen mit den Leuten; ein bisschen ist es auch ein Ausflug zurück in meine Jugendzeit.

Gestern war ich endlich nach längerer Zeit mal wieder dort, es war ein sehr schöner Tag. Hier ein paar Eindrücke:

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