Montag: Wo Menschen unterschiedlichen Charakters zusammenleben, kommt es mitunter zu Reibungen, auch und gerade so kurz vor Weihnachten. Doch verursacht Reibung bekanntlich Wärme, und die können wir gut brauchen, nicht nur zu Weihnachten.
„Vielfalt steigert das Aufnahmevermögen: beim Kunstgenuss, bei der Pflege von Freundschaften. Manchmal beim Sex. Ein komplexes Thema“, so die Ernährungsforscherin Barbara Jean Rolls im SPIEGEL auf die Frage, ob wir mehr essen, wenn das Angebot abwechslungsreich ist.
Vor fast genau sieben Jahren, konkret am 20.12.2012, endete ein Tagebuch–Eintrag so: „Ach ja, laut Maya-Kalender geht morgen angeblich die Welt unter, somit war dies dann der letzte Eintrag. Sollte es so sein: Mein Leben auf dieser Erde war sehr schön!“ Drei Tage später dieses: „Wider Erwarten ist die Welt am Freitag doch nicht untergegangen. Stattdessen war ich am Freitagabend in der Stadt, Weihnachtsgeschenke kaufen; viel schlimmer hätte ein Weltuntergang auch nicht sein können.“
Dienstag: Während ich die Autos auf den Straßen und die Menschen auf den Bahnsteigen betrachte, frage ich mich, um wie vieles diese Welt friedlicher sein könnte, wären wir nicht bestrebt, ständig den Aufenthaltsort zu wechseln und Waren durch die Gegend zu schicken. Nicht nur zur Weihnachtszeit.
Mittwoch: Zum Beispiel von Bonn nach Ostwestfalen, wo wir heute und morgen den familiären Fest-Pflichten nachkommen. Wofür braucht man eigentlich Weihnachten?
Das Wort „Engentado“ kommt übrigens aus dem Spanischen, es bezeichnet den Wunsch nach Einsamkeit.
Donnerstag: Alle Lieben gesehen, alle Geschenke* verteilt und empfangen, viel gegessen und (vielleicht etwas zu viel) getrunken, viel gelacht, unter anderem über freilaufende Eier und die Frage: „Wo waren wir nochmal morgen?“ Gestaunt über ein Feuerzeug: Nicht eines mit gas- oder benzingenährter Flamme, sondern klimaschonend elektrisch, mit Lichtbogen oder so, fragen Sie mich nicht. Das Erstaunliche daran war allerdings nicht die Antriebsart, sondern ein Nebeneffekt. Bei Betätigung erzeugt das Gerät einen offenbar äußerst fiesen Ton, den nur Menschen unter dreißig wahrnehmen. Von so etwas hörte ich schon mal, dabei ging es, wenn ich mich recht erinnere, um Geräte zur Vergrämung Jugendlicher von beliebten Lungerstätten. Nun erlebte ich es in eigener Anschaung: In der anderen Ecke der Stube gaben sich die in den Zwanzigerjahren und somit der frischen Blüte ihres Lebens stehenden Neffen und Nichten dem Kartenspiel hin, mit richtigen Papierkarten und nicht etwa einer Kanaster-App. Jedes Mal, wenn nun jemand im Raum das Ding anschaltete, hielten sie sich schmerzverzerrt die Ohren zu und riefen herüber „Aua, mach das aus!“, während wir Alten beim Geplauder über vergangene Zeiten nicht den leisesten Piep vom Feuerzeug ausgehend hörten. Auch die älteste Nichte hörte nichts und fand das richtig doof, weil sie mit ihren zarten zweiunddreißig sich demnach nun auch zu den Alten zugehörig fühlen darf.
An den zwei Tagen etwa fünfhundert Kilometer mit dem Auto gefahren, nachmittags wieder zu Hause. Jetzt kann Weihnachten beginnen.
Woanders auch: „Wir schauten dann die erste Folge Schwarzwaldklinik in der Mediathek um unsere Gehirnzellen auf das traditionelle Traumschiff-Gucken heute Abend herunter zu kühlen …“
* Ach so, nein, nicht alle, ein Geschenk fehlt noch. Das bereite ich mir morgen selbst.
Freitag: Leider ist mein persönliches Selbstgeschenk im zuständigen Fachgeschäft vorübergehend ausverkauft, anscheinend bin ich nicht der einzige Verrückte, der das haben muss. Voraussichtlich im Januar kommt es wieder rein. Das ist nicht schlimm, im Januar freue ich mich auch noch über den Anruf des Fachhändlers, wenn die Ware eingegangen ist. Das finde ich im Übrigen schöner, als es irgendwo zu bestellen und dann auf das Paket zu warten. – Was es ist? Das wird nicht verraten, sonst ist es ja keine Überraschung. Also gut, ein kleiner Hinweis: die 87-fache Verkleinerung eines Gegenstandes, der an einem Montag schon einmal hier Erwähnung fand.
Auf den Besuch des Fachgeschäfts folgte ein nachweihnachtlicher Spaziergang durch die Stadt und an den Rhein. Ohne Notwendigkeit und konkretes Ziel durch die Gegend laufen zu können ist auch ein Geschenk, zudem äußerst kostengünstig.
„Was für ein kleiner Player“, hörte ich im Vorbeigehen eine junge Frau zu einer anderen sagen. Ich weiß nicht, um wen oder was es dabei ging, nach einer Liebesbezeugung klang es jedenfalls nicht.
Aus einem Zeitungsbericht zum 25-jährigen Bestehen der Telekom: „Ausländische Sex-Dienste wurden auf Handvermittlung umgestellt, die Nutzung ging stark zurück.“
Samstag: Abends aßen wir beim Spanier an der Ecke. Mit an unserem Tisch saß ein junges Paar. Zwar gelingt es mir mit zunehmendem Alter immer weniger, bei Hintergrundgeräuschen wie Gaststättengeraune anderer Leute Gespräche zu folgen (was ich nur selten als nachteilig empfinde), doch war offenbar, dass sich beide noch nicht lange kannten, vielleicht hatten sie sich erst kurz zuvor auf Tinder zusammengewischt. Ihn hörte ich fragen: „Du fertigst dann so die Packages?“ Vielleicht war sie in der IT-Branche tätig oder bei einem Versandhändler, was weiß ich, wo überall Packages gefertigt werden. Zwischendurch minutenlange Gesprächspausen, in denen sich dem jeweils eigenen Datengerät gewidmet wurde, vielleicht tinderten sie schon nach dem nächsten Partner, angeblich wollen sich die jungen Leute ja nicht so schnell festlegen, erst recht nicht bei der Partnerwahl. Doch sparte man unterdessen nicht mit dem Austausch von Zärtlichkeiten über Hand und Mund, auch in Kombination. Immerhin, und dafür bin ich den beiden wirklich dankbar, verzichteten sie darauf, sich gegenseitig Speisen zum Mund zu führen, wie man das aus Reklame für Beziehungsbörsen, Traumreisen und Tütensuppe kennt. Hoffen wir, dass der Abend und die Nacht noch einen für beide zufriedenstellen Verlauf nahmen. Ich an ihrer Stelle hätte ihn jedenfalls nicht mehr alleine in die Kälte entlassen, aber das ist ein anderes Thema.
Sonntag: In der Nacht kam ich sehr schlecht in den Schlaf, erst nach vier Uhr betrat ich das Reich wirrer Träume. Was mich solange wach hielt, war weniger die Sorge um das junge Liebesglück, vielmehr verdächtige ich den Espresso nach dem Essen in Verbindung mit den Kaffeebohnen im abschließenden Sambuca. Während ich mich wälzte, fielen mir folgende Zeilen ein:
Nimmst du Kaffee nach dem Essen / kannst die Nachtruh‘ du vergessen.
Nimmst du Kaffee vor der Nacht / bis du um den Schlaf gebracht.
Nimmst du Kaffee nach dem Nach- / tisch liegst du bis morgens wach.
Zugegeben, hinsichtlich der poetischen Qualität eher flachwurzelnd, jedoch immerhin erstaunlich, dass ich mir diesen Mist bis nach dem Aufstehen merken konnte.
Ansonsten erfuhr mein Leben während des Sonntagsspaziergangs insofern einen Wendepunkt, als dass ich nunmehr weiß, es gibt Fabrikschilder für Gehwegplatten.
Noch was zum Thema Alter – Hier bei Frau Postman gelesen und für gut befunden:
„In letzter Zeit – nein, eigentlich schon länger – denke ich oft, wie gut, dass ich nicht mehr so jung bin, dann werde ich die ganz grossen Katastrophen, auf die diese Welt scheinbar unaufhaltsam zusteuert (ich bitte, diese trivial-pathetische Ausdrucksweise zu entschuldigen, ich bin irgendwie noch im Weihnachtsmodus….), höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Das ist noch nicht mal immer so ein schlimmer Gedanke, da es mich, logisch, mit dem Verstreichen meiner Lebenszeit ein klein wenig versöhnt.“
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Verkehrsminister entlassen werden sollte.