Woche 2/2023: In dekorativer Funktion

Montag: „Ich hab denen mal ’nen Reminder geschickt, damit die das checken. Nicht, dass wir da noch ein Gap haben“ sagte eine in der Besprechung. Was Leute so reden, wenn sie busy sind, wie es auf Dummdeutsch heißt.

Vergilbte Bilder – was Journalisten so schreiben, wenn sie über Tarifverhandlungen berichten: »Gewerkschaft fordert einen großen Schluck aus der Pulle« – »Fünfzehn Prozent sind ein gehöriges Pfund.« Immer wieder.

Ein eher schiefes Bild aus einem Zeitungsartikel über immer mildere Winter: »Vegetationsperioden beginnen schon deutlich früher. Schaut man diesen Januar in die Vorgärten, so sieht man Schneeglöckchen blühen. Auch die Krokusse machen sich schon auf den Weg«, so ein Meteorologe.

Ein schönes Wort las ich in einem Blog: „Ordnungshut“. Nicht im Sinne einer Kopfbedeckung, sondern im Femininum, gleichsam die Positivform zum Ordnungshüter.

Dienstag: Morgens früh lag ein Hauch von Fäkalaroma in der Luft der Fußgängerzone, die ich beim Weg ins Werk durchquere, woher auch immer das kam. Ansonsten gestaltete sich der Tag insgesamt recht angenehm. Auch der zum Feierabend einsetzende Regen, der mich den Rückweg mit der Bahn statt zu Fuß zurückzulegen nötigte, vermochte die Stimmung nicht zu trüben, zumal ein spontaner Kurzbesuch in der Weinbar für entgangenes Gehglück entschädigte.

»Willst du ewig leben?« lautet die heutige Tagesfrage bei WordPress. Sie ohne nachzudenken spontan zu beantworten fällt mir leicht, wobei ich mich wiederhole: Nein, auf gar keinen Fall. Mir ist rätselhaft, wie man das überhaupt wollen kann, insofern erscheint es verwunderlich, dass so viele Menschen diesbezüglichen Verheißungen diverser Religionen immer noch nachhängen. Also ähnlich wie dem Fußball. Auch ein möglichst langes Leben halte ich nicht für erstrebenswert. Irgendwann ist es vorbei, wenn das Universum es für angezeigt hält, die Atome meines Leibes einer anderen, sinnvolleren Verwendung zuzuführen, und dann ist es gut; viel besser kann es ohnehin nicht mehr werden. Hauptsache es geht schnell, wenn es so weit ist. Da fällt mir wieder ein, dieses Jahr muss ich endlich mal die Patientenverfügung fertigstellen.

Mittwoch: »Das ist noch viel weirder« las ich irgendwo. Es wierd wird immer tiefenbekloppter.

Bleiben wir noch kurz bei Wörtern: Als Unwort des Jahres wurde „Klimaterroristen“ ausgesucht, weil es Menschen, die sich mit nicht ganz gesetzkonformen Methoden für ein wichtiges Anliegen engagieren, gleichsetzt mit anderen, die für ihre nicht immer ehrenwerten Anliegen Mord, Totschlag, Angst und Schrecken anzuwenden keine Hemmungen haben. Eine gute Wahl. Mein Vorschlag für das Langzeitunwort der letzten (mindestens) zehn Jahre ist übrigens „nachhaltig“, weil es durch seinen inflationären Gebrauch zur Klassifizierung aller möglichen „grünen“ (auch so ein Unwort) Maßnahmen keinen Wert mehr hat.

Mittags in der Kantine saßen am Nebentisch zwei Männer, deren einer unentwegt redete. Wieder einmal war ich dankbar für meine leichte Hörschwäche, die mich davor bewahrte, den Inhalt des Geschwafels vollständig mitzubekommen. Wie auch immer: Trotz Dauerredens war sein Teller bald leer. Ein wahrer Oralakrobat.

Ich weiß, man soll nicht … gleichwohl: Wenn man den Namen Großstück liest, fragt man sich schon nach dessen Ursprung.

Donnerstag: Wie ich auf dem Rückweg vom Werk mit Entsetzen zur Kenntnis nahm, ist die Glühweinbude am Rhein inzwischen entfernt.

Am Rhein ist es dennoch schön, auch ohne Glühweinbegleitung

Der Tag endete dennoch nicht allzu trocken mit einem kollegialen Umtrunk im Wirtshaus, …

Freitag: … was den heutigen Werktag etwas mit Müdig- und Antriebslosigkeit überschattete. Glücklicherweise lagen keine anspruchsvollen, dringend zu erledigenden Geschäfte an, die nicht problemlos in neuer Frische auch kommende Woche angegangen werden können. Zudem endete er früh wegen anstehender karnevalistischer Verpflichtungen ab dem Nachmittag.

»Mehr Überflüge: Bürger wollen wachrütteln« übertitelt das Freisinger Tageblatt einen Artikel über Proteste gegen Fluglärm. Manches kann sich selbst ein Büttenredner nicht besser ausdenken.

Einmal Prinz zu sein – Ich wäre sehr dankbar, wenn ich von dem ganzen Gewese um das Buch des Harryprinzen nicht behelligt würde, aber dem ist kaum zu entgehen. Es sei denn, man verzichtete komplett auf Medienverzehr, doch das sehe ich gar nicht ein. Auch Kurt Kister widmet sich in seiner Wochenkolumne diesem Thema, indessen lesenswert:

Grundsätzlich muss man immer vorsichtig sein, wenn Leute, die jünger als 40 sind, Memoiren schreiben – es sei denn, diese Leute wären Alexander der Große oder gar Jesus, die beide in ihren Dreißigern leider memoirenlos starben. Die Memoiren von Jesus wären für den bücherverlegenden, bertelsmannschen Zappelsender RTL ein deutlich besseres Geschäft als die Übernahme des Stern. Vielleicht könnte der RTL-Stern ja wenigstens die Tagebücher von Alexander, dem Makedonenkönig, finden. Schließlich gehört der Penguin-Verlag, in dem Harrys Geisterbuch auf Deutsch erscheint, genauso zum Bertelsmann-Konzern wie RTL. Alles hängt mit allem zusammen, und alle Wege führen nach Gütersloh.

Kurt Kister: „Deutscher Alltag“, zu beziehen hier

Samstag: Rückblickend auf den Vorabend kann die Prunksitzung der Karnevalsgesellschaft Fidele Burggrafen Bad Godesberg e.V., der anzugehören ich die Freude und Ehre habe, derzeit nur in dekorativer Funktion, bei aller Bescheidenheit als sehr gelungen bezeichnet werden. Leichte Unpässlichkeiten in der ersten Tageshälfte werden dafür als unvermeidbares Kollateralleiden gerne in Kauf genommen.

Ein- und Ausmarsch. Beachten Sie den echten ostwestfälische Frohsinn in meinem Gesicht. Alaaf. (Fotos: Stefan Hamacher)

Sonntag: Gesehen am Wegesrand beim Spazieren: Manchmal muss es einfach schnell gehen, da bleibt dann keine Zeit für ordnungsgemäße Entsorgung der Verpackung, wer kennt das nicht.

Auf dem weiteren Weg durch die Südstadt sah ich ein Café mit dem Namen „pie me“. Zunächst hatte ich „pee me“ gelesen und mich ein wenig gewundert, vermutete ich eine Gaststätte dieses Namens allenfalls in sehr speziellen Gegenden von Köln, Berlin oder Amsterdam, jedoch nicht in der mondänen Bonner Südstadt.

In der Fußgängerzone begegnete mir einer mit hochgekrempelten Hosenbeinen, nicht weil es so warm war, sondern er offenbar zeigen musste, was er hatte. Das sah auf den ersten Blick und eine gewisse Entfernung nach einer Prothese aus, das linke Bein war deutlich dunkler als das rechte. Im Näherkommen erwies es sich als flächendeckende Tätowierung ohne erkennbare Konturen, als wäre es in einen Farbtopf gehalten worden. Schönheit liegt ja oft gerade darin, was man nicht sieht.

Ich bin kein Befürworter von Überregulierung, doch wäre ich dankbar für eine verbindliche Vorschrift öffentliche Bücherschränke betreffend, wonach Bücher stets mit gleichgerichteter Rückenbeschriftung einzustellen sind. Von dem ständigen Halshinundherkippen wird man ja ganz wirr.

***

Kommen Sie gut durch die Woche. Achten Sie auf Krokusse, die Ihnen über den Weg vor die Füße laufen könnten.

Woche 2: Das Leben ist kein Schweigeorden

Montag: Vielleicht kennen Sie das auch – das Telefon tönt, die angezeigte Nummer lässt einen vollkommen überflüssigen Anruf erahnen. Sie gehen trotzdem dran, woraufhin der Anrufer Ihre Ahnung umgehend bestätigt, indem er den Inhalt einer Mail wiedergibt, die er Ihnen vor Stunden schrieb (und die zu lesen Sie noch keine Gelegenheit oder Lust hatten). Dennoch nimmt man diesen verdammten Anruf an, immer wieder. Vielleicht eine verhängnisvolle Mischung aus Höflichkeit und Versäumnisangst.

Völlig überflüssig auch solche Sätze, gelesen in einem Zeitungsartikel: „Es liegt in unserer DNA, auch in Zeiten einer globalen Krise zu liefern.“

Ein oft gehörter Satz in virtuellen Besprechungen: „Sorry, ich war noch gemutet.“ Manchmal eher schade, dass er oder sie es gemerkt hat.

Dienstag: Nach einem Tag reich an Besprechungen möchte ich nur noch hier sitzen. Am liebsten in Stille. Aber man kann nicht alles haben. Das Leben ist kein Schweigeorden.

Manchmal, wenn mir eine scheinbar einfache Frage, die ich unvorsichtigerweise stellte, in feinst verästelter Ausführlichkeit beantwortet wird, denke ich: Ein einfaches „isso“ hätte jetzt auch gereicht.

Mittwoch: „Keine Impfpflicht!“, rufen sie. Als ein Argument wird angeführt, dadurch könnten sich dringend benötigte Pflegekräfte zu einer anderen Berufswahl oder gar Kündigung veranlasst sehen. Hm … Kann es nicht sein, dass jene, die „total gerne was mit Menschen machen“, sich aber auf keinen Fall impfen lassen wollen, ohnehin besser was ganz anderes machen sollten? Vielleicht Ahnenforscher oder Leichenwäscher, das ist auch was mit Menschen, nur weniger ansteckend. Ich bin bestimmt kein glühender Verehrer des Ober-Bayern, aber an einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen kann ich nur wenig Verkehrtes erkennen.

Die Auszeichnung „Unwort des Jahres“ erfährt jährlich ein Begriff oder eine Redewendung, die etwa gegen Grundsätze der Menschenwürde oder Demokratie verstoßen, diskriminierend, euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind. In diesem Jahr hat es gleich zwei Wörter ereilt: „Rückführungspatenschaften“ (nie gehört) und „Corona-Diktatur“ (zu oft gehört). Schade, dass die „nukleare Teilhabe“ unberücksichtigt blieb.

Donnerstag: Morgens warnte die Frau im Radio vor „Gefahr durch überfrierende Glätte“. Seltsam eisige Stimmung auch abends daheim, wobei mir Schweigen nach einem weiteren besprechungsreichen Arbeitstag nicht völlig ungelegen kam. Warum haben die zu Jahresbeginn alle plötzlich so einen Redebedarf? Bleibt das jetzt so? „Wir müssen mehr miteinander reden“ erscheint mir zunehmend als eine zweifelhafte These.

Freitag: Ein weiteres unerträgliches Geräusch ist dieses „Jerusaleme“-Liedchen, das sie jetzt dauernd im Radio spielen. Auch mein innerer Ohrwurmmoderator hat es in seine Lieblingsliste aufgenommen und quält mich damit manchmal stundenlang.

Im Übrigen muss ich aufhören, alle, die mit Telefon am Ohr und/oder Kaffeebecher in der Hand durch die Gegend laufen, automatisch für Idioten zu halten.

Samstag: Die Dauer aller über WhatsApp erhaltenen Filmchen, von mir konsequent ignoriert, ergibt aneinandergereiht eine Zeitspanne, in der woanders Flughäfen geplant, genehmigt und errichtet werden.

Gelesen:

„… das Spröde am Niedersachsen wirkt sich sogar auf die Infektionszahlen aus. Im Norden befummeln sich die Leute nicht dauernd. Zwei Niedersachsen auf Armlänge, das geht schon in Richtung Sex.“

(Dietmar Wischmeyer im General-Anzeiger)

Er habe noch „Lücken im Tassenregal“, lässt der Geliebte wissen, was zumindest etwas freundlicher klingt als „nicht alle Tassen im Schrank“.

Sonntag: Gestern Abend hatte es auch bei uns zu schneien begonnen und der Schnee blieb – eher rheinlanduntypisch – zunächst liegen. Auch heute waren noch nennenswerte Spuren erkennbar, wenn auch im Schwinden begriffen, daher mussten die Kinder sich mit dem Schneemannbau beeilen, wobei für die meisten Exemplare, die ich während des sonntäglichen Flanierens sah, aufgrund der in den schmelzenden* Schnee eingeschlossenen Fremdpartikel eher die Bezeichnung „Schmutzmann“ angemessener erschien.

(Hier kann man der Physik bei der Arbeit zuschauen.)

Zum letzten Bild eine kleines Detail, das vermutlich nur ich selbst bemerkenswert finde. Es betrifft die schönen Laternen im Design der Fünfzigerjahre am Rheinufer. Vor einigen Jahren hatte man zu meinem Bedauern begonnen, sie gegen moderne Exemplare auszutauschen, siehe das Vergleichsbild vom Februar 2016:

Nun hat man sich offenbar wieder für die bisherigen Lampen entschieden. Ob sie noch auf irgendeinem städtischen Bauhof herumlagen oder im alten Stil neu angefertigt wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.

Als am Spaziergang begeisterter Mensch freue ich mich über solches:

„Ich schaue da stets finster auf die Räder, aufs Ganze und nie auf die Insassen, welche ich verachte und zwar keineswegs persönlich, sondern rein grundsätzlich“, bekannte sein Spaziergänger,  „denn ich begreife nicht und werde niemals begreifen, dass es ein Vergnügen sein kann, so an allen Gebilden, Gegenständen, die unsere schöne Erde aufweist, vorüberzurasen, als wenn man toll geworden sei und rennen müsse, um nicht elend zu verzweifeln.“

(Robert Walser)

*) Hier stand zunächst „schmilzenden“, weil ich bislang annahm, die intransitive Form des Verbs wäre so korrekt („Der Schnee schmilzt“), wohingegen nur die transitive Form „schmelzen“ hieße („Die Sonne schmelzt das Eis“); ähnlich wie „gehangen“ und „gehängt“ beim Verb „hängen“. Doch die rote Mahnung der Textverarbeitung und anschließende Recherche belehren mich eines anderen. Wieder was gelernt.