Die Neunziger – Suchen und Finden

Hier Teil drei meiner Reise durch die Jahrzehnte. Nachdem wir auf die Siebziger– und Achtzigerjahre geschaut haben, betrachten wir nun die

Neunzigerjahre.

Das Jahrzehnt begann, politisch bemerkenswert, mit der Auflösung des Ostblocks, allen voran der mächtigen UdSSR, und der Wiedervereinigung Deutschlands. Aus der DDR wurden über Nacht die „fünf neuen Bundesländer“, auch „Beitrittsgebiet“ genannt, scherzhaft „Neufünfland“ oder böse „Dunkeldeutschland“. Nicht alle waren über die neue Freiheit glücklich, viele Betriebe und Fabriken wurden abgewickelt, wie man es nannte; zahlreiche Bürger des vormaligen Arbeiter- und Bauernstaates verloren ihre Arbeitsplätze, die von Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften mussten ihnen wie Hohn vorkommen.

Ich war zum ersten Mal Anfang 1990 jenseits der Zonengrenze, als es die DDR formal noch gab. Von Bielefeld fuhren wir mit dem Auto nach Wernigerode in den Harz, dort fuhr die schmalspurige, noch überwiegend mit Dampfloks betriebene Harzquerbahn der Deutschen Reichsbahn nach Nordhausen ab. Bislang kannten wir sie nur aus Berichten in Eisenbahnzeitschriften, nun konnten wir sie uns endlich anschauen und mitfahren, ohne schikanöse Grenzkontrollen befürchten zu müssen. Das war ganz was anderes als die Gütersloher Dampfkleinbahn, hier müssen die Loks schwer am Berg arbeiten, bis heute.

Ich als Wessi

In den Folgejahren besuchten wir weitere dampfbetriebene Schmalspurbahnen in Mecklenburg und Sachsen, die erstaunlicherweise alle bis heute überlebt haben. Wobei die Begeisterung für mein langjähriges Lieblingshobby langsam nachließ: Die HO-Modellbahn auf dem Dachboden war abgebaut, um größer und besser wieder aufgebaut zu werden. Auch die L.G.B.-Bahn im Garten wurde wegen Gartenarbeiten vorübergehend demontiert. Beide wurden indes nicht wieder aufgebaut, zum einen aus Zeitgründen, zum anderen aufgrund akuter Interessenverschiebung; später zog ich bei meinen Eltern aus, noch später aus Bielefeld weg nach Bonn, dazu kommen wir noch. Das Hobby Modelleisenbahn hatte sich bis auf weiteres erledigt. Nur der Dampfkleinbahn blieb ich noch an vielen Wochenenden treu.

Hinzu kam meine noch junge Selbsterkenntnis zwischenmenschliche Präferenzen betreffend. Erst im Jahr zuvor hatte ich mir nach längerer Verdrängung endlich eingestanden, dass ich mit Mädchen eine allenfalls freundschaftliche Beziehung aufbauen konnte, wohingegen mit Jungs so einiges denkbar und wünschenswert erschien. Diese Einsicht war zwar sehr befreiend, allerdings fehlten mir vorläufig Ideen für eine Konkretisierung. Eine große Hilfe war mir dabei mein alter Schulfreund C., der für sich dieselbe Erkenntnis schon einige Jahre zuvor gewonnen und sich gut darin eingerichtet hatte. Er hatte einen Freund, der des öfteren wechselte, und er kannte sich bestens aus in einschlägigen ostwestfälischen Treffpunkten.

Ein solcher war „Muttis Bierstube“ in der Bielefelder Innenstadt, eine von außen unauffällige Gaststätte am Kesselbrink. Dorthin nahm er mich an einem Samstagabend mit, wobei es mehrere Überredungsversuche brauchte, ehe ich dazu bereit war. Ganz geheuer war mir das ganze nicht: Man(n) konnte nicht einfach hineingehen wie in andere Kneipen, sondern wir standen vor einer Eisentür und mussten klingeln. Kurz darauf öffnete sich ein Kläppchen in der Tür, wir wurden begutachtet und augenscheinlich für eintretenswert befunden, die Pforte ward uns aufgetan.

Viel war noch nicht los, wir waren zu früh, vor Mitternacht brauchte man dort nicht hinzugehen, erklärte mir C. Die anwesenden Männer waren überwiegend älter, einige von ihnen bestätigten die gängigen schwulen Klischees: nasale Stimme, blond gesträhnte Föhnfrisuren, dünne Oberlippenbärte, auffällige Ohrringe, bizarre Brillenmodelle, Zigaretten mit abgeknickten Handgelenken haltend, ab und zu kreischte einer auf. So sollte ich auch werden? Ein unbehaglicher Gedanke. Immerhin waren sie bekleidet und blieben auf Distanz. (Gaststätten, in denen das anders war, lernte ich gut zehn Jahre später kennen, dazu kommen wir in den Zweitausendern.)

Auch beruflich änderte sich einiges für mich. Auf wohlmeinendes Drängen eines Vorgesetzten bewarb ich mich in die gehobene Beamtenlaufbahn, obwohl ich mich im mittleren Dienst wohl fühlte: Die Identifikation mit dem Unternehmen war nach wie vor hoch, die Arbeit machte Spaß, nur die Bezahlung hätte besser sein können. Wider Erwarten wurde ich angenommen, bereits zum 1. März 1990 wurde ich zum „Postinspektoranwärter“ ernannt, das bedeutete eine erneute, dreijährige Ausbildung mit Studienabschnitten in Köln und dem südhessischen Dieburg, immer wieder unterbrochen von Praxisblöcken in verschiedenen Dienststellen in Bielefeld.

Das Grundstudium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Köln dauerte sechs Monate, ich hasste es: Untergebracht waren wir in einem Wohnheim mit Doppelzimmern und zentralen Waschräumen und Toiletten je Stockwerk. Mit meinem Zimmergenossen H. kam ich gut klar, dennoch wünschte ich mir sehnlichst immer wieder eine Tür, die ich schließen konnte, um mal allein zu sein. Einige wenige ältere Kollegen hatten das Glück eines Einzelzimmers, ich beneidete sie sehr darum.

September 1990 auf einer von der FH organisierten Veranstaltung, daher die Krawatte. Und nach mehreren Kölsch, daher der Blick.

Dass unser Wohnheim in Köln in unmittelbarer Nähe zum schwulen Ausgehviertel am Rudolfplatz lag, wusste ich nicht. Viel hätte mir die Kenntnis mangels Einzelzimmer auch nicht genützt.

Etwas angenehmer waren die Bedingungen später in Dieburg, wo die Bundespost ihre eigene Fachhochschule betrieb. Es gab mehrere Wohnheime, dort waren wir in Einzelzimmern untergebracht, immerhin mit Waschbecken. Dafür gab es nicht die speziellen Ausgeh- und Kennenlernmöglichkeiten wie in Köln. Wenn man davon ausging, dass etwa fünf Prozent der Menschen das eigene Geschlecht bevorzugen, musste es auch hier unter den Studenten einige geben, aber wie sollte ich das herausfinden? Die Möglichkeiten des Internets und heute allgegenwärtiger Datengeräte mit Apps zur Kontaktsuche hatte ich noch nicht. Immerhin kam ich im dritten und letzten Studienabschnitt während einer Geburtstagsfeier meinem Kurskameraden A. näher. Doch hielt das nicht lange, die Folge war lang anhaltender Herzschmerz meinerseits bis zum Ende des Studienabschnitts und ein wenig darüber hinaus.

Studieren mit Selbstauslöser

Das war überhaupt mein Hauptproblem: Wenn ich einen kennen lernte, war ich sofort hin und weg und sah uns dauerhaft in Liebe verbunden. Doch die schwule Welt drehte sich anders – viele suchten das kurze Vergnügen, danach konnte man froh sein, wenn sie noch grüßten, wenn man sich das nächste Mal zufällig sah. Das zu begreifen war ein längerer, oft schmerzhafter Weg.

Kurz nach bestandener Laufbahnprüfung für den gehobenen Dienst zog ich bei meinen Eltern aus in eine Einliegerwohnung im Bielefelder Ortsteil Quelle, auf der anderen Seite des Teutoburger Waldes. Die Vermieter, ein älteres Ehepaar, das unter mir wohnte, waren freundlich, die Miete sehr günstig. Die neue Freiheit war großartig – endlich konnte ich am Wochenende spätabends noch raus, ohne „Was, jetzt noch?“ gefragt zu werden: in Muttis Bierstube, ins EXIT, ins Magnus, ins Heat, zu den Partys im Jugendzentrum Kamp oder in Paderborn. Über Nacht wegbleiben, wenn es sich spontan ergab. Besucher empfangen, ohne hinterher erklären zu müssen, wer das war; manche kamen einmal, andere öfter. Oder einfach alleine sein. Nur den mütterlichen Wäscheservice nahm ich noch gerne in Anspruch, jeden Montagabend fuhr ich zum Wäschetausch nach Stieghorst.

Mein Wohnzimmer mit zeitgenössischer Einrichtung

Erstmals hatte ich Befassung mit Computern, zunächst bei der Arbeit, später auch zu Hause mit einem Rechner, den ich gebraucht von einem Kollegen gekauft hatte und der ständig abstürzte. Die Geräte waren noch nicht vernetzt, die Bildschirme, zunächst nur schwarz-weiß, riesige Klötze, bevorzugte Software war Microsoft Works, womit immerhin Textverarbeitung und Tabellenkalkulation möglich waren.

Da die regelmäßigen Besuche der örtlichen Lokalitäten nicht zum gewünschten Ergebnis führten, meistens fuhr ich nachts enttäuscht allein nach Hause, gab ich Kontaktanzeigen mit Chiffrenummer auf. Es kam zu mehreren Treffen, einmal fuhr ich gar zu einer Verabredung nach Osnabrück. Der Richtige war indes nicht dabei, allenfalls entstand nur einseitige Zuneigung, zumeist vom Gegenüber. Vielleicht war ich zu wählerisch.

Dabei war ich – bei aller Bescheidenheit – eigentlich ganz hübsch

Doch blieb das Liebesglück auch mir nicht dauerhaft versagt: 1994 lernte ich, wiederum auf einer Geburtstagsfeier, F. kennen, mit dem ich immerhin eineinhalb Jahre zusammen blieb. Er war diesbezüglich wesentlich weiter als ich, wollte gerne mit mir zusammenziehen, am liebsten hätte er mich geheiratet und Kinder adoptiert, wenn das schon möglich gewesen wäre. Ich dagegen war sehr darauf bedacht, dass weder Eltern noch Kollegen von meiner Vorliebe für Jungs erfuhren, zumal ich inzwischen Vorgesetztenfunktion hatte und um meine Autorität fürchtete. Daran ist es letztlich mit uns gescheitert.

Zusammen mit ihm war ich das erste Mal auf Gran Canaria gewesen, einem in Homokreisen beliebten Urlaubsziel. Auch dort wurden unsere unterschiedlichen Sichtweisen des Zusammenlebens deutlich. Während ich noch an die Monogamie als allein zulässige Variante glaubte, wollte er gerne mal einen Dritten mit in den Bungalow nehmen, nicht zum Kartenspielen, was ich empört ablehnte. Ein anderes Mal überredete er mich, abends im Yumbo Centrum zusammen einen Darkroom aufzusuchen. Bereits in der ersten Minute geriet ich in Panik, obwohl nichts Unanständiges passiert war, und ich zerrte ihn schnell wieder raus.

Im Herbst nach unserer Trennung war ich das zweite Mal auf der Insel, jetzt alleine. Dort fand ich bald Anschluss und erkannte auch an Unanständigkeiten die erfreuliche Seite, auch zu dritt und nicht nur im Dunklen.

Auch auf Gran Canaria, etwas später

Erst drei Jahre später, nachdem ich am Himmelfahrtstag auf einer Gruppenwanderung dem Liebsten, dem Mann fürs Leben, begegnet war, begann ich langsam, mich zu öffnen, zunächst gegenüber den Eltern, später auch Kollegen. Ablehnung oder Nachteile erfuhr ich dadurch nie. Nur mein Vater hatte Probleme damit, von mir keine Enkel erwarten zu können. Man kann es nicht allen recht machen.

Auch den Begriff der Monogamie definierten wir einvernehmlich neu, mit nicht allzu strenger Auslegung. Vielleicht erzähle ich darüber in den Zweitausendern ein wenig.

In beruflicher Hinsicht ergaben sich weitere Änderungen. Die Post wurde privatisiert und umstrukturiert, aus der Bundesbehörde sollte eine gewinnbringende Aktiengesellschaft werden. Dadurch stieg der Arbeitsdruck erheblich, erstmals haderte ich nach einer Versetzung in eine andere Dienststelle mit dem Job. Meine persönliche Arbeitsfreude und Motivation sank, weil ich das Gefühl hatte, meine Arbeit nicht mehr in der Qualität zu schaffen, die ich von mir selbst erwartete. Ich fühlte mich zerrieben zwischen den Budgetvorgaben von oben und dem Gegendruck von unten. Auch die nächste Beförderung lag in weiter Ferne. Etwas musste sich grundsätzlich ändern, wobei ein kompletter Wechsel des Arbeitgebers nicht in Frage kam.

Bei der Arbeit

Der Zufall kam mir zur Hilfe: Nach einer regionalen Veranstaltung in Dortmund kam ich mit einem Abteilungsleiter der Zentrale in Bonn ins Gespräch, dem ich mein grundsätzliches Interesse an einem Wechsel vortrug. Er notierte sich meinen Namen, einige Wochen später erhielt ich einen Anruf aus Bonn, ob ich noch interessiert wäre, in einer anderen Abteilung suchten sie jemanden mit Betriebserfahrung. Das musste ich mit dem Liebsten besprechen, immerhin hätte das einen Umzug bedeutet, wenn es klappte. Wir kamen schnell überein, es anzunehmen. Der Liebste studierte noch ein halbes Jahr, nach seinem Abschluss würde er dann ebenfalls nach Bonn kommen.

Ich bekam den Job, zunächst zur Probe, daher behielt ich erstmal meine Wohnung in Bielefeld-Quelle. In Bonn wohnte ich in einem Appartementhotel im wenig pittoresken Stadtteil Tannenbusch, was schöner klingt als es war: Wenn ich morgens die Vorhänge aufschob, blickte ich statt auf Nadelhölzer auf Hochhäuser und viel Beton. Abends nach Feierabend war ich froh, wenn ich den Fußweg von der Stadtbahn ins Hotel unbehelligt überstanden hatte, danach ging man besser nicht nochmal vor die Tür.

Wir führten eine Wochenendbeziehung. Freitagnachmittag fuhr ich mit der Bahn nach Bielefeld, sonntagabends zurück. Bereits am frühen Nachmittag wurde ich unruhig, schaute immer wieder auf die Uhr, wie viele gemeinsame Stunden wir noch hatten, ehe ich wieder zum Bahnhof musste. Ich weiß nicht, wie andere Paare das schaffen, oft über viele Jahre und viel größere Distanzen als die zweihundert Kilometer zwischen Bielefeld und Bonn. Für mich war und ist das auf Dauer nichts.

Die Arbeit in der Zentrale war grundlegend anders als ich es von der Niederlassung gewohnt war. Das Gute war, ich hatte keine Personalverantwortung mehr. Dafür musste ich lernen, dass vieles mit anderen Abteilungen und Bereichen abzustimmen war, wobei stets auch auf persönliche Befindlichkeiten einiger Bereichsleiter zu achten war. Auch an meinen neuen Chef musste ich mich erst gewöhnen, der es für richtig befand, neuen Mitarbeitern erstmal „die Uhr zu stellen“. Dabei wurde er nie laut, er verstand es perfekt, auch leise jemanden zur Schnecke zu machen.

Meine erste Weihnachtsfeier der Zentrale. Von einem Rheinländer kaum noch zu unterscheiden

Doch hatte ich mich anscheinend bewährt, zum April des Folgejahres 1999 wurde ich offiziell von der Niederlassung Herford zur Zentrale versetzt. Ich musste mich nun um eine Wohnung in Bonn bemühen. Die fand ich nach längerer Suche und mehreren Besichtigungen in der Bonner Südstadt, im Dachgeschoss eines Gründerzeithauses. Das Haus war bei näherer Betrachtung eine Bruchbude, bedurfte dringend einer Renovierung. Dahinter verlief die Bahnstrecke nach Koblenz, bei der Durchfahrt von Güterzügen klirrten die Gläser im Schrank, vor allem nachts wurde meine Liebe zur Bahn auf die Probe gestellt. Vor dem Haus fuhr, nicht ganz so laut, die Straßenbahn. Die Wohnung hatte weder Schallschutz noch Balkon, die Miete betrug das dreifache meiner Bielefelder Wohnung. Dennoch verliebte ich mich spontan in die Dachkammer und fühlte mich dort sehr wohl, an den Bahnlärm gewöhnte ich mich bald.

Drei Monate nach meinem Umzug kam der Liebste nach. Das war eine erneute Umstellung, bis dahin hatte ich immer alleine gewohnt. Zudem war die Dachkammer für zwei Personen recht klein bemessen. Dennoch rauften wir uns mit unseren unterschiedlichen Gewohnheiten bald zusammen und begannen, nach einer größeren Wohnung mit Balkon zu suchen.

In technischer Hinsicht brach eine neue Zeit ein. Noch vor dem Umzug hatte ich mir das erste Mobiltelefon zugelegt, ein klobiges Ding von Alcatel mit ausziehbarer Antenne. Und in unserer Dachkammer hatten wir erstmals Internet, das über ein fiependes und rasselndes Modem aufgerufen und minutengenau abgerechnet wurde. Ich verbrachte Stunden damit, über spezielle Seiten spezielle Bilder herunterzuladen, die manchmal Minuten brauchten, um sich aufzubauen. An das Herunterladen von Musik oder gar Filmen war noch nicht zu denken, das Wort „streaming“ noch unbekannt.

Wie in den Achtzigern geschildert, hatte mir der Schulsport jede Freude an sportlicher Betätigung genommen. Nach langjähriger Abstinenz begann ich in den Neunzigern mit Laufen. Zunächst, noch in Bielefeld, mit meinem Kollegen O., in den ich, obwohl Hetero, aber ein sehr zutraulicher, eine Zeit lang ziemlich verschossen war. In Bonn behielt ich es bei, zunächst mehrere Runden um die Poppelsdorfer Allee, später am Rhein.

Auch das schwule Leben in Bonn und Köln erkundeten wir. In Bonn gab es drei Kneipen, von Art und Publikum her Muttis Bierstube in Bielefeld ähnlich, eine sogar mit Dunkelraum. Und es gab das Schwulen- und Lesbenzentrum am Frankenbad, wo man sich montagabends traf, ungefähr einmal im Monat war am Samstag eine Party. Dort lernten wir bald einige Leute kennen.

An Wochenenden fuhren wir oft mit der Bahn nach Köln, wo wir vor allem die zahlreichen Lokale in der Umgebung des Rudolfplatzes aufsuchten, nicht weit vom Wohnheim, wo ich neun Jahre zuvor im Doppelzimmer gehaust hatte. Manche Lokale besuchte man nicht nur zum Quatschen und Biertrinken, dazu mehr bei Betrachtung der Zweitausender.

Ich trat in Köln einem Verein schwul-lesbischer Bahnfreunde bei, auch das gibt es. Einmal monatlich traf man sich zum Stammtisch, an Wochenenden gab es ab und zu Bahntouren, bei denen eine Einkehr zu Kaffee und Kuchen ein wesentlicher Programmpunkt war. Der Eisenbahnfreund ist speziell, das wusste ich aus langjähriger (Selbst-)Erfahrung, der schwule Mann auch, wie ich im Laufe der Zeit erkannte. Die Kombination von beidem ist sehr speziell.

Werfen wir einen Blick auf Dinge, die sich in den Neunzigern außerhalb meiner kleinen Welt ereigneten.

In musikalischer Hinsicht mochte ich Oasis, überhaupt Britpop; das zweite Album der Traveling Wilburys, das „Vol. 3“ hieß, bereits ohne Roy Orbison, da zuvor gestorben; M People, Prince, Fatboy Slim, das Album „The Division Bell“ von Pink Floyd, INXS, Primal Scream, Electronic, Moby, The Verve; zu erwähnen sind weiterhin Fool’s Garden und Army Of Lovers. Zu meinem Bedauern starb die Single zu Beginn des Jahrzehnts aus, daher musste ich die wesentlich teureren Single-CDs kaufen; ganze Alben kaufte ich nur selten. Freddy Mercury starb an AIDS.

Helmut Kohl wurde nach sechzehn Jahren als Bundeskanzler abgewählt, für ihn übernahm der SPD-Mann Gerhard Schröder zusammen mit den Grünen.

Wladimir Putin wurde erstmals Ministerpräsident von Russland.

Die Amerikaner marschierten zum ersten Golfkrieg in Irak ein, Jugoslawien hörte nach den Balkankriegen auf zu existieren.

Den Jahreswechsel von 1999 nach 2000 erlebten der Liebste und ich mit Blick aus dem Dachfenster auf die Lichter der Stadt, die vielleicht gleich erlöschen würden. Das hatten IT-Experten als sogenannten Y2K-Effekt für möglich gehalten, weil viele IT-Systeme auf nur zweistellige Jahreszahlen programmiert waren und deshalb womöglich den Jahreswechsel auf 2000 nicht verarbeiten konnten. Die Lichter blieben an, die Zweitausender hatten begonnen. Dazu demnächst mehr.

Das Bonn-Center ist platt

Heute um exakt 11 Uhr vormittags verschwand mit der Sprengung des Bonn-Center-Hochhauses ein markanter Zacken aus der Silhouette Bonns. 1969 eröffnet, beherbergte es zunächst ein Hotel mit zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten zu seinen Füßen, später Arztpraxen und Büros. Näheres zu seiner Geschichte erfahren Sie hier.

Am vergangenen Donnerstag stattete ich dem Hochhaus, von dem nach Beseitigung der Innereien und der Fassaden in den zurückliegenden Monaten nur noch das Gerippe stand, einen letzten Besuch ab:

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Bild 1 – Blick vom Bundeskanzlerplatz

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Bilder 2 und 3 – Zum Schutz der umliegenden Gebäude und der Bahnstrecke wurden hohe Erdwälle aufgefahren, davor das vorgesehene Fallbett für die Sprengung. Die angebrachten Planen sollen verhindern, dass dabei Teile durch die Gegend schießen.

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Bild 4 – Der frühere Eingang zum Pantheon

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Bild 5 – Die Bagger warten schon darauf, das gefallene Gebäude zu filetieren. Im Hintergrund der Lange Eugen (links) und der Posttower, deren Sprengung zurzeit nicht ansteht. Hoffe ich jedenfalls.

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Bilder 6 und 7 – Blick aus Richtung Südstadt

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Bilder 8 und 9 – Blick aus Richtung Bahn

Heute um elf dann die Sprengung, welche wir vom heimischen Sofa auf verfolgten dank der Live-Übertragung des WDR. Wie geplant fiel der Bau in sich zusammen und eine gigantische Staubwolke hüllte die Umgebung ein. Am frühen Nachmittag machte ich mich dann auf zum Trümmer-Tourismus, wie zahlreiche andere Bonner Bürger auch.

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Bilder 10 und 11 – Blick aus Richtung Bahn

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Bild 12 – Blick von der Reuterstraße, selbe Perspektive wie Bild 3, nur kaputter.

Als ich 1998/99 nach Bonn kam, war der ursprüngliche Glanz des Bonn-Centers schon ermattet. Auch mein Arbeitgeber hatte mehrere Etagen des Gebäudes angemietet, wodurch ich des öfteren Gelegenheit hatte, mich dort anlässlich von Besprechungen aufzuhalten. Die Arbeitsbedingungen waren nicht besonders angenehm: Im Winter waren die Büros kalt, im Sommer warm, zudem durch die unmittelbar daneben liegende Bahnstrecke sehr laut. Insofern hält sich mein Bedauern über seine Sprengung in Grenzen.

Über sprudelnde Steuern und Synonymzwang

Bekanntlich ist die Stadt Bonn finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet. Deshalb hat sie nun beschlossen, zwei zusätzliche Mitarbeiter damit zu beschäftigen, die Vereinnahmung der Hundesteuer zu überwachen. Wir erinnern uns: Vor noch nicht allzu langer Zeit sollte eine demenzkranke alte Dame ihren Hund wieder abgeben, da sie sich die Hundesteuer nicht leisten konnte, obwohl der Hund ihrem Wohlbefinden sehr förderlich war. Zahlreiche Bonner Bürger erklärten sich daraufhin bereit, die Steuer für die Dame zu zahlen, letztlich übernahm die Aktion Weihnachtslicht des Bonner General-Anzeigers die Kosten.

Die beiden neuen Mitarbeiter sollen von Haus zu Haus gehen und die Anwesenheit eines Hundes erfragen, wobei sie weder die Wohnung betreten noch, bei Abwesenheit des Bewohners, in der Nachbarschaft wegen des Vorhandenseins eines Hundes nachforschen dürfen, so die Stadt. (Im Gegensatz zum General-Anzeiger erspare ich Ihnen hier das unsäglich abgenutzte Synonym Vierbeiner – Zeitungen können nicht anders.)

Bei rund 166.000 Haushalten rechnet die Stadt mit einem mehrjährigen Einsatz der beiden Mitarbeiter; dafür erwartet sie Hundesteuermehreinnahmen von rund 200.000 Euro. Das ist doch mal eine sinnvolle Maßnahme: Abzüglich Personal- und Verwaltungskosten zahlt die Stadt höchstens 16.200 Euro drauf, davon könnten einhundert Demenzkranken die Hundesteuer erlassen oder 0,055667 Prozent des jährliche Zuschusses für die Oper finanziert werden.

Wie gleichzeitig bekannt wurde, erfreut sich das Aufkommen an Sexsteuer in Nordrhein-Westfalen einer steigenden Entwicklung (beziehungsweise „sprudelt in die Kassen“, wie jede Zeitung bei solchen Gelegenheiten zu schreiben gezwungen ist). Hier drängt es sich doch geradezu auf, die beiden städtischen Mitarbeiter in die Erhebung mit einzubeziehen. Ein Hausbesuch sähe dann etwa so aus:

„Guten Tag Frau Pütz, wir kommen von der Stadt Bonn. Lebt in Ihrem Haushalt ein Hund?“

„Sie meinen einen Vierbeiner?“

„Gewiss, aber nur wenn er bellt. Wenn er ‚miau‘ macht oder quiekt, sind wir nicht zuständig.“

„Aha. Nein…“

(Bellen aus dem Hintergrund)

„Was war denn das?“

„Das war mein Zweibeiner… mein Mann.“

„Ach… und warum bellt er?“

„Er hat neufundländische Vorfahren.“ (in die Wohnung:) „Sitz, Fifi, Frauchen…. äh… ich komme gleich.“

„Ihr Mann heißt Fifi?“

„Ja, ein traditioneller neufundländischer Name, müssen sie wissen.“

„Und was hat er gerade gebellt… also gesagt?“

„Er wollte wissen, wer an der Tür ist. Er ist leider sehr eifersüchtig.“

„Gut gut… Wie ich sehe, entrichten Sie zurzeit keine Sexsteuer.“

„Nein… sollte ich?“

„Selbstverständlich. Sie haben einen Mann.“

„Hören Sie, wir sind seit über dreißig Jahren verheiratet, glauben Sie etwa, da haben wir noch Sex?“

„Darauf kommt es nicht an, Frau Pütz, allein die theoretische Möglichkeit reicht aus als Erhebungsgrundlage. Schließlich zahlen Sie auch Rundfunkgebühr, ob Sie nun fernsehen oder nicht.“

„Da haben Sie wohl recht. Na ja, und wenn ich ganz ehrlich bin, so ein- bis zweimal im Jahr überkommt es meinen Fifi dann doch noch…“

„Sehen Sie, ehrlich währt am längsten. Welche Stellung bevorzugen Sie denn beim Vollzug?“

„Wenn er mich so von hinten nimmt, mag ich das schon ganz gerne…“

„Dann müssen wir Sie leider bitten, künftig auch die Hundesteuer zu entrichten. Hier die Formulare.“

Bei der Gelegenheit könnte die beiden Kontrolleure auch gleicht mit abfragen, wie lange der letzte Opernbesuch zurück liegt.

Nicht nur in Bonn blühen die Kirschen

Wie jedes Jahr blühen in der Bonner „Altstadt“ die Zierkirschen und ziehen mit ihrer rosafarbenen Pracht immer mehr Menschen aus nah und fern an, das Blütenwunder zu bestaunen, zu fotografieren und zu feiern; erstmals wurden in diesem Jahr zeitweise gar die Hauptblühstraßen für den Autoverkehr gesperrt, um die im Staunen und Fotografieren versunkenen nicht zu gefährden.

Doch nicht nur in Bonn blühen Kirschen, sondern auch in der französischen Provence, wo wir sie in der zurückliegenden Woche bewundern konnten. Die provencalischen Blüten sind zwar nicht so schön rot, dafür wachsen aus ihnen in einigen Wochen wunderbare, wohlschmeckende Früchte, während die Bonner Blüten in ein paar Tagen von Bonnorange aufgekehrt werden.

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Nur ein Detail am Straßenrand

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In diesem Herbst fallen nicht nur, wie jedes Jahr, die Blätter von den Bäumen, sondern auch die letzten Gaslaternen in der Bonner Südstadt. Die ersten mit Gas betriebenen Straßenlaternen sollen um 1850 die Stadt erleuchtet haben, bereits ab 1899 kam die elektrische Beleuchtung auf. Seit vielen Jahren ersetzen die Stadtwerke die alten Gasleuchten durch optisch gleichartige elektrische Laternen, teilweise werden sie getauscht, teilweise die vorhandenen auf elektrischen Betrieb umgerüstet. Das mag man bedauern, andererseits ist dieser Schritt verständlich, liegen doch die Betriebs- und Unterhaltungskosten der Gaslaternen weit über denen ihrer elektrischen Kolleginnen. Insofern ist es bemerkenswert, dass die letzten Exemplare ihrer Art bis heute überlebt haben.

Zurzeit werden die Laternen in der Niebuhrstraße ersetzt, den letzen in der Diezstraße neben der Elisabethkirche soll bis zum Jahresende das Gas abgedreht werden. Mit ihrem charakteristischen harten, gelblich-weißen Licht verschwindet damit ein ganz kleines bisschen des typischen Südstadt-Flair, aber das dürfte wohl zu verschmerzen sein.

(Sehen Sie, jetzt haben Sie wieder was gelernt.)

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Auch veröffentlicht bei Bundesstadt.com

Woche 18 in Bildern: Regen und Blüten

Ja, auch ich hoffe auf einen sonnigen Sommer mit blauem Himmel und Temperaturen deutlich oberhalb der zwanzig Grad im Schatten. Und doch komme ich nicht umhin, auch einem Regentag seinen Reiz zuzugestehen. Es muss ja nicht gleich tagelanger Dauerregen mit Gewitter und Hagel sein. Die nachfolgenden Bilder entstanden in der vergangenen Woche in und um Malaucène, Südfrankreich:

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Dass auch der rheinische Regen dem in nichts nachsteht, mögen die nächsten Bilder verdeutlichen, die ich heute in Bonn machte:

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Sonntägliche Alternative zum Kirschblüten- und Marathon-Kucken

Heute hielten mich weder die altstädtische Kirschblüte noch der Bonner Marathon davon ab, eine Radtour an die Sieg zu machen. Zunächst fuhr ich siegaufwärts durch die unfassbar schöne Auenlandschaft bis kurz hinter die imposante Brücke der L 143 bei Menden, dann wieder rechtssiegisch (sagt man das so?) zurück bis zur Siegmündung, für mich immer wieder ein wahrlich magischer Ort. Hier ein paar fotografische Eindrücke des Ausflugs.

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Übrigens: Wer in diesen Tagen Kirschblüten ohne Touristen fotografieren möchte, dem sei die Professor-Neu-Straße in Beuel empfohlen:

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Niklas – und der Rhein fließt aufwärts

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Seit ges­tern Abend fegt Tief Niklas über Deutsch­land hin­weg und machte auch um das Rhein­land und Bonn kei­nen Bogen. Aus meinem Büro im 27. Stock sah das heute so aus:

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Gegen halb 12 schien die Sonne, aber Gischt­krön­chen auf dem Rhein las­sen den star­ken Wind erahnen.

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Um 14:25 Uhr umtost Regen den Turm…

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… doch schon eine Minute spä­ter reißt der Him­mel auf und malt die­sen schö­nen Regen­bo­gen unter mein Büro.

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Kurz nach 15 Uhr ist der Him­mel blau, den­noch bläst der Wind hef­tig und lässt den Turm knar­zen wie ein altes Schiff.

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Kurz nach 16:30 Uhr zieht es sich wie­der zu.

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Knapp eine Stunde spä­ter rei­ßen die Wol­ken wie­der auf, dafür erscheint der Rhein grün. Außerdem fließt er aufwärts, sehen Sie selbst.

(Auch veröffentlicht bei Bundesstadt.com)

Bonner gegen Geräusche in der Stadt (BOGEGIS)

Und wieder hat das Bonner Dezibel-Denunziantentum zugeschlagen. Dieses Mal trifft es die Reggae-Party der Kulturinitiative Rhizom, die am Rosenmontag nach dem Zoch von 15 bis 20 Uhr auf dem Vorplatz des Frankenbades stattfinden sollte, also an einem Tag, der nicht gerade zu den stillen Feiertagen gerechnet werden kann; auch erscheint eine Störung der Nachtruhe aufgrund der moderaten Zeitlage eher unwahrscheinlich. Eine Anwohnerin im Bereich Adolf-/Vorgebirgsstraße hat der Stadt Bonn über ihren Anwalt eine Klage angedroht, falls die Party, die es bereits seit 2008 gibt, genehmigt werden sollte. Von einer Klageandrohung gegen den Rosenmontagszug, der unter ihrem Fenster entlang läuft, sieht sie in diesem Jahr offenbar noch einmal ab.

Nachdem ihre Rechtsgelehrten die Beschwerde geprüft hatten, knickte die Stadt – wie gewohnt – ein und ließ über ihren Rock- und Pop-Beauftragten verkünden, dass sie die Party in diesem Jahr wegen überhöhter Lärmimmission nicht genehmigen könne. Das wirft Fragen auf. Erstens: Kann man eine Stadt wegen wiederholter Feigheit vor einer Klage verklagen? Zweitens: Was genau macht eigentlich ein Rock- und Pop-Beauftragter?

Doch geben sich die Veranstalter nicht kampflos geschlagen. Statt zur Party rufen sie nun zu einer Demonstration auf, ebenfalls von 15 bis 20 Uhr vor dem Frankenbad. Diese wurde auch genehmigt, da das Demonstrationsrecht ein höheres Gewicht hat. Nur muss es neben Musik auch Wortbeiträge geben und es darf kein Alkohol ausgeschenkt werde.

Als bekennender Karnevalsmuffel wollte ich eigentlich auch in diesem Jahr den Rosenmontag und seinen Zug im Rahmen der mir als Altstadtbewohner gegebenen Möglichkeiten ignorieren, auch würde ich mich nicht als ausgesprochenen Reggae-Fan bezeichnen, doch zur Demonstration werde ich wohl gehen. Bier gibts im Kiosk um die Ecke. Vielleicht hat ja jemand Lust, mitzukommen.

Übrigens: Dass man als Rock- und Pop-Beauftragter durchaus eine steile Karriere vor sich haben kann, belegt der Werdegang von Sigmar Gabriel.

Auch veröffentlicht bei Bundesstadt.com