Dieser Aufsatz entstand am sonnigen 14. August im Johannapark zu Leipzig. Eine Reise, die ich von Anfang bis Ende sehr genossen habe.
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Ich war noch niemals in New York, und ich muss da auch nicht hin. Nicht nur deshalb, weil ich Gefangener meiner klischeehaften Annahme bin, alle Amerikaner seien total bekloppt – entweder Waffenliebhaber, evangelikale Extremisten oder Rassisten, oder eine beliebige Kombination aus allen dreien. Vor allem aber, weil ein Aufenthalt in dieser angeblich niemals schlafenden Stadt, allein das schon eine entsetzliche Vorstellung, eine längere Flugreise voraussetzt.
„Ich reise total gerne“ ist eine der häufigsten Aussagen neben „Ich mache total gerne was mit Menschen“, befragt man vor allem junge Leute nach ihren Vorlieben. Diesen Aussagen kann ich nur eingeschränkt zustimmen. Während sich der Umgang mit anderen Menschen nicht gänzlich vermeiden lässt, was grundsätzlich nicht schlimm und in einem bestimmten Rahmen sogar wünschenswert erscheint, reise ich im Allgemeinen nur sehr ungern.
Das beginnt bereits in der Nacht vor der Reise. Egal ob per Bahn, Flugzeug, Auto oder – seltener – Schiff, wohnt eine unschöne Nervosität in mir, welche mich im Halbstundentakt aufweckt und dazu zwingt, auf den Wecker zu schauen, auf dass ich rechtzeitig das Bett verlasse, um pünktlich am Bahnhof oder Flughafen einzutreffen, was im Falle einer Flugreise besonders lästig erscheint, da vor dem Abflug ja noch eine längere Anreise zum Flughafen und eine angemessene Vorlaufzeit für Einchecken und Sicherheitskontrollen und Finden des richtigen Flugsteiges einzukalkulieren sind. Flugreisen mag ich schon deshalb von allen am wenigsten, wobei ich von Flugangst glücklicherweise verschont bin. Außer Landeanflüge – die machen mich immer noch nervös, und auch wenn es verpönt ist, zähle ich zu den Landungsklatschern, wenn auch nur innerlich. Ansonsten ist zu den Unannehmlichkeiten des Fliegens bereits genug geschrieben, gesagt und gefilmt worden, daher spare ich mir und Ihnen hier weitere Ausführungen zu Rückenlehnen und Tomatensaft. Wer mehr dazu erfahren möchte, dem sei die bekannte Szene von Loriot empfohlen, welche trotz ihrer Entstehung in den Siebzigern bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Für mich bleibt jedenfalls rätselhaft, warum sich Menschen für zehn Stunden oder länger freiwillig in so ein Flugzeug setzen, um ferne Orte zu erreichen, zum Beispiel New York.
Ähnliches gilt für Bahnreisen, worüber schon ganze mehr oder weniger originelle Bücher geschrieben worden sind. Gleichwohl empfinde ich eine Reise im Zug für mich immer noch als die angenehmste Art der Überwindung längerer Strecken. Ich kann dabei lesen, schreiben, die Augen schließen, oder, was mir das angenehmste ist, die durchfahrene Landschaft einfach untätig an mir vorüberziehen lassen, und das stundenlang. Eine Fahrt durch das Mittelrheintal gehört für mich zu den schönsten Genüssen. Die junge Generation kennt das nicht mehr, weil sie von Ein- bis Ausstieg mit ihren Datengeräten beschäftigt ist; Qualitätsmerkmal einer Zugreise ist für sie nicht mehr ein schöner Fensterplatz, sondern WLAN und die Nähe zu einer Steckdose. Ja, auch euch, junge Freunde, sind diese Zeilen gewidmet; solltet ihr während einer Bahnfahrt durch einen dummen Zufall auf diesen Aufsatz geraten sein, so traut euch, nachdem ihr ihn weggeklickt habt, den Blick zu erheben und aus dem Fenster zu schauen, es lohnt sich. Es sei denn, ihr habt das Pech, einen dieser blöden Sitze genau zwischen zwei Fenstern erwischt zu haben, der nur einen Blick gegen die graue Wand gewährt. Wobei es nur noch eine Frage der Zeit sein wird, bis Reisezüge gar keine Fenster mehr aufweisen, zum einen weil sie ohne diese kostengünstiger zu produzieren sind, zum anderen, weil niemand sie vermissen wird, siehe oben. Da immer mehr Güter per LKW transportiert werden, könnte die Bahn dann auch nicht mehr benötigte Güterwagen in einem großen Umbauprogramm einer neuen, sinnvollen Verwendung zuführen. Die örtlichen Nahverkehrsbetriebe machen es bereits vor, indem sie Busse und Bahnen von oben bis unten mit Werbung zukleben, die Fenster flächendeckend bedeckt mit einer netzartigen Folie, welche gerade noch die Unterscheidung ermöglicht, ob es draußen gerade hell oder dunkel ist, nicht jedoch einen Blick auf die städtebaulichen Perlen in München-Neuperlach, Bonn-Tannenbusch oder Bielefeld-Baumheide gewährt.
Doch auch vor Beginn einer Bahnreise steht der Weg zum Bahnhof. Dort angekommen, erwartet den Reisenden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine der folgenden Optionen: Wegen a) Personen im Gleis, b) einer Stellwerk-/Triebfahrzeugstörung oder c) der bekannten, gleichwohl mysteriösen „Verzögerungen im Betriebsablauf“ hat der Zug eine Verspätung von zurzeit fünfundvierzig Minuten. Oder: Wegen Bauarbeiten wird der Zug heute umgeleitet und hält auf der anderen Rheinseite in Bonn-Beuel. Oder: Wegen einer Systemstörung gelten Sitzplatzreservierungen heute leider nicht, wir danken für Ihr Verständnis. Oder gerade der Wagen mit IHRER Reservierung fehlt heute im Zugverband, die Oberzugleitung ist noch auf der Suche nach ihm.
Ein geflügelrädertes* Wort besagt, die Bahn habe vier natürliche Feinde: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Aus eigener Erfahrung möchte ich einen fünften hinzufügen: Hamm in Westfalen. Dort treffen die beiden ICE aus Köln und Düsseldorf kurz nacheinander ein, werden zusammengekuppelt und fahren gemeinsam nach Berlin. Vielleicht liegt es an der traditionellen rheinischen Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf und der daraus notwendigerweise folgenden Nichtvereinbarkeit beider Mentalitäten, ich weiß es nicht, jedenfalls: Das klappt so gut wie nie. Entweder kommt einer der Zugteile mit erheblicher Verspätung an, oder das Zusammenkuppeln führt zu einer technischen Störung, welche die Weiterfahrt um mindestens zwanzig Minuten verzögert. Folgendes trug sich zu:
Mein Zug aus Köln traf planmäßig in Hamm ein, kurz darauf pünktlich der Düsseldorfer. Ein kleiner Ruck, alle einmal kurz genickt, dann waren beide Teile vereinigt. Erste Durchsage: „Wegen einer technischen Störung verzögert sich unsere Weiterfahrt um einige Minuten.“ So weit keine Überraschung. Zweite Durchsage: „Wegen einer Streckensperrung zwischen Bielefeld und Hannover wird unser Zug umgeleitet, voraussichtliche Ankunft in Hannover etwa fünfundvierzig Minuten später.“ Wer nun die Abfahrt des Zuges erwartete, irrte, denn: „Leider besteht die technische Störung immer noch, so dass sich unsere Abfahrt weiterhin verzögert.“ Doch dann die überraschende Auflösung: „Die Streckensperrung ist inzwischen aufgehoben, wir können unsere Fahrt nun planmäßig über Bielefeld fortsetzen.“ Somit kam ich dank der Störung mit nur dreißig statt der angekündigten fünfundvierzig Minuten Verspätung in Hannover an. Das hat wohl irgendwas mit Dialektik zu tun.
Kürzlich erlebte ich eine mir neue Spielart der Hammer Variationen: Beide Zugteile trafen mit nur leichter Verspätung ein, jedoch hielt der Düsseldorfer Zug nicht hinter dem Kölner, sondern neben diesem; irgendein technisches Problem verhinderte seine Weiterfahrt, vielleicht war die Kaffeemaschine im Bordbistro defekt. Somit mussten seine bedauernswerten Fahrgäste in unseren Zugteil wechseln, welcher seine Reise nach Berlin unvereinigt fortsetzen musste, mit einer ungenügenden Anzahl an Sitzplätzen. Daher kurz darauf die Ansage: „Unser Zug ist sehr voll, wir bitten einige Fahrgäste, freiwillig in Bielefeld auszusteigen, Weiterfahrt mit ICE blablabla um dreizehn Uhr wasweißich.“ Zur Belohnung sollten die Freiwilligen im Reisezentrum zu Bielefeld einen Gutschein über fünfundzwanzig Euro erhalten. Wie viele Freiwillige es am Ende gab, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings hatte ich den Eindruck, in Bielefeld seien noch ein paar zugestiegen, vielleicht irre ich mich auch.
Doch auch wenn alles klappt und ich einen wunderbaren Fensterplatz mit Rheinblick mein Eigen nenne, bleibt es kompliziert. Hiermit meine ich nicht die bereits vielbesungenen zwischenmenschlichen Störfälle wie sekttrinkende Damenkegelklubs mittleren Alters, Mobilschwätzer und den Geruch hartgekochter Eier; meine Komplikationen sind eher intrinsischer Natur. Erstens: Reise ich mit Gepäck, so liegt mein Packstück üblicherweise über mir in der Ablage. Da liegt es sicher, gut und stört niemanden. Ein kleiner innerer Dämon zwingt mich dazu, etwa alle zehn Minuten nach oben zu schauen, ob es noch da ist, nicht dass es jemand in einem Moment der Unaufmerksamkeit entwendet hat und sich nun meiner getragenen Socken erfreut, oder es sich aus sonstigen Gründen in Luft aufgelöst hat, heutzutage passieren ja die merkwürdigsten Dinge. Zweitens: mein Misstrauen gegenüber dem Reservierungssystem. Reise ich ohne Sitzplatzbuchung auf einem laut Anzeige freien Platz, so zwingt mich derselbe Dämon, etwa alle fünf Minuten nach der Anzeige zu schauen, ob nicht inzwischen doch eine Reservierung vorliegt und ich in Mainz barsch meines Sitzes verwiesen werde. Das ist relativ praktisch bei Reisen MIT Gepäck und OHNE Reservierung, dann ist das immer nur ein Aufschauen für beide Zwecke.
Es wird Sie nicht interessieren, aber wussten Sie, dass die damalige Deutsche Bundesbahn es ‚Angebotsumstellung‘ nannte, wenn sie Bahnstrecken stilllegte und durch den Bahnbus ersetzte? Auch in der DDR wurden Bahnstrecken stillgelegt, die Deutsche Reichsbahn verkaufte das dann als ‚Verkehrsträgerwechsel‘. Welches von beiden der schönere Euphemismus ist, mag jeder für sich entscheiden. Wechseln auch wir nun den Verkehrsträger und kommen zum Auto.
Reisen mit dem Auto mag ich nicht. Die meisten halten sich für gute, wenn nicht gar die besten Autofahrer. Ich nicht. Ich fahre sehr ungern, und wenn, dann äußerst ungeschickt, dazu stehe ich. Als Mann sagt man so etwas eigentlich nicht, das wäre so, als gäbe man preis, man habe einen winzig kleinen Penis, und den haben wir natürlich nicht, oder, meine Herren? Hö hö. Verlassen wir die Zotenzone schnell wieder, dieses Blog soll sauber bleiben. Zurück zum Verkehr, hö hö. Auch meine Qualitäten als Beifahrer sind begrenzt. Stets fährt der Fahrer zu schnell, zu dicht auf, unnötig auf der linken Spur, er vergisst zu blinken, ignoriert rechts vor links oder fummelt an irgendwas herum. Deshalb sitze ich bei längeren Autofahrten am liebsten hinten.
Aber nicht nur das Reisen an sich, auch der eigentliche Zweck einer Reise, nämlich der Aufenthalt an einem fernen Ort, vermag mich nicht immer mit Dankbarkeit und Freude zu erfüllen. An erster Stelle wären da Geschäftsreisen zu nennen: stundenlange An- und Abreise, womöglich gar mit Übernachtung, für einen Termin von zwei bis drei Stunden. Das Schlimmste daran ist das Aufwachen am Morgen im Hotel und das anschließende Frühstück mit fremden Menschen in einem vollen, lärmenden Frühstückssaal, dazu die in fast allen Hotels lächerlich kleinen Saftgläser, in die man sich wahlweise Orangen- oder Multivitaminsaft zapfen kann. Üblicherweise trinke ich eins direkt an der Zapfstelle, zwei nehme ich mit an meinen Platz.
Urlaub dagegen ist ganz was anderes: Ein bis drei Wochen Südfrankreich sind immer wieder ein Genuss, selbst die zehnstündige Autofahrt dorthin empfinde ich trotz obligatorischem Stau in Lyon nicht mehr als störend, sie ist vielmehr bereits Teil des Urlaubs.
Doch auch die längste Reise ist irgendwann zu Ende. Klingt wie ein mehrfach abgedroschener Kalenderspruch, ist aber so. Manchmal empfinde ich die Ankunft geradezu als schmerzhaft, zum Beispiel wenn der Zug nach einer behaglich beheizten winterlichen Reise am fernen Zielbahnhof ankommt, wo mich eisige Kälte und ein langweiliger geschäftlicher Termin erwarten.
Auch dieser Aufsatz ist nun am Ende. Sofern Sie bis hierhin gelesen haben, entscheiden Sie bitte für sich selbst, ob Sie darüber froh sind oder gerne noch ein wenig weiter gelesen hätten.
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* Flügelrad, das: internationales Symbol der Eisenbahn