Die Siebziger – Kindheit im Glück

Vorwort

Die Achtzigerjahre erfreuen sich größter Beliebtheit: Radiosender spielen bevorzugt die Hits aus dieser Zeit, außerhalb von Seuchenzeiten kann man an jedem Wochenende irgendwo auf eine Achtziger-Party gehen, und immer wieder können wir uns im Fernsehen Dokumentationen über die „wilden Achtziger“ anschauen, die auch oft genauso heißen, diese zeitweise etwas langatmigen Sendungen, in denen Ausschnitte aus Musikvideos, Straßenszenen und Modeerscheinungen aus dieser Zeit gezeigt werden, die dann am Bildrand eingeblendete, mehr oder weniger bekannte, deutlich in die Jahre gekommene Personen mehr oder weniger witzig kommentieren. (Vor einiger Zeit kommentierte dort gar Wolfgang Bosbach, ohne den früher keine Talkshow stattfinden konnte.)

Warum ausgerechnet die Achtziger? Vielleicht, weil die Programmverantwortlichen diese Zeit besonders intensiv empfunden haben, da sie ihre eigene Jugend darin erlebten. Als in den späten Sechzigern auf diese Welt Gebetener kann ich das bestens nachvollziehen, auch ich würde jederzeit die Achtziger als mein Jahrzehnt bezeichnen, wenn man mich danach fragte. Daher habe ich beschlossen, die für mich wichtigsten Ereignisse, Erlebnisse und Empfindungen aus dieser Zeit hier niederzuschreiben.

„Moment“, mögen Sie vielleicht fragen, „wieso Achtziger? In der Überschrift steht Siebziger.“ Sie haben recht, etwas Geduld bitte: Wenn ich schon in Erinnerungen krame, dann kann ich gleich auch noch was über die Siebziger schreiben, ebenso die Neunziger, die Zweitausender (oder „Nuller“, wenn Ihnen das lieber ist, ich persönlich mag den Begriff nicht so), die Zehner und, warum nicht auch schon, die Zwanziger, auch wenn die gerade erst begonnen haben, aber bereits jetzt reichlich Stoff liefern, wenngleich wenig erfreulichen. Als großer Freund des Grundsatzes „Immer eins nach dem anderen“ beginne ich also mit den Siebzigerjahren; die anderen Jahrzehnte folgen danach in chronologischer Reihenfolge.

Die Siebzigerjahre

Meine früheste Erinnerung überhaupt ist die an einen kleinen Koffer aus Pappe, in den ich einige Stofftiere, Matchbox-Autos und weitere Spielsachen packte, denn wir fuhren mit dem Zug zum ersten Mal in den Urlaub nach Büsum an der Nordsee. Wir, das waren meine Eltern und mein sieben Jahre älterer Bruder Michael. In Büsum wohnten wir in einer aus heutiger Sicht sehr einfachen Pension in der Westerstraße, weiteres darüber schrieb ich bereits vor längerer Zeit hier. Doch es gefiel uns dort, deshalb blieb es für die nächsten Jahre unser Sommerurlaubsziel, in den Siebzigern waren wir noch nicht sehr anspruchsvoll.

Weitere Erinnerungen an Büsum in den Siebzigern: Oma und Opa Severin, ein altes Ehepaar, das in einem noch älteren flachen Ziegelhaus gegenüber der Pension wohnte und meinen Bruder und mich mit Tee und Gebäck versorgte, wenn wir sie besuchten. Später starb der Opa, und nach dem Tod der Oma wurde das schöne alte Haus abgerissen. – Mein erstes Softeis, am liebsten Waldmeister. – Meine erste Begegnung mit Pizza, die mein Vater, der sonst nicht gerade dazu neigte, Unbekanntes auszuprobieren, in einem Restaurant bestellte und mit der er sich wegen des harten Bodens sehr abmühte. Seine Antwort auf die Frage des Sohnes unserer Pensionswirtin am nächsten Tag, was das denn sei, Pizza: „Eine Sperrholzplatte mit Tomaten drauf.“ – Warmer Milchreis mit Zimt, den wir uns Mittags aus der Bude am Hafen holten und im Strandkorb aßen. – Deiche mit Schafen und ihren Hinterlassenschaften darauf. – Kohlfelder in der Umgebung. – Mein Drachen mit dem zehn Meter langen roten Schweif. – Krabbenkutter im Hafen. – Die viel zu kalte Nordsee mit Krebsen, Quallen und anderem Getier darin, die Eiswasserdusche danach.

Zweites Sommerurlaubsziel wurde ein paar Jahre später Martinszell im Allgäu, das wir fortan im jährlichen Wechsel mit Büsum besuchten. Auch darüber ist bereits alles Wesentliche geschrieben. Hinzufügen sind noch: Der Niedersonthofener See in der Nähe, den wir an warmen Tagen aufsuchten und der mir, ähnlich wie die Nordsee, zum Baden viel zu kalt war. (Meine Eltern konnten Niedersonthofen übrigens nicht aussprechen, sie sagten stets „Niedersandhofen“, warum auch immer. Das galt auch für die nicht weit entfernte Stadt Sonthofen.) – Der Widdumer Weiher, ein kleiner mit Seerosen bedeckter See in der Nähe, wo ich zum ersten Mal Frösche sah, die waren gar nicht grün, sondern braun, und wo wir in heftigem Regen genauso nass wurden, als wären wir in den Weiher gesprungen, bis uns unser freundlicher Bauer und Pensionswirt mit dem Auto abholte. – Das Werdensteiner Moos, dessen Wiesen und Wäldchen man auf dem Weg in das Dorf Eckarts durchwanderte – Ausflüge ins nahe Immenstadt, wo ich zum ersten Mal mit einem Sessellift auf einen Berg fuhr. Das war toll, dieses fast lautlose Schweben über Wiesen, Felsen, Bäche und hellbraune, glockenbehängte Kühe hinweg. Nur das Ein- und Aussteigen in das beziehungsweise aus dem fahrenden Schwebemöbel an den Endstationen war etwas aufregend. – Spezi mit Eis und Zitronenscheibe, das ich ausschließlich im Allgäu trank. Später, in den Achtzigern, auch bayrisches Doppelbock-Bier.

Mit vier Jahren kam ich in den Kindergarten. Anfangs fremdelte ich ein wenig, freundete mich aber bald sowohl mit der Situation als auch anderen Kindern an, was gegenseitige Besuche und Einladungen zu Kindergeburtstagen mit Topfschlagen und Eierlaufen nach sich zog. Später schwatzte ich der Leitung eine historische Eisenbahnerlaterne ab, die nur sinnlos in einer Ecke herumstand und nie leuchtete. Ich weiß gar nicht, wo die heute abgeblieben ist. Mittags war schon Feierabend, dann holte mich mein Opa ab.

Opa und Oma väterlicherseits wohnten oben in unserem Reihenhaus in Bielefeld-Stieghorst, wobei „wohnen“ bedeutete: Sie bewohnten ein kombiniertes Wohn-/Koch-/Esszimmer und ein kleineres Schlafzimmer mit einem riesigen Ehebett. Vom Architekten waren die beiden Räume wohl als Kinderzimmer geplant gewesen. Da sie die Großeltern beherbergten, schliefen mein Bruder und ich in einem für uns hergerichteten Kellerraum in Doppelstockbetten (ich oben), in dem wir uns außerhalb der üblichen Nachtzeiten mangels Tageslicht nur selten aufhielten, vielmehr fand das Leben, wenn nicht draußen, überwiegend im Esszimmer statt, das durch eine Glaswand von der Küche abgetrennt war, oder im Wohnzimmer, wo ich mich auf dem Teppich stundenlang mit Lego und Playmobil beschäftigen konnte. Abends waren wir oft zum Fernsehen oben bei Oma und Opa; Oma bot uns Butterbrote „mit guter Butter“ an, die wir, da wir schon gegessen hatten, ablehnten, woraufhin Oma eingeschnappt war („Dann bekommst du auch nix zu Weihnachten“), Opa saß schweigend in seinem Sessel und rauchte Handelsgold-Zigarren.

Der Fernseher, in den ersten Jahren schwarz-weiß, kannte nur drei Programme, wobei das Dritte meistens von äußerst verschneiter Wiedergabequalität war. Auch Fernbedienungen waren nicht gebräuchlich. Dafür war der Apparat einfach zu bedienen: an-aus, laut-leise, Programmauswahl, hell-dunkel, Kontrasteinstellung. Nach dem Einschalten musste man ein paar Minuten warten, bis Bildschirm und Ton langsam erwachten, schon lief das Ding. (Nicht wie heute, wo in einer App und auf mindestens drei Fernbedienungen diverse Knöpfe in bestimmter Reihenfolge zu drücken sind, bis wenigstens ein rätselhaftes Auswahlmenü angezeigt wird.) Später bekamen wir Farbfernseher, immer noch große schwere Kästen, jetzt auf einem separaten Standfuß, immerhin schon mit Fernbedienung, die beim Betätigen einen eigentümlichen, hochfrequenten Ton erzeugte. Wir schauten samstags nach dem Baden „Am laufenden Band“ mit Rudi Carell, außerdem, an anderen Tagen, „Was bin ich“, „Väter der Klamotte“, „Schweinchen Dick“ und einiges anderes.

Meine Großmutter Grete wirkte oft etwas schlechtlaunig und maulte ihren Alois (klang wie „Alwis“) an. Der verließ dann gerne das Haus, machte mit mir lange Spaziergänge, in den nahen Park auf den Spielplatz und zum Enten Füttern, durch die Felder, wo er mir die verschiedenen Getreidesorten erklärte, und in das Ehlentruper Wäldchen, wo in ehemaligen Bombentrichtern jede Menge entsorgter Hausrat des Kindes Interesse weckte. Oder wir schauten zu, wie ein weiterer Bauernhof abgerissen wurde, um Platz zu schaffen für neue Wohnhäuser. Stieghorst hat sich in der Zeit stark verändert, aus der ehedem ländlich geprägten Ansiedlung wurde durch Bebauung von Wiesen und Feldern eine wenig pittoreske Vorstadt, das Einkaufszentrum in brauner Waschbetonästhetik zeugt noch heute davon. Dennoch fühlten wir uns dort wohl.

Ich liebte meinen Opa sehr, niemals entfuhr ihm ein böses Wort, sosehr seine Grete auch grantelte. Umso mehr traf mich sein Tod nach kurzem Krankenhausaufenthalt, er wurde nicht mal siebzig. Meine Oma lebte einige Jahre länger, in denen sich ihre Laune nicht wesentlich besserte. Immerhin: Danach bekam ich endlich ein richtiges Zimmer mit Tageslicht.

Wir verbrachten viel Zeit draußen, zumeist ohne erwachsene Aufsicht und selbstverständlich ohne mobile Erreichbarkeit. Wir spielten auf der Rasenfläche vor dem Haus, aber auch im nahen Ehlentruper Wäldchen, von wo wir oft erst nach Stunden zurückkehrten, bevor es dunkel wurde. Auf dem Gehweg vor dem Haus lernte ich Fahrradfahren mit dem Klapprad ohne Gangschaltung, und Rollschuhlaufen auf Rollen, die an einer längenverstellbaren Schiene mit Riemen unter die normalen Straßenschuhe geschnallt wurden. Im Winter, wenn Schnee lag, in den Siebzigern lag viel Schnee, bauten wir auf der Rasenfläche Schneemänner und Iglus, und wir gingen mit unseren Schlitten in den Park, wo es einen kleinen Hang gab, der schon nach kurzer Zeit eher braun als weiß war.

Mein anderes Großelternpaar, die Eltern meiner Mutter, wohnten in der Nähe von Göttingen am Rischenkrug, weshalb sie den Titel „Oma und Opa Rischenkrug“ trugen, wohingegen die anderen beiden anderen unbetitelt blieben; „Oma/Opa Obergeschoß“ (mit ß, da lange vor der Rechtschreibreform), darauf wäre niemand gekommen. Über den Rischenkrug habe ich im Übrigen hier bereits alles Wesentliche vermerkt.

Am Rischenkrug wurde meine Begeisterung für die Eisenbahn geboren, da das Haus meiner Großeltern direkt an einem Bahnübergang stand. Manchmal kam hier eine der letzten Dampflokomotiven in freier Wildbahn durch, deren dumpfes Heulen auch bei uns zu Hause ganz selten noch zu hören war, wenn eine die unbeschrankten Bahnübergänge bei Oldentrup passierte. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte meine Bahnbegeisterung mit dem Erwerb des ersten L.G.B.-Zuges, der fortan in unserem Garten seine Runden drehte. Jahrelang hatte ich mir eine L.G.B.-Bahn herbeigesehnt, lange darauf gespart. An dem Tag, als ich das erste Mal auf dem Teppich im Esszimmer das Gleisoval zusammengesteckt hatte, sich die Lok mit den beiden Wagen sanft in Bewegung setzte, da war ich wohl der glücklichste Junge zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge. – Auch darüber ist hier und da das meiste bereits aufgeschrieben.

Nicht nur Dampflokomotiven, auch Dampfmaschinen vermochten mich zu begeistern, die früher als normales Kinderspielzeug galten und als solches bei Quelle bestellbar waren. (Liebe Kinder, Quelle war so etwas ähnliches wie Amazon, lange bevor es das Internet gab. Stadt auf der Amazon-Seite suchte man im Quelle-Katalog, einem dicken Buch, das der Postbote zweimal jährlich brachte. Meine Mutter war sogar Quelle-Sammelbestellerin, das heißt sie nahm Bestellungen aus der Nachbarschaft entgegen und bestellte dann für alle; die Waren wurden ein paar Tage später in blauen Kartons geliefert. Kurz nach der Jahrtausendwende hatte Quelle den Kampf gegen den Onlinehandel endgültig verloren. Der Mitbewerber Neckermann hielt sich etwas länger, musste aber auch aufgeben. Nur der Otto-Versand hat bis heute überlebt; den dicken gedruckten Katalog gibt es allerdings auch hier schon lange nicht mehr.) Zum ersten Mal erlebte ich eine Dampfmaschine, genauer: Dampfwalze im Betrieb bei Arno T., dem Nachbarssohn, ein paar Jahre älter als ich. Sofort war ich fasziniert: Man füllte Wasser in den Kessel, legte Esbit-Trockenbrennstoff, der an Würfelzucker erinnerte, in den Brennschieber, zündete es an und schob den Brenner unter den Kessel. Dann verteilte man an verschiedenen Stellen ein paar Tropfen Öl und wartete. Nach ein paar Minuten war das Rauschen des siedenden Wassers zu hören, weitere Minuten später begann das Sicherheitsventil zu blasen, dann konnte es losgehen: Ein kleines Hebelchen umlegen, mit der Hand am Schwungrad drehen, dann schnurrte die Maschine los, Öl- und Wassertropfen um sich spritzend. Mit einem weiteren Hebel wurde das Zahnrad eingerastet, dann fuhr die Walze los, gelenkt über ein kleines Steuerrad am Führerhaus. So lange, bis das Esbit abgebrannt, längstens bis das Wasser im Kessel fast aufgebraucht war. Darauf musste man achten: Niemals Feuer unter dem Kessel, wenn im Schauglas kein Wasser mehr sichtbar war, das hätte die Maschine zerstört.

Ich selbst bekam eine Dampfmaschine zum Geburtstag, allerdings keine Walze, die über den Teppich fuhr, sondern eine stationäre Maschine, an die man über Treibriemen weitere Maschinchen anschließen konnte, wie Hammerwerk, Betonmischer, Dynamo und andere, es gab ein buntes Sortiment an Zubehör. Ein paar Jahre später kaufte ich Arno seine Dampfwalze ab, er hatte inzwischen das Interesse daran verloren.

Die Firma Wilesco und ihr Sortiment gibt es bis heute, allerdings bezweifle ich, dass Eltern ihren Kindern heute noch Dampfmaschinen kaufen und sie unbeaufsichtigt damit spielen lassen. Immerhin, ganz ungefährlich sind die Dinger mit offenem Feuer und heißen Flächen nicht, daher als Spielzeug für Kinder im Grundschulalter nur bedingt geeignet.

Mein Grundschulalter fiel in die Siebziger, die Schule lag gut einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, uns mit dem Auto dorthin zu bringen und mittags wieder abzuholen, stattdessen gingen wir zu Fuß, nur am ersten Schultag in (groß-)elterlicher Begleitung, danach zu dritt, Anke und Mechthild von nebenan und ich. Grundsätzlich war das auch aus Sicht heutiger Eltern unbedenklich, da keine verkehrsreichen Straßen zu überqueren waren, stattdessen führte der Weg durch den Park und die Engländersiedlung, wo die britischen Soldaten mit ihren Familien wohnten. Problematischer wurde es später, als wir wegen des geänderten Zugangs zum Schulgelände einen anderen Weg gehen mussten, auf dem uns die Schüler der Sonderschule begegneten. Die waren oft wenig freundlich gesinnt, einige hatten große Freude daran, uns Grundschüler regelmäßig anzurempeln, zu beschimpfen, manchmal auch zu schlagen und beklauen. Da sie zumeist etwas älter waren, hatten wir dem wenig entgegenzusetzen.

Ansonsten fühlte ich mich in der Grundschule ganz wohl. Das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen fiel mir nicht schwer, selbst die Mengenlehre verstand ich problemlos – im Gegensatz zu unseren Eltern, die regelmäßig daran verzweifelten. Sogar den Schulsport mochte ich noch einigermaßen, einschließlich der Bundesjugendspiele; der Hass darauf kam erst später auf. Was ich gar nicht mochte, war der Schwimmunterricht in der vierten Klasse, zu dem wir einmal wöchentlich mit einem Bus zum Hallenbad am Kesselbrink in der Innenstadt gefahren wurden. Als Nichtschwimmer fiel es mir sehr schwer, das Schwimmen zu erlernen, woran die Schwimmlehrerin Frau B., ein richtiger Wasserdrachen, wohl einen erheblichen Anteil hatte. Richtig gelernt habe ich es erst später am Gymnasium, und konnte endlich das Freischwimmer-Abzeichen erwerben, das ich stolz an meiner Badehose trug.

Auch die Rahmenbedingungen passten: Ich fand schnell Freunde, die Lehrer waren nett, in den Pausen spielten wir „Räuber und Gendarm“. Das Verhältnis zwischen Jungs und Mädchen wurde vorübergehend ein wenig distanziert, was aber ganz normal in dem Alter war. Dafür hatte ich bereits im ersten Schuljahr einen Schulhofschwarm, ein Junge aus der Vierten, der mich in gewisser Weise faszinierte, mit dem ich freilich kein Wort sprach.

Nach der Grundschule kam ich auf das Gymnasium in Heepen, das mit dem Bus zu erreichen war. Daran musste ich mich erst gewöhnen, der Schulbus morgens und mittags war gedrängt voll, man fand nur mit Glück einen Sitzplatz. Wenn er an der Haltestelle ankam und die Türen sich zischend öffneten, brach ein heftiges Drängen und Schubsen los. Zudem war er eine kleine Ewigkeit unterwegs, weil er einen Umweg über Hillegossen und Oldentrup fuhr. Das sollte ich nun in den nächsten neun Jahren jeden Tag ertragen?, fragte ich mich in den ersten Tagen. Ein paar Jahre später konnten wir den regulären Linienbus nehmen, nachdem dessen Fahrplan an die Schulzeiten angepasst worden war, der einigermaßen direkt nach Heepen fuhr und nicht so voll war wie der Schulbus. Erst ab der Oberstufe in den Achtzigern fuhren wir überwiegend mit dem Fahrrad, den Bus nahmen wir nur noch bei Regen.

Mit den täglichen Busfahrten entstand ein etwas skurriles Hobby: Busnummern sammeln. Also nicht die Linienbezeichnungen, sondern die Wagennummern, die bei den Bussen der Stadtwerke Bielefeld jeweils in den Ecken angebracht waren. Es entstand eine Art Wettbewerb, wer welchen Wagen schon gesehen und notiert hatte; besonders begehrt waren die alten Magirus und Büssing, von denen es nur noch wenige Exemplare gab. Aus der reinen Nummernjagd entstand mit der Zeit ein Interesse an Bussen generell, Hersteller, Typ, Baujahr, und ich begann, Omnibusmodelle zu sammeln. Die Sammlung besteht und wächst bis heute.

Wie schon auf der Grundschule kam ich auch auf dem Gymnasium gut zurecht, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Es gab bessere und fleißigere Schüler als mich, aber auch wesentlich schlechtere. Die Lehrerinnen und Lehrer waren, von Ausnahmen abgesehen, angenehm. Eine dieser Ausnahmen war Ferdinand K., Musiklehrer, der in einer eigenen Welt lebte und uns schrecklichste Lieder singen ließ, schlimmer noch: Immer wieder mussten wir einzeln vor der Klasse vorsingen, was für für Jungs kurz vor dem Stimmbruch kein Spaß ist und mir jede Freude am Singen für Jahre vergällte, vor jeder Musikstunde graute mir: Hoffentlich bin ich heute nicht dran.

Eine andere besonders humorlose Ausnahme war Herr B., Physik. Schon aufgrund des körperlichen Volumens eine imposante Erscheinung, verstand er es wie kein anderer, uns durch Angst zu disziplinieren, dabei konnte (oder wollte) er sich nicht einmal unsere Namen merken. Seine Spezialität war es, jemanden zur Lösung einer Aufgabe an die Tafel zu holen und ihn dann vor der Klasse fertig zu machen, wenn die Lösung nicht seinen Ansprüchen genügte. Als es eines Tages hieß, er sei überraschend gestorben, ging ein allgemeines Aufatmen durch die Schulflure, niemand, außer vielleicht seiner Frau, die ebenfalls am Heeper Gymnasium lehrte, trauerte ihm nach.

Ein ganz spezieller Vogel war Manfred S., Deutsch, Religion, Sport, von allen nur „Menne“ genannt. Er war nicht bösartig oder fies, dafür führte er gerne mal vor der Klasse einen Kopfstand aus und zeigte uns seine Kriegsverletzung am Bein. Womöglich war im Feld nicht nur das Bein getroffen worden. Immerhin, in Deutsch ließ er uns „So zärtlich war Suleyken“ und Gedichte von Eugen Roth lesen, das sei ihm zugute gehalten. Außerdem deklamierte er gerne ein Gedicht, das ich bis heute auswendig kann, das geht so: »Lang genug geschienen habend / senkt die Sonne sich am Abend. / Sie hat vollendet ihren Lauf / drum hört sie auch zu scheinen auf.«

Zunehmendes Unbehagen bereiteten mir die Sportstunden. Das lag vor allem an den Mannschaftssportarten wie Fuß- und Basketball. Mir fehlte jeder Ehrgeiz, mich dafür anzustrengen, dass ein Ball in, über oder durch ein Netz flog, daher blieb ich beim Mannschaften wählen stets als Letzter oder Vorletzter übrig. Hinzu kam ein geringes, in Richtung Minderwertigkeitskomplexe tendierendes Selbstbewusstsein. Ich war ein sehr dünnes Kind, was ich mir seit frühester Kindheit anhören musste: „Du muss mehr essen, damit du mal was auf die Rippen bekommst“ oder „Beim Duschen musst du wohl hin- und herspringen, damit dich mal ein Wasserstrahl trifft.“ Während andere Jungs schon ein paar Muskeln aufzuweisen hatten, staken meine dürren Ärmchen und Beine aus Turnhemd und -hose. Schlimmer noch war Schwimmen, wo wir die meiste Zeit bibbernd auf der Fensterbank saßen und uns die vom Lehrer trocken dargebrachten Bewegungsabläufe zeigen ließen, die wir anschließend im Becken in die Praxis umzusetzen hatten.

Damit nicht genug: Da mein Bruder beim CVJM Volleyball spielte, schickten meine Eltern auch mich dorthin, „Das tut dir gut“, jeden Freitagabend. Ich hasste es, bekam kein Gefühl für den Ball und das Spiel, schaffte es daher nie, in eine Mannschaft aufgenommen zu werden. Irgendwann hatten meine Eltern ein Einsehen und erließen mir diese Pein.

Haustiere hatte ich auch: Mehrere Landschildkröten, die in den Siebzigern ohne Rücksicht auf den Artenschutz in Zoohandlungen für wenig Geld zu kaufen waren, Wasserschildkröten, Fische und einen Wellensittich, Jacob hieß der, ich liebte ihn sehr. Der wollte zwar nicht sprechen und ließ sich nicht anfassen, war aber sonst sehr zutraulich, kam auf Finger, Schultern und Kopf und wurde ziemlich alt. Mangels Zimmer mit Tageslicht, siehe oben, stand der Käfig anfangs auf dem Regal im Esszimmer, wo der Vogel einmal fast gestoben wäre, als mein Freund Uwe und ich unsere Dampfmaschinen auf dem Küchentisch laufen ließen. Uwes Maschine qualmte besonders stark, bald war das obere Drittel des Raumes in Rauch gehüllt, also die Sphäre, in der sich Jacobs Unterkunft befand. Erst als er lautlos von der Stange fiel, bemerkten wir sein Unwohlsein, brachten den Käfig schnell in das Wohnzimmer, wo sich das arme Tier nur langsam erholte.

Nachdem meine Oma ihrem „Alwis“ gefolgt war, bekam ich endlich ein eigenes Zimmer, zunächst das kleinere, ehemals großelterliches Schlafzimmer, weil mein Bruder als der Ältere von uns Anspruch auf das größere Zimmer erhob. Das bezog er allerdings nie, weil er kurz zuvor zur Bundeswehr nach Goslar eingezogen worden war, wo es ihm so gut gefiel, dass er dort blieb, daher bekam ich es in den Achtzigern zugeteilt. Jacob zog mit um in mein Zimmer, wo er sich frei bewegen konnte, weil der Käfig die meiste Zeit offen stand. Meistens hielt er sich dennoch im Käfig auf, vielleicht weil es dort Futter gab.

Ein eher dunkles Kapitel bezüglich häuslicher Tierhaltung waren die Frösche, die ich fing und mit nach Hause nahm, wenn wir am Wochenende in der Senne waren. Anfangs hielt ich sie in einer Kaffeedose aus durchsichtigem Kunststoff und ließ sie nach ein paar Tagen im Park frei (wo sie vermutlich nicht sehr lange überlebten), später richtete ich ihnen immerhin ein relativ komfortables Terrarium ein, wo ich sie täglich mit Regenwürmern aus dem Garten fütterte. Einmal nahm ich Froschleich aus einem Tümpel mit und ließ daraus zu Hause Kaulquappen schlüpfen. Auch die wurden später in den Ententeich im Park entlassen; es ist kaum anzunehmen, dass sie dort heimisch wurden und später Froschkonzerte gaben. Hierfür bitte ich die Natur ausdrücklich um Entschuldigung.

Über Froschkonzerte komme ich zum Thema Musik, bitte verzeihen Sie diese etwas holprige Überleitung. Im Kindergarten sangen wir regelmäßig, zum Beispiel „Meister Jakob, schläfst du noch“, das Lied von der Brücke zu Avignon, sogar auf Französisch, soweit ich mich erinnere, und ein Lied über einen Cowboy namens Bill, das ich nicht mehr auf die Reihe bekomme. In der Grundschule nahmen wir „Die Moldau“ von Smetana durch, die fand ich toll und hörte sie fortan täglich zu Hause von Schallplatte in unserer Musiktruhe, einem sperrigen Möbel, das in der Stube (so hieß das Wohnzimmer) stand und Radio und Plattenspieler beherbergte. In den Plattenteller konnte man eine Art intelligenten Dorn stecken, auf dessen oberes Ende ein Stapel von Singles gesteckt wurde. Sobald die aktuelle Platte auf dem Plattenteller zu Ende gespielt und der Tonarm wieder in die Ausgangslage gefahren war, gab der Dorn über eine geheimnisvolle Mechanik die nächste Single frei, die dann auf den Plattenteller über die zuvor abgespielte Platte fiel, anschließend senkte sich der Tonarm darauf und spielte sie ab, so lange, bis der obere Stapel abgespielt war, alles ganz automatisch.

Ich lernte auch selbst Instrumente zu spielen, zuerst Blockflöte, später Trompete im Posaunenchor des CVJM, wo mein Bruder bereits einige Zeit mitspielte.

Im Übrigen waren die Siebziger musikalisch geprägt von „Hitparade“ mit Dieter-Thomas Heck und „Disco“ mit Ilja Richter im Fernsehen; erwähnenswerte Interpreten waren neben anderen Boney M, die Bee Gees, Village People, Sailor (die ich persönlich ganz besonders toll fand, weshalb ich Karneval nur noch als Seemann – nein als George Kajanus, deren Sänger ging; vielleicht war ich sogar ein ganz kleines bisschen verliebt in ihn gewesen) und natürlich ABBA, die ich erstmals 1975 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson sah und spontan begeistert war.

Das erste Telefon bekamen wir übrigens erst gegen Ende der Siebziger, den bekannten grauen Einheitsapparat mit Wählscheibe der Bundespost, sogar mit zwei Anschlussdosen im Haus, eine in der Stube und eine in Omas Schlafzimmer, wobei ich im Nachhinein nicht mehr weiß, wozu meine Oma am Bett einen Telefonanschluss benötigte. Bei nicht fest in der Wand installierten Apparaten war außerdem eine zusätzliche Glocke im Hausflur fernmeldeamtlich vorgeschrieben, die einen Höllenlärm machte und Tote wecken konnte.

Eine weitere Eigenheit der Siebziger war der Badetag einmal in der Woche, zumeist samstags, das heute selbstverständliche tägliche Brausebad war unüblich. Die Badewanne wurde eingelassen, nacheinander wurde dann gebadet, üblicherweise ohne das Wasser zwischendurch zu wechseln. Wenn ich an der Reihe war, meistens als letzter, schwammen kleine weiße Flöckchen auf der Oberfläche. Eine Dusche wurde erst viel später in der Waschküche im Keller eingebaut, der wöchentliche Badetag hielt sich jedoch noch bis in die Achtziger.

Selbstverständlich fanden die Siebziger auch außerhalb von Bielefeld-Stieghorst statt, nur bekam ich davon als Kind nicht allzu viel mit, weil mich Politik nicht interessierte. Regiert wurden wir von Willy Brandt und später Helmut Schmidt, die SPD waren gewissermaßen die Guten, die CDU die Bösen, und die FDP, die sich noch F.D.P. schrieb, irgendwas dazwischen.

Silvester 1979 verbrachten wir vermutlich wie in den Jahren zuvor: Es gab Fondue zu essen, vielleicht durfte ich schon ein Glas Wein mittrinken, meine Eltern waren da wenig streng (wie sie überhaupt wenig streng waren, körperliche Züchtigungen kamen selten und in geringen Dosen vor. Nur einmal eskalierte es ein wenig, als meinem Vater die Hand ausrutschte, den genauen Grund weiß ich nicht mehr, ich glaube mein war Bruder schuld, aber schneller als ich, weshalb ich mich mit dem Kopf in der Musiktruhe wiederfand; vermutlich erschrak mein Vater mehr darüber als ich. Bleibende Schäden trug ich meines Wissens nicht davon, aber wer weiß, was ohne dieses Ereignis für mich anders gelaufen wäre in dieser Welt, wo der Flügelschlag eines Schmetterlings angeblich einen Wirbelsturm auf der anderen Seite der Erde auszulösen vermag). Nach dem Essen wurde irgendwas im Fernsehen geschaut, um Mitternacht gingen wir dann vor das Haus, wo wir unsere Knaller zündeten, die Erwachsenen tranken dazu Sekt. Die Achtziger begannen. Darüber demnächst mehr.

Woche 9: Kaum macht man es richtig, schon klappt es

Montag: Dienstreise mit der Bahn nach Ulm. Warum die Plätze in Vierergruppen mit Tisch so begehrt sind, erscheint mir ebenso rätselhaft wie die Systematik der Sitzplatznummerierung. Angeblich kann man dort besonders gut arbeiten. Ich war indessen vor allem damit beschäftigt, mit einem fremden Menschen um den Fußraum zu kämpfen.

Sollte es einen Aufruf zur Nennung von Kandidaten für die Hitliste der verbraucherunfreundlichsten Verpackungen geben, schlüge ich die Zahncreme Meridol vor. Die jungfräuliche Tube ist mit einem Stopfen versehen, dem ohne technische Hilfsmittel nicht beizukommen ist, jedenfalls nicht mit denen, die einem am späten Abend in einem Hotelzimmer zur Verfügung stehen. Wenig hilfreich ist der winzig kleine Hinweis „Sicherung mit Verschlusskappe abdrehen“ am Tubenfuß, da er es immer noch der Phantasie und Kreativität des Anwenders überlässt, wie genau er dabei vorgehen muss.

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Dienstag: Eher zufällig fand ich am Morgen die Lösung des Meridol-Rätsels. Auf der Außenseite der Verschlusskappe befindet sich eine Einbuchtung, die genau auf den gezahnten Sicherheitsstopfen der Tube passt, so dass er sich mühelos abdrehen lässt. Es sei denn, man hat zuvor im Zuge der Öffnungsversuche mit der Nagelschere die Zähne zerstört. Mike Krüger lässt grüßen.

Mittwoch: „Was glaubst du, wie du einst sterben wirst?“ Diese Frage las ich neulich irgendwo in des Netzes Weiten. Das ist natürlich schwer zu beantworten, da es tausende Möglichkeiten dafür gibt. Zudem gehe ich keiner besonders gefahrgeneigter Tätigkeit nach, auch mein Tabakkonsum geht stark zurück. Vielleicht lache ich mich ja irgendwann tot, etwa über Hinweise im ICE wie den, der die Reisenden wissen lässt, Bahncard-Inhaber seien in allen IC und ICE CO2-frei unterwegs. Also nur Vollbezahler dürfen ungehemmt ausatmen, oder wie? Das wäre jedenfalls nicht die schlechteste Todesursache.

Donnerstag: Ich bin mir der politischen Unkorrektheit und der Gefahr eines Fäkaliensturmes durchaus bewusst, aber ich kann es nicht ändern: Sobald ein sehr dicker Mensch vor mir hergeht, ertönen in meinem Kopf Kesselpauken wie in der Einleitung von „Also sprach Zaratustra“.

Freitag: Laut PSYCHOLOGIE HEUTE kann jedes beliebige Geräusch als Musik empfunden werden, wenn man es nur oft und lange genug hört. Das kann ich bestätigen. Das Schnarchen des Liebsten erscheint mir wie der zweite Satz von Bruckners neunter Sinfonie: nicht besonders schön, aber es gehört dazu. — Warum wird Silvio Berlusconi von den Medien eigentlich ständig als »Cavaliere« bezeichnet, also Ritter? Das ist so, als schmückten sie Alfred Gauland mit dem Titel »Schöngeist«.

Samstag: Laut einer Radiomeldung ist im Netz möglicherweise weniger Hass unterwegs als befürchtet. — Jedenfalls muss man Menschen schon sehr mögen, wenn man an einem Samstag bei IKEA unterwegs ist und von Gewaltphantasien verschont bleibt.

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(Finde den Fehler)

Sonntag: Für die Montage von IKEA-Möbeln gilt wir für IT-Anwendungen und Zahnpastatuben: Kaum macht man es richtig, schon klappt es.

Kein Dosengemüse könnte das bewirken

Aus gegebenem Anlass habe ich einen älteren Aufsatz behutsam aufgewärmt und erlaube mir, ihn zum nochmaligen Verzehr anzubieten.

***

„Nichts speichert Erinnerungen so zuverlässig, nachhaltig und unmittelbar wie Musik“, so las ich mal irgendwo. Mal abgesehen von meiner Abneigung gegen das Wort „nachhaltig“ aufgrund seiner inflationären Allgegenwart: Da ist was dran. Jeder kennt wohl Lieder, Songs, Stücke, bei denen sich sofort bestimmte Erinnerungen einstellen, auch an Dinge und Ereignisse, die viele Jahre zurück liegen. Bei mir sind dies beispielsweise:

Die Moldau von Friedrich Smetana. Noch heute gehört der Zyklus Mein Vaterland, dessen zweites Stück Die Moldau ist, zu meinen Favoriten klassischer Musik. Wir analysierten Die Moldau während der Grundschulzeit im Musikunterricht bis ins Kleinste; höre ich sie heute, habe ich noch immer die beiden Quellen, die Jagdszene und die Bauernhochzeit vor Augen.

Song For Guy von Elton John. Hierzu muss ich etwas weiter ausholen. Seit frühester Jugend empfinde ich Abscheu gegen meine Teilnahme an Sportarten, bei denen man siegen muss, insbesondere wenn dabei ein Ball in, durch oder über ein Netz zu bewegen ist. Dieser Widerwille hielt meine Eltern nicht davon ab, ihr Kind jeden Freitag zum Volleyballtraining des CVJM Bielefeld-Stieghorst zu jagen, auf dass es sich bewege. (Hat nix genützt, aus dem Kind wurde später ein Beamter, vielleicht aus Trotz.)

Schon am Freitagmorgen graute mir, die Unlust wuchs mit jeder Stunde und mit ihr die Hoffnung, sie könnten es heute mal vergessen und mir die ungeliebte Leibesertüchtigung ersparen, doch nichts da: Pünktlich um halb sechs wurde ich aus dem Haus gescheucht mit Turnbeutel und mürrischem Gesicht sowie den begleitenden Worten „Geh nur, das tut dir gut“. Tat es indes überhaupt nicht: In der ersten Stunde wurde Pritschen und Baggern geübt, immer hin und her, der Uhrzeiger an der Turnhallenwand schien festgeklemmt; die zweite Stunde verbrachten wir auf dem Feld: Aufschlag, eins-zwei-drei, Pass, Rotation. Hier versagte ich völlig, bekam die Bewegungsabläufe nicht koordiniert, häufig lag es an mir, wenn der Ball auf unserer Seite zu Boden schlug wie Fallobst im Spätsommer. Zudem fehlte mir jeder Ehrgeiz, an meinen Fertigkeiten etwas zu ändern.

Wenn dann jedoch der Schlusspfiff ertönte und der Trainer „Feierabend für die Jungschar“ rief, begann meine Versöhnung mit der Welt, jedenfalls für die nächsten sieben Tage. Zu Hause erwartete mich die Badewanne – in meiner Kindheit und unserer Familie war das tägliche Brausebad noch nicht üblich, stattdessen badete man, und das auch nicht täglich -, danach gab es Abendessen mit der Familie. Meine Mutter kaufte freitags auf dem Markt immer Rinderfilets, mit Speck ummantelt, die schmeckten nach durchlittener körperlicher wie seelischer Pein besonders gut. Spätestens dann war alles wieder gut, die Schmach des Schlachtfeldes vergessen und der Körper noch aufgeheizt von des Bades wohliger Wärme.

Ja – und immer dann, kurz bevor das Essen auf den Tisch kam, spielten sie im Radio dieses wunderbare Klavierstück, das mit nur wenig Text auskam, jeden Freitagabend, ich weiß nicht mehr warum, vermutlich war es die Erkennungsmelodie einer Radiosendung. Wann immer ich heute noch dieses Lied höre, sitze ich wieder am Küchentisch und lasse mir die wunderbaren Rinderfilets schmecken. Song for Guy – ein Lied für mich.

Verschiedene Songs der Achtziger, zum Beispiel Shout von Tears For Fears, I Want To Know What Love Is von Foreighner, The Power Of Love von Frankie Goes To Hollywood oder Freedom von Wham! versetzen mich zurück in die Zeit, als ich zum ersten Mal so richtig schrecklich und unglücklich verliebt war.

Ninteen Forever von Joe Jackson und Sewing The Seeds Of Love von Tears For Fears waren Songs aus der Zeit meines Coming Out (auch so ein Wort, für das ich eine angemessene deutsche Entsprechung vermisse, muss ich mal drüber nachdenken, aber nicht jetzt. Erinnern Sie mich gerne gelegentlich.)

Das Album Whats The Story – Morning Glory von Oasis (auch nach ihrer Auflösung für mich die größte Band aller Zeiten, und wer weiß, vielleicht vertragen sie sich eines Tages wieder) erinnert mich an die Zeit, als ich mit meinem ersten Freund zusammen war. Das hielt zwar nur eineinhalb Jahre, aber ich möchte die Zeit nicht missen. Gut, das letzte halbe Jahr vielleicht schon, aber das ist wieder ein anderes Thema.

Bittersweet Symphony von The Verve war unser Lied, als ich den Liebsten kennen lernte, der es auch heute, nach zwanzig Jahren, noch mit mir auszuhalten scheint, gar nicht bittersüß.

You Get What You Give von den New Radicals lässt mich zurück denken an die Zeit, als ich nach Bonn zog, wo ich noch immer lebe und nie wieder weg möchte.

Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen, allein die Songs in meiner iTunes-Liste, die mich an diverse glückliche und unglückliche Lieben erinnern, würden mehrere Seiten füllen. Wohl jeder könnte eine solche Liste seiner Songs anlegen, ob es nun um die Liebe geht oder andere mehr oder weniger erfreuliche Ereignisse. Ja, es stimmt schon: Musik ist ein sehr stabiler Erinnerungsspeicher. Besonders prägend sollen die Songs sein, die man zwischen sechzehn und dreiundzwanzig Jahren regelmäßig gehört hat, las ich mal. Für mich kann ich das bestätigen.

Und doch: Intensiver als Musik es vermag, tangieren mich Gerüche, wecken sie oft völlig überraschend und unvermittelt alte Erinnerungen.

Ich rieche die Ausdünstungen von Bahnschwellen, schon spiele ich als Kind wieder am Bahndamm bei meinen Großeltern in der Nähe von Göttingen. (Hier mischte sich noch Jauchegeruch vom nahen Bauernhof dazu, gleichwohl würde ich meine Kindheit als glücklich bezeichnen.) Ich rieche (und schmecke) Erbsen frisch aus der Schote vom Strauch, schon streife ich wieder durch Omas Gemüsegarten. Kein Dosengemüse könnte das bewirken.

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Das Aroma von Kuhdung versetzt mich zurück in die Sommerferien, die wir oft im Allgäu verbrachten. Die Duftkombination von Kuhfladen und frischem Heu gehört zum Allgäu wie salzige Seeluft zur Nordsee und Lavendelduft zur Provence.

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Der Geruch eines bestimmten Kunststoffs erinnert mich an glückliche Stunden, die ich spielend mit meiner LGB-Modelleisenbahn verbrachte; genau so rochen die Loks und Wagen, wenn ich sie neu aus der Packung nahm.

Begegne ich jemandem, der ein bestimmtes Parfüm aufgelegt hat, rieche ich sofort meinen damaligen Freund.

Der Geruch nach nassem Hund erinnert mich an das Haus der Schwiegereltern, als Ayka, der Labrador des Liebsten, noch lebte. (Trotzdem ist genau dieser Geruch einer der zahlreichen Gründe, aus denen ich keinen Hund im Haus haben möchte.)

Tulpenduft versetzt mich in die Frühlinge meiner Kindheit im Garten des Elternhauses, frisch gemähter Rasen in die Sommer ebendort.

Der Geruch der Braunkohlebriketts, die ich im Winter in unseren Ofen stecke, erinnert mich daran, als ich das erste Mal – ebenfalls im Winter – kurz nach der Wende in der DDR war.

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Auch diese Liste könnte ich weiter fortsetzen.

Im Gegensatz zu Musik sind Gerüche nicht konservier- oder aus dem Netz herunterladbar, was bei vielen Gerüchen eher ein Segen ist, deswegen kann ich Ihnen hier leider nicht mit Kostproben dienen. Allein das schon macht Gerüche zu etwas besonderem. Oder wie der Berliner sagt: Dufte, wa!

Let’s Dance – Zum Abschied von David Bowie

Lieber David Bowie,

die Nachricht Ihres Ablebens traf mich heute Morgen einigermaßen hart, obwohl ich mich nicht als ausgesprochenen Fan von Ihnen bezeichnen würde. Ich hörte nie bewusst eines Ihrer zahlreichen Alben; Ziggy Stardust und Major Tom kenne ich nur vom Hörensagen.

Und doch war Ihre Musik ein wichtiger Begleiter meiner Jugend, Ihre Hits aus den Achtzigern werden mir immer im Ohr bleiben, zumal viele davon bis heute regelmäßig im Radio gespielt werden: Let’s Dance, China Girl, Blue Jean, Cat People, Absolute Beginners. Daher bin ich zuversichtlich, Ihre Musik wird niemals sterben!

Mit Ihnen hat ein Mensch von ganz besonderer Ausstrahlung  diese Welt verlassen. Ein solcher war auch Freddy Mercury. Vielleicht machen Sie mit ihm ja bald mal wieder was zusammen, wie Under Pressure. Das wäre toll.

Ich glaube, ich bin doch ein Fan.

Was im August a u c h in der Zeitung stand

Griechenland, Ukraine, Flüchtlinge, Islamischer Staat – das sind die großen Themen, welche die Medien in diesen Wochen füllen. Doch wollen wir auch den eher unbedeutenden Ereignissen einen kleinen Teil unserer Aufmerksamkeit widmen. Hier eine unvollständige und keineswegs repräsentative Auswahl aus dem scheidenden Monat August.

***

Glaube und Videospiele – Die „Gamechurch“-Bewegung verbindet Spieltrieb und Spiritus, was weniger absurd ist, als es auf den ersten Blick erscheint: Videospiele und Religion passen aufgrund ihrer fiktionalen Grundlage perfekt zusammen. Die Spieler treffen sich wöchentlich im lippischen Lemgo und sprechen, während sie sich diversen Ego-Shootern widmen, über Glaube und Gott, „aber nur, wenn jemand Bock hat“, so der Gründer der deutschen Sektion; wie oft das der Fall ist und ob überhaupt, weiß der Himmel. Die Gamechurch-Idee kommt übrigens – wie kann es anders sein – aus Amerika.

Ebenfalls aus den USA kam folgende Meldung:

Beziehungs-Aus für Miss Piggy und Kermit – Der Frosch mit dem merkwürdigen Zackenkragen und die divenhafte Sau gaben ihre Trennung bekannt. Dennoch wollen sie weiter zusammen arbeiten.

Womit wir beim nächsten Thema sind.

Mehrheit geht gerne zur Arbeit – Nur jeder achte Arbeitnehmer ist laut einer Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung unzufrieden mit seinem Job – alle anderen gehen mehr oder weniger gerne zur Arbeit. Manche möglicherweise sogar montags.

Vielleicht auch deshalb, weil sie ihre Arbeit bei Musik verrichten dürfen:

Zu Helene Fischer unters OP-Messer – Forscher bewerten die musikalische Untermalung von Operationen als positiv, sowohl für die Operateure, auf die die Musik entspannend wirkt, als auch für die Operierten, deren Schmerz- und Angstempfinden mit Musikbegleitung abnimmt. Ob das auch bei Beschallung durch die Fischerin zutrifft, wage ich zu bezweifeln.

Wer arbeitet, ob gerne oder nicht, braucht ab und zu Urlaub.

Mehrheit der Deutschen gut erholt – Laut dem DAK-Urlaubsreport gab die Mehrheit in einer Befragung an, sich im Urlaub gut oder sehr gut erholt zu haben. 38 Prozent derjenigen, für die das nicht zutraf, nannten „nicht abschalten können“ als Grund, nur 13 Prozent „schlechtes Wetter“. Vielleicht sollten erstere einfach mal einen Blick in die Bedienungsanleitung ihres dienstlichen Mobiltelefons werfen.

Mobiltelefone und Kopien teurer Markenuhren werden in China hergestellt, und nicht nur das:

Chinesen kopieren Goldman Sachs – Rein zufällig wählte eine chinesische Bank, die mit der bekannten amerikanischen Investmentbank nichts zu tun hat, deren Namen. „Wir haben den Namen zufällig ausgewählt, es ist nicht absichtlich derselbe“, so eine Sprecherin. Kann ja passieren.

Nicht nur in China, auch in Spanien gibt es Zufälle:

Blutige Fiesta – Bislang kamen in diesem Jahr zehn Menschen bei Stiertreiben ums Leben, deutlich mehr als in den Vorjahren. Diese Zuname der Todesfälle sei „zufällig“, so ein Organisator. Wie viele Stiere für diesen Unfug ihr Leben lassen mussten, bleibt hingegen offen. Doch trotz Protesten von Tierschützern halten die Spanier an dieser fragwürdigen Tradition fest.

Nicht nur Stiere, auch ihre weiblichen Artgenossen leiden traditionell:

Alarmgeläut gegen die Kuhglocken – Die Kuhglockendebatte aus der Schweiz ist nun auch in Bayern angekommen. Tierschützer verlangen ein Verbot, da die Tiere unter dem permanenten Gebimmel leiden (wie ein Mensch unter der Dauerbeschallung durch Helene Fi… lassen wir das). Das ist natürlich „kompletter Schmarrn“, denn in den Glocken komme der Stolz der Almhirte zum Ausdruck, so Vorsitzende des Alpwirtschaftlichen Vereins im Allgäu: „Das ist Tradition im Allgäu und gehört dazu.“

Manchmal indes bewirken Proteste etwas:

Der runde Bauch ist zurück – Nachdem die zeitgemäße Verschlankung des rothaarigen Kobolds Pumuckl eine Protestwelle nach sich zog, darf er sich nun wieder eine kleine Plauze anfressen.

Es ist schon bemerkenswert, worüber sich Menschen erregen. Erregung in mehrfacher Hinsicht war auch der Auslöser folgender Meldung:

Jugendarrest für Sex im Erlebnisbad – Ein junges Paar (18 und 19) muss ins Jugendarrest, weil sie die Bezeichnung „Erlebnisgrotte“ in einem Augsburger Hallenbad wörtlich nahmen und dort ihren natürlichen Trieben freien Lauf ließen. Das finde ich reichlich übertrieben, andererseits: In Amerika wären sie dafür vermutlich hingerichtet worden. Oder Youporn-Stars, beides ist gleichermaßen möglich.

Alle Jahre wieder – Einen weiteren Grund dauerhafter, mir völlig unverständlicher Erregung beleuchtet folgende Meldung:

Alljährliche Plätzchen-Hysterie – In Kürze stehen wieder Dominosteine, Zimtsterne, Marzipanbrote und Lebkuchen in den Supermarktregalen; damit einhergehen wird die übliche Welle der Empörung und der Boykottaufrufe in den sozialen Hetzwerken. In Österreich soll sogar schon ein Lebkuchenständer in Brand gesetzt worden sein. Dass es heutzutage fast ganzjährig Erdbeeren und Spargel zu kaufen gibt, regt hingegen kaum jemanden auf.

Apropos soziale Hetzwerke:

Eine Milliarde bei Facebook – Erstmals haben eine Milliarde Menschen freiwillig das bekannte Datenmonster genutzt, vermeldet der Chef Zuckerberg stolz. Angesichts des Umgangs mit Schmähungen gegen Flüchtlinge gelingt es mir leider nicht, den Satz „Herzlichen Glückwunsch“ mit aufrichtiger Ehrlichkeit hervorzubringen. Das wird den weiter steigenden Nutzerzahlen nicht im Wege stehen.

Nessun Dorma

Vergangene Nacht träumte mir, ich stehe mit unserem Chor, den Kölner SPITZbuben, auf einer Bühne und wir schmettern unseren größten Hit, die Arie Nessun Dorma von Puccini aus der Oper Turandot. An meiner Seite standen meine Mit-Tenöre M, A und U. Einerseits ergriffen von der Schönheit des Stückes, anderseits aufgrund der Tatsache, dass sich das so niemals wiederholen wird, weil M und A den Chor schon lange verlassen haben, kamen mir noch auf der Bühne die Tränen, wenig später wachte ich mit feuchten Augen auf – das konnte jedoch auch andere Gründe haben. Auch jetzt, im Wachzustand des helllichten Tages, erfüllt es mich mit Wehmut.

Und so klang es. Schön, nicht?

(Übrigens suchen wir dringend neue Mitsänger, vor allem Tenöre.)

Über Hören und Riechen

Neulich schrieb der von mir sehr geschätzte @sechsdreinuller auf Twitter:
„Nichts speichert Erinnerungen so zuverlässig, nachhaltig und unmittelbar wie Musik.“
Da ist was dran, jeder kennt wohl Lieder, Songs, Stücke, bei denen sich sofort bestimmte Erinnerungen einstellen, auch an Dinge und Ereignisse, die viele Jahre zurück liegen. Bei mir sind dies beispielsweise:

,Die Moldau‘ von Friedrich Smetana. Noch heute gehört der Zyklus ,Mein Vaterland‘, dessen zweites Stück ,Die Moldau‘ ist, zu meinen Favoriten bei klassischer Musik. Wir haben ,Die Moldau‘ in der Grundschule im Musikunterricht damals bis ins kleinste analysiert; höre ich sie heute, sitze ich wieder in unserem Klassenraum und habe die beiden Quellen, die Jagdszene und die Bauernhochzeit vor Augen.

Verschiedene Songs der Achtziger, zum Beispiel ,Shout‘ von Tears For Fears, ,I Want To Know What Love Is‘ von Foreighner, ,The Power Of Love‘ von Frankie Goes To Hollywood oder ,Freedom‘ von Wham! versetzen mich immer wieder zurück in die Zeit, als ich zum ersten Mal so richtig schrecklich und unglücklich verliebt war.

,Ninteen Forever‘ von Joe Jackson und ,Sewing The Seeds Of Love‘ von Tears For Fears waren Songs aus der Zeit meines Coming Out.

Das Album ,Whats The Story – Morning Glory‘ von Oasis (ich erwähnte es schon des öfteren: für mich die größte Band aller Zeiten) erinnert mich an die Zeit, als ich mit meinem ersten Freund zusammen war.

,Bittersweet Symphony‘ von The Verve war unser Lied, als ich den Liebsten kennen lernte.

,You Get What You Give‘ von den New Radicals lässt mich zurück denken an die Zeit, als ich nach Bonn zog.

Diverse Songs, die Radio Nostalgi in Frankreich regelmäßig spielt, lassen sofort Urlaubsstimmung aufkommen, auch an einem gewöhnlichen misslaunigen Montagmorgen im verregneten Bonn.

Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen, allein die Songs in meiner iTunes-Liste, die mich an diverse unglückliche Lieben erinnern, würden mehrere Seiten füllen. Wohl jeder könnte eine solche Liste seiner Songs anlegen, ob es nun um die Liebe geht (hier sind bei mir die Erinnerungen am intensivsten) oder andere mehr oder weniger erfreuliche Ereignisse. Ja, Herr @sechsdreinuller hat recht, Musik ist ein sehr stabiler Erinnerungsspeicher.

Und doch muss ich ihm widersprechen, jedenfalls für mich, aber da empfindet wohl jeder Mensch anders: Noch intensiver als Musik es vermag, bringen mir Gerüche alte Erinnerungen sofort wieder zurück, oft völlig überraschend und unvermittelt.

Ich rieche die Ausdünstungen von Bahnschwellen, schon spiele ich als Kind wieder am Bahndamm bei meinen Großeltern in der Nähe von Göttingen. (Gut, hier mischte sich noch Jauchegeruch vom nahen Bauernhof dazu, gleichwohl würde ich meine Kindheit als glücklich bezeichnen.) Ich rieche (und schmecke) Erbsen frisch vom Strauch, schon streife ich wieder durch Omas Gemüsegarten. Das Aroma von Kuhdung versetzt mich zurück in die Sommerferien, die ich mit meinen Eltern und meinem Bruder oft im Allgäu verbrachte. (Die Duftkombination von Kuhfladen und frischem Heu gehört zum Allgäu wie salzige Seeluft zur Nordsee und Lavendelduft zur Provence.) Der Geruch eines bestimmten Kunststoffs erinnert mich an glückliche Stunden, die ich spielend mit meiner LGB-Modelleisenbahn verbrachte; genau so rochen die Loks und Wagen, wenn ich sie neu aus der Packung nahm. Begegne ich jemandem, der ein bestimmtes Parfüm aufgelegt hat, rieche ich sofort meinen damaligen Freund. Tulpenduft versetzt mich in die Frühlinge meiner Kindheit im Garten des Elternhauses, frisch gemähter Rasen in die Sommer ebendort.

Auch diese Liste könnte ich weiter fortsetzen. Im Gegensatz zu Musik sind Gerüche nicht konservier- oder aus dem Netz herunterladbar (bei vielen Gerüchen ist das ohnehin eher ein Segen), deswegen kann ich Ihnen hier leider nicht mit Kostproben dienen. Allein das schon macht Gerüche zu etwas besonderem. Oder wie der Berliner sagt: Dufte, wa!

Hirnradio

Ich entstamme eine musik-affinen Familie: Meine Mutter sang im Kirchenchor und in der Küche, mein Vater hörte gerne Oberkrainer und Egerländer Volksmusik, und mein Bruder spielte Trompete. So lag es nahe, dass auch ich von einer musikalischen Ader durchzogen werde. Meine früheste musikalische Erinnerung ist die Büsumer Wattenkapelle, die bei Ebbe mit Dschingderassabumm und einer Schar Touristen durch das Watt marschierte; ich war fasziniert, besonders von der großen Trommel, die genau einen Takt kannte, unabhängig vom gespielten Stück: bumm – bumm – bummbummbumm; bumm-bumm- … und so weiter.

Folglich wurde ich im zarten Grundschulalter genötigt, ein Musikinstrument zu erlernen, den Klassiker, Blockflöte, nichts, womit ich Eindruck machen oder größeren musikalischen Genuss erzeugen konnte, aber immerhin eine Grundlage. Später spielte ich ebenfalls Trompete und folgte ich meinem Bruder in den örtlichen Posaunenchor. Viel lieber hätte ich Kirchenorgel oder Schlagzeug gelernt, was jedoch aus Platz- (Orgel) und Nervengründen (Schlagzeug) nicht auf elterliche Gegenliebe stieß.

Wenn man von frühester Kindheit an mit Vaters Egerländer Heimatmusik aufwächst, hält man sie einige Jahre lang für normal, wobei ich nicht so weit gehen will zu schreiben, man mag sie; erst später merkt man dann, welches Grauen doch dieser Art Musik innewohnt, der Mensch entwickelt sich halt weiter, durch „Disco“, „Formel Eins“ und „Musikladen“ im Fernsehen sowie „Schlagerralley“ und „Mal Sandock‘s Hitparade“ im Radio. Die älteren von Ihnen werden sich erinnern: die Aufnahmetaste des Kassettenrekorders im Anschlag und lautes Fluchen, wenn der dämliche Moderator reinquatscht oder die Verkehrsdurchsage.

Doch es gab es neben Ernst Mosch einen zweiten Faktor, der geeignet war, meine Freude an der Musik zu trüben, vor allem am Singen. Dieser Faktor hieß Ferdinand K. und war Musiklehrer an unserem Gymnasium. Er ließ uns schrecklichste Lieder singen, das für sich wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, aber er ließ uns auch einzeln vorsingen, vor der Klasse, was für einen pubertierenden Schüler kurz vor oder im Stimmbruch nun wirklich kein Vergnügen ist; jedenfalls hatte ich vor jeder Musikstunde einen echten Horror, mindestens so schlimm wie vor den Sportstunden.

Dabei bestand rückblickend kein besonderer Grund dazu, denn ich kann ja singen, also konnte ich es damals vermutlich auch schon, traute mich nur nicht. Nun lassen es meine gesanglichen Qualitäten sicher nicht zu, dass ich als Solist auf einer Bühne stehe (was mich in den Neunzigern nicht davon abhielt, als Sänger einer Keller- und Hobbyband zu agieren, immerhin zwei Auftritte hatten wir mit unseren größten Hits „Don‘t You“ und „Does Your Mother Know“, bevor wir uns auflösten, der Erfolgsdruck war nicht mehr zu ertragen), aber für einen Chor reicht es. So singe ich seit 2005 mit nicht nachlassender Begeisterung bei den „Kölner SPITZbuben“, ich erwähnte es schon an anderer Stelle.

Auch der passive Musikkonsum ist weiterhin mein regelmäßiger Lebensbegleiter, wobei mein Musikgeschmack unter anderem Klassik (gerne: Bruckner, Brahms, Tschaikowsky, Smetana), die Radiohits der Achtziger (immer noch grandios: „True Faith“ von New Order), Britpop der Neunziger (beste Band aller Zeiten: Oasis) und mehr oder weniger aktuelle Musik umfasst.

Das Kapitel Musik wäre unvollständig ohne die Erwähnung meines Hirnradios. Das springt sofort an, sobald keine reale Musik zu hören ist, und ich kann wenig Einfluss auf die Programmauswahl nehmen; wenn es sich einmal auf ein Lied festgelegt hat, dann spielt es das stundenlang, mehrere tausend Strophen. Im günstigsten Fall ein Lied, das ich mag, meistens jedoch eins, das es morgens beim Rasieren im Radio aufgeschnappt hat, zum Beispiel Lady Gaga oder Jan Delay, was einen langen Arbeitstag durchaus zu trüben vermag.

Während ich diese Zeilen niederschreibe, spielt mein Hirnradio die 624. Strophe von Wolfgang Petrys „Wahnsinn“. Es ist die Hölle, Hölle, Hölle, Hölle.

Abgeschrieben: 80er

Hier noch eine Fundsache: Den nachfolgenden Text entdeckte ich beim Durchstöbern meiner E-Mail-Ablage. Leider kenne ich nicht den Verfasser und kann somit auch keine korrekte Quellenangabe machen, hole das jedoch gerne nach, wenn ihn mir jemand nennt. Die E-Mail stammt bereits aus dem Jahre 2001, jedoch hat der Text meines Erachtens an Aktualität noch nicht sehr viel eingebüßt.

***

Offen gestanden kotzt es mich an: dieses dumme Gerede der derzeitigen „Generation Z“, die 80er Jahre wären langweilig gewesen. Totaler Bockmist.

Hört genau zu, Ihr zungengepiercten Tekknohoppler mit Tattoos auf der linken Arschbacke: Ihr wart nicht dabei! Wir Mit-Dreissiger/-Vierziger haben sie live erlebt: die Geburt des Synthesizers und den wahren Soundtrack der 80er, der von Bands wie Depeche Mode, Cure und Yazoo geschrieben wurde.

Wir haben noch mit Midischleifen und Oszillographen gekämpft! Wir haben Euer Tekkno erfunden, bei uns nannte sich das aber noch „Wave“ und war tatsächlich Musik. (übrigens verwursten Eure DJs die Dinger noch heute zu einer Art musikalischer Canneloni mit schwülstiger Computerbasssosse).

Wir mussten noch keine Angst haben, dass uns Tina Turner mit dem klassischen Seniorenoberschenkelhalsbruch von der Bühne purzelt und wir haben Madonna noch mit festen Brüsten und ohne Baby-Pause gekannt, Ihr Nasen!

Wir verbinden „Kraftwerk“ noch nicht mit Solarenergie und wir hatten noch Angst, dass Joschka Fischer von Holger Börner mit der Dachlatte verprügelt wird. Wir erinnern uns noch an Terroristenfahndungsplakate, auf denen hin und wieder ein Gesicht liebevoll mit Kuli von einem Staatsbediensteten durchgestrichen wurde …

Die Bundeswehr und die NVA machten noch Spaß, wir kannten ja die Richtung, aus der der Feind kommt …

Zu unserer Zeit fielen Break-Dancer auf den Fussgängerzonen noch hin und wieder richtig auf die Fresse und Peter Maffay wurde beim Stones-Konzert noch ordentlich von der Bühne gepfiffen. Wir hatten noch Plattenspieler (auf 33″ und 45″) und richtig geile Plattencover, auf denen man die Namen der MUSIKER (und nicht der Programmierer) ohne Lupe erkennen konnte und die tatsächlich Kunst waren – keine Tempotaschentuchgrossen, einfarbigen Booklets auf denen gerade noch „nice Price“ lesbar ist.

Für uns war eine LP etwas Heiliges, das gepflegt und geliebt werden musste – und keine CD-Plastik-Wegwerfware, die so robust ist, dass man sie durchaus auch als Bierglasuntersetzer verwenden kann. Bei uns erkannte jeder sein Eigentum noch an den individuellen Kratzern.

Wir haben kein „Big Brother“ geguckt sondern „Formel 1“, wo es eine ganze fette Stunde wirklich gute Musikvideos zu sehen gab, die das Lied untermalten, wir hatten kein MTV mit degenerierten CD-Werbespots nötig.

Wir liessen uns die Haare seitlich ins Gesicht fallen – ohne diese beknackten, umgedrehten Baseballmützen oder Wollhauben. In unseren Hosen konnte man sehen, ob einer einen Hintern hatte, heute hängt der Arsch ja bei jedem von Euch in der Kniekehle der achso tollen Baggy-Trousers.

Bei uns haben sich keine Neonazis mit Türken gekloppt, sondern Punks mit Teds, Teds mit Poppern, Popper mit Ökos und Ökos mit der Polizei…

Und wer einen Führerschein hatte, fuhr als erstes einen Käfer oder eine Ente, bei der Dellen von Individualismus zeugten, ihr Opel-Corsa-Popel!

Und weil ihr gerade im Leistungskurs Informatik sitzt: die AC/DC Einritzungen auf den Tischen sind von UNS – und es geschieht Euch nur recht, wenn ihr glaubt, dass die Dinger aus dem Physiksaal kommen, wo irgendein findiger Schüler seinerzeit die Abkürzung für „Starkstrom/Schwachstrom“ in die Bank gemeisselt hat!

Also erzählt uns nichts über die 80er. Und ja, hiermit entschuldige ich mich, auch im Namen meiner Altersgenossen, für Modern Talking. Das haben wir nicht gewollt…

K wie Karfreitag und Karlsruhe

Karfreitag ist ein stiller Feiertag mit gesetzlich verordnetem Vergnügungsverbot, welches insbesondere öffentliche Musik- und Tanzveranstaltungen ausschließt, während Kirchenglocken uneingeschränkt lärmen dürfen im Namen des Herrn. Zunehmend wird darüber diskutiert, ob dieses Verbot noch zeitgemäß ist, im Radio, im Internet, und die Piraten-Partei hat sogar das Bundesverfassungsgericht angerufen, darüber zu entscheiden, ob das Verbot von Demonstrationen gegen das karfreitägliche Spaßverbot eine unzulässige Einschränkung der Versammlungsfreiheit darstellt.

Ich kann sehr gut an einem Tag im Jahr auf laute Musik und Tanz verzichten, zumal ich das an mindestens 350 weiteren Tagen ebenfalls tue, schließlich bin ich keine zwanzig mehr und schätze einen ruhigen Abend zu Hause mehr als eine durchtanzte Partynacht. Aber das ist hier nicht die Frage. Es ist ein Unterschied, ob ich freiwillig auf etwas verzichte oder ob ich es muss, weil bestimmte Institutionen das so wollen und es Jahrhunderte alte Tradition ist. Warum also können die Kirchen, deren Anhängerschaft schrumpft, per Gesetz in die Freizeitgestaltung aller Menschen eingreifen, insbesondere der Nichtgläubigen? Umgekehrt käme wohl keiner auf die Idee, einen gläubigen Christen heute daran zu hindern, den Tag in Andacht und Stille zu verbringen, schließlich wird niemand gezwungen, auf eine Party zu gehen.

„Aber den Feiertag nehmt ihr gerne mit. Dann könnt ihr heute auch arbeiten gehen.“ – Dieses Argument höre ich immer wieder. Was, bitte schön, hat das eine mit dem anderen zu tun? An Christi Himmelfahrt verbietet es auch niemand, dass die „Ungläubigen“ mit Bierkasten und Bollerwagen ihren „Vatertag“ begehen, ohne darüber nachzudenken, welchen Ursprung dieser Feiertag hat. Und tausende von Krankenschwestern, Busfahrern, Polizisten und Zugbegleitern – ob gläubig oder nicht – können darüber ohnehin nur lachen.

Als Christ bezeichne ich mich nicht mehr, bin aber ausdrücklich auch kein Atheist, behaupte nicht, dass es keinen Gott gibt. Allerdings behaupte ich auch nicht das Gegenteil, vielmehr bin ich der Meinung, jeder muss es mit sich selbst ausmachen, an was er glaubt oder nicht; Bekehrungsversuche aller Art widerstreben mir zutiefst, nicht nur in Bezug auf Religion, sondern generell: niemand soll mir vorschreiben, dass ich kein Fleisch essen, nicht rauchen, keinen Alkohol trinken darf – so lange ich damit andere nicht gefährde oder beeinträchtige. Jedenfalls bin ich mir sicher: Der Gott, an den ich glaube, hat nichts dagegen, wenn Menschen auch heute feiern und fröhlich sind.

Soeben wird gemeldet, dass sich das Bundesverfassungsgericht für nicht zuständig hält. Schade, ich war sehr gespannt auf die Entscheidung.