Woche 43/2021: Liebe, Wanderlust und Uhrenumstellung

Montag: Im Werks-Maileingang zwei Nachrichten von mittelmäßiger Wichtigkeit, eine von Samstag, 21:13, die andere von Sonntag, 17:45 Uhr. Was führen die Versender für ein Leben?

In einem Artikel über Egoisten in der aktuellen Ausgabe der PSYCHOLOGIE HEUTE wurde ich auf den „Dark Factor“ aufmerksam. Er misst „die Ausprägung des dunklen Kerns der Persönlichkeit. Unter Personen mit hohem D-Faktor sind solche, die den Schaden anderer nicht sehen, ihn billigend in Kauf nehmen, und solche, die andere absichtlich schädigen.“ Echte Arschlöcher also. Man kann die eigene Charakterdunkelheit hier selbst bestimmen, was ich sogleich tat. Das Ergebnis überrascht – mit einem Wert von 1,77 auf der Skala von 1 (hell) bis 5 (dunkel) scheine ich verträglicher zu sein als selbst geahnt.

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Dienstag: Die Sängerin Nena, vor geraumer Zeit durch zweifelhafte Äußerungen in Misskredit geraten, sang einst, als sie noch beliebt war, von neunundneunzig Luftballons am Horizont, die fast den befürchteten Atomkrieg ausgelöst (andere würden schreiben für einen Atomkrieg gesorgt) hätten. Ähnliches trug sich am frühen Abend bei uns zu, nachdem der in jeder Hinsicht harmlose Postkartengruß eines alten Freundes erst in die falschen Hände, dann in den falschen Hals geriet und so fast zu einem Eklat mit Polizeieinsatz geführt hätte. „Nichts ist so unlogisch wie die Liebe“, wird Florian Illies im SPIEGEL zitiert.

Mittwoch: In der Kantine verlangte vor mir einer nach einer „richtigen Männerportion“ und schaute sich anschließend beifallheischend um. Ich verdrehte (nur innerlich) die Augen und tat ansonsten so, als hätte ich es nicht gehört, was mich nicht daran hindert, es nun aufzuschreiben.

Aufgeschrieben und mir gesendet (also nicht nur mir, sondern allen, die es abonniert haben) hat Kurt Kister von der Süddeutschen Zeitung folgendes, unter anderem über die allgemein oder wenigstens in meiner Generation bekannte und beliebte Männerportion eines Nudel-Fertiggerichts:

»Es war diese gelbe Pappschachtel, deren Namen ich nicht nenne, weil ich sonst ein Influencer wäre, was ich auf keinen Fall sein möchte. Als ich Matthes die Alutüte aufschneiden sah und er das Tomatenmark in den Topf gab, schmeckte ich 342 einsame Abendessen in möblierten oder nichtmöblierten Wohnungen. Als er die Würzmischung über das Mark streute, wusste ich, dass man aufpassen muss, dass der Herd nicht so weit aufgedreht ist, weil sonst Blasen in der Tomatensauce entstehen. Und als er dann die rote Sauce über die irgendwie leichengelben Nudeln schüttete, roch ich diesen… nennen wir es mal wider besseres Wissen: Duft, und ich spürte schon das Völlegefühl im Magen, das man hat, wenn man die drei Portionen, wie es auf der Schachtel heißt, alleine aß. Ich habe sie immer alleine gegessen.«

Weiter schreibt er zu einen ganz anderen Thema:

»Es sind die Retro-Shows, und sie haben gerne Titel wie „Die 80er Show“. Man sieht irgendwelche Ausschnitte von Songs, Ereignissen oder Werbeclips. Dazwischen labern dann mehr oder weniger bekannte Menschen, oft in einer Ecke des Bildschirms, was sie gerade für Assoziationen hatten oder wie sie es damals erlebt haben. Dafür nimmt man gerne in den Sechzigerjahren geborene lustige Menschen, die vor 20 Jahren entweder mal etwas prominent waren oder auch nur deswegen heute prominent sind, weil sie immer aus der Bildschirmecke heraus was über Led Zeppelin oder Helmut Kohl sagen.«

Als in den Sechzigerjahren geborenem, wenn auch weder besonders lustigem noch (zum Glück) auch nur ansatzweise prominentem Menschen gefällt mir beides außerordentlich gut. Wenn Ihnen das auch gefällt und sie so etwas jeden Mittwoch in Ihrem Maileingang vorfinden möchten, klicken Sie hier und wählen Sie „Deutscher Alltag“ aus.

Donnerstag: »FDP-Chef Christian Lindner (42) und seine Lebensgefährtin Franca Lehfeldt (32) haben sich verlobt und wollen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur heiraten«, steht in der Zeitung. Es liegt mir fern, das alte Gleichnis von Topf und Deckel erneut zu strapazieren, die Dame wird schon wissen, was sie tut, zudem wird sie ihn ohnehin nicht allzu oft auf dem heimischen Sofa herumzulungern haben, wenn er demnächst Minister ist. Viel bemerkenswerter finde ich die zusätzliche Klarstellung durch die DPA, dass die beiden auch heiraten wollen; bislang ging ich davon aus, diese Absicht wohne einer jeden Verlobung inne.

Von Liebesbanden zu Wanderlust: Heute war wieder einer dieser zahlreichen „letzten schönen Tage des Jahres“, den ich dank Inseltag nutzte, um die vierte Rheinsteig-Etappe von Linz am Rhein nach Bad Hönningen zu erwandern. Streckenweise ging es recht steil bergauf, deswegen heißt es ja auch Rheinsteig und nicht -weg oder -pfad. Doch die Mühe lohnt sich.

Letzter Dunst verzieht sich langsam
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Nicht nur Wasser sucht sich seinen Weg.
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Drogenanbau
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Oberhalb von Bad Hönningen verließ ich den Rheinsteig in Richtung Innenstadt und Bahnhof. Krasser konnte der Gegensatz nicht sein: Streichelten zuvor Wälder, Felder und Reben des Wanderers Auge, führte der Weg nun durch eine deprimierende Neubausiedlung mit wenig Grün, viel Pflaster und Schotter vor den Häusern, die nahtlos in ein nicht minder hässliches Industrie- und Gewerbegebiet überging.

Beachtenswert die Hinweise auf Waffen und Gebotsschilder

Die letzten Meter führten durch eine pittoreske Unterführung, die direkt am Bahnhof endete. Da die nächste Bahn in Richtung Bonn in wenigen Minuten abfuhr und keine einladende Gastronomie in Sichtweite war, verzichtete ich gar auf das traditionelle Belohnungsbier.

Hier unversehrt durchzukommen beeilen sich vermutlich sogar Rocker und Hooligans

Freitag: »Sorge vor Krawatten in Köln«, las ich morgens in der Zeitung. So sehr ich das langsame Ende dieses überflüssigen Halsschmuckes auch begrüße – nach nochmaligem Nachlesen galt die Sorge vielmehr Krawallen anlässlich einer größeren Demonstration gegen das Versammlungsgesetz. Wobei auch Krawatten und Versammlungen nicht vollkommen wesensfremd sind.

Apropos Ende: Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der Schreck, wenn im Büro beim Abreißen der Blätter des Dreimonatswandkalenders das Wort „Dezember“ erscheint. Nehmen wir es mit Lebkuchen und Humor, was bleibt uns übrig.

Welche Art von Humor hier den Programmierer trieb, wissen wir nicht.

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Samstag: »Stadt Bonn stellt Opernhaus auf den Prüfstand«, titelt die Zeitung. Das wäre wirklich sehenswert.

An einem Informationsstand von Amnesty International in der Innenstadt sah ich im Vorbeigehen – an solchen Ständen, seien es Tier-, Natur-, Kinder- oder Wasauchimmer-Schützer gehe ich stets besonders schnell vorbei, um nicht vollgequatscht zu werden – einen jungen Mann mit zwei langen, geflochtenen Zöpfen, gleichsam die Greta für Verfolgte. Das war so ziemlich das Lächerlichste, was ich seit langem gesehen habe, was ich kaum zu verbergen vermocht hätte, hätte er mich in der üblichen Weise („Hättest du [die glauben immer, einen duzen zu dürfen] kurz Zeit für …“) angesprochen. Hat er zum Glück nicht.

Uhrenumstellung im Haushalt K: Hier werden nicht einfach die Zeiger um eine Stunde zurückgedreht, vielmehr wurden beim Versandhändler meines Misstrauens neue Wanduhren bestellt.

Sonntag: An den Restaurantbesuch gestern Abend erinnere ich mich aufgrund der Fülle an Begleitgetränken nicht in allen Details. Da der Geliebte am Ende keine Schuhe mehr anhatte, wird es ganz gut gewesen sein.

Vor der Kirche in der Inneren Nordstadt steht diese Säule:

Beachten Sie den unfreundlichen Hinweis im orangen Feld, dem ich Folge leistete. Die Verse 26 und 27 lauten: »26 Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; 27 ebenso gaben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer treiben mit Männern Unzucht und erhalten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung.« Irgendwer hat ja immer was zu nörgeln.

Während des Spaziergangs am Nachmittag sah ich an einer Bushaltestelle eine junge Dame stehen, ins Datengerät vertieft, mit einem aufgesetzten Plüsch-Heiligenschein, ansonsten hatte sie nur wenig Engelhaftes an sich. Erst später ging mir auf, dass heute wieder dieses Halloween gefeiert wird.

Zum Schluss noch dieses:

»Aus dem Leben und der Kriminalstatistik weiß ich, dass man in der Regel nicht von einem dunkel durch den Garten huschenden Schatten ermordet wird, sondern von Menschen, zu denen man zu einem früheren Zeitpunkt einmal ,Liebling‘ oder ‚Schatz‘ gesagt hat.«

Denis Scheck in der PSYCHOLOGIE HEUTE

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche voller Liebe, Humor und – wenn Sie mögen – Begleitgetränken.

2 Gedanken zu “Woche 43/2021: Liebe, Wanderlust und Uhrenumstellung

  1. Kraulquappe November 1, 2021 / 19:51

    Bevor ich hier heute kommentiere, um Ihnen mitzuteilen, dass ich mich, wie so oft an einem Montagmorgen (und erst recht an einem bayerischen Allerheiligenmontagmorgen: grau, regnersich und mit einer Inzidenz um die 150) schon vor dem ersten Kaffee auf Ihre Wochenchronik freute (und dann nicht enttäuscht wurde), wollte ich unbedingt meinen D-Faktor ermitteln: er liegt exakt bei 1,8, was mir, weil der Ihre bei 1,77 liegt, erwähnenswert erscheint (ich bin also 0,3 mehr Arschloch als Sie, das passt schon, oder wie sehen Sie das?).
    Wir lesen und erfreuen uns also nicht nur an demselben „Deutschen Alltag“, sondern teilen auch eine annähernd ähnliche Charakterdunkelheit – eine Vokabel, die ich im Übrigen ab sofort in meinen aktiven Wortschatz aufzunehmen gedenke.
    Herzliche Grüße aus München & eine erlebnisangenehme Woche,
    Ihre N.

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    • stancerbn November 1, 2021 / 21:06

      Liebe N,
      vielen Dank für die freundlichen Worte. Auch ich habe den Feiertag sehr genossen, hier bei Sonnenschein.
      Ob die 0,3-Differenz zu Ihren Lasten gerechtfertigt ist, vermag ich nicht zu beurteilen, kann es mir indes kaum vorstellen.
      Auch Ihnen eine erfreuliche Woche
      C

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