Woche 33/2022: Knieleid und Konferenzgeschwätz

Montag: Heimarbeit ist großer Mist, mir ist völlig rätselhaft, warum so viele davon so begeistert sind. Heute ging es nicht anders: Mittags wurde ich abgeholt zu einer Dienstreise bis Mittwoch in Leipzig, da wäre es wenig sinnvoll gewesen, vorher noch ins Werk zu fahren.

Hinzu kam ein gewisses Wehleid wegen der am vergangenen Wochenende zugezogenen Wunden, die sich während der Fahrt in unterschiedlicher Weise bemerkbar machten. Es ist erstaunlich, wie sehr solch vergleichsweise harmlosen Wehwehchen auf das Gemüt drücken, das montags ohnehin in desolatem Zustand ist.

Kurz vor dem Ziel durchfuhren wir heftigen Regen, zum Glück ohne Hagel, Sturm und andere meteorologische Unwägbarkeiten, dafür mit so richtig viel Wasser, das kennt man inzwischen kaum noch. Auch die Temperatur sank vorübergehend auf knapp über zwanzig Grad herunter, so dass ich mir später beim Abendessen draußen ein Pullöverchen überzog. Wenn auch als einziger weit und breit, aber das störte mich nicht.

Auf dem Weg dorthin kam uns eine Gruppe Jugendlicher entgegen. Als wir uns auf Höhe eines Restaurants begegneten, wo, in Restaurants nicht unüblich, welche aßen, zeigte ein Mädel hinein und sprach zu den anderen: „Seht mal, die essen da!“ Geben die Sachsen ihnen Kindern nichts zu essen?

Dienstag: Trotz eines gewissen Hellhörigkeit des Hotels (der Zimmernachbar pfeift sich offenbar gerne ein Liedchen) und der unter dem Fenster deutlich vernehmbaren Straßenbahn schlief ich gut.

Blick aus dem straßenbahnumtosten Hotelzimmer

Erkenntnis aus Tag eins unserer Veranstaltung: Am besten präsentiert man nur aus „Folien“ (erstaunlich, dass das gut zwanzig Jahre nach dem Tageslichtprojektorzeitalter immer noch so heißt), die man selbst erstellt hat; alles andere gerät schnell zu Powerpoint-Karaoke. Es lief dennoch ganz gut. Nachmittags war ich kurz in der Apotheke, Pflaster nachkaufen. Mehr Leipzig brauchte ich heute nicht, auch wenn es zweifellos eine schöne Stadt ist.

Auch wenn die Schönheit der Stadt im Innenhof des Hotels nicht gar so deutlich wird
Hotelhumor

Gelesen hier: „Ich müsste umschulen, auf einen Job, bei dem man nicht denken muss. Man dürfte aber auch nichts anderes machen müssen, denn es ist alles zu anstrengend. Was macht man denn da, was wird man da?“ – Beamter, was sonst? (Ich darf das schreiben, ich bin einer und weiß deshalb, dass diese Art der Selbstpolemik jeglicher Grundlage entbehrt.)

Mittwoch: In unserem Hotel ist jeden Tag Nikolaustag, wenn der Gast es will. Als Zeichen, dass man zur Schonung der Umwelt auf die Zimmerreinigung verzichtet, stellt man nicht seine Schuhe vor die Tür, sondern hängt ein bereitliegendes Jutebeutelchen an die äußere Türklinke. Zur Belohnung wird vom Personal ein Äpfelchen und ein Müsliriegel hinein gelegt, die mir heute Morgen als Frühstück dienten, da ich Hotelfrühstücke bei Veranstaltungen wegen morgendlicher Gesprächsgefahr grundsätzlich meide. Eine kreative Form der Personaleinsparung (an jeder zweiten Klinke hing das Beutelchen), gleichsam für‘n Appel und‘n Ei Müsliriegel.

„Gesundheit/Gesundheit/sundheit/ndheit/heit/t!“ – Warum ich es auf Tagungen und in größeren Gruppen nach Möglichkeit vermeide, zu niesen.

Donnerstag: Die erste Fahrradfahrt ins Werk mit wunden Knien lief besser als gedacht. Dennoch freue ich mich darauf, wenn sie wieder heile sind. Geduld. Geduld ist ja nicht unbedingt des Fahrradfahrers erste Tugend, er wartet ungern, auf grünes Ampellicht etwa oder auf Vorfahrt habende andere Verkehrsteilnehmer. Ich hingegen war heute dankbar für jede Pause; auf dem Rückweg hielt ich vor einem Zebrastreifen, um zwei junge Damen passieren zu lassen. Das schienen sie von Radfahrern nicht gewohnt zu sein, sie schauten leicht irritiert und bedankten sich brav.

Mittags in der Kantine gab es Gnocchi. Das erinnerte mich an ein italienisches Lied, das wir mal im Chor sangen, als ich noch im Chor sang und das ich nicht besonders mochte. Dennoch – oder deshalb, man weiß es nicht – hielt es sich im Hirnradio bis in den Nachmittag hinein. Der Arbeitstag war dennoch recht zufriedenstellend, trotz Kartoffelnockenlied, Knieleid und viel Konferenzgeschwätz.

Abends während der heute-Nachrichten zuckte ich kurz, als der Sprecherin während eines Beitrags über das aktuelle Fischsterben in der Oder ein ungegendertes „Forscher“ entfuhr. So weit ist es schon.

Freitag: Wo Menschen zusammenleben, knirscht es bisweilen, dabei ist es ganz einfach: Vor dem Abfuhrtag holt jemand die Mülltonnen aus ihrer Nische und rollt sie an die Straße, nach der Leerung rollt sie jemand zurück. Grundsätzlich klappt das ganz gut in unserer Hausgemeinschaft. Es sei denn, ein Trottel parkt seinen Roller so dämlich, dass die Nische versperrt ist. Nach Rückkehr aus dem Werk war der Roller verschwunden und die Tonnen standen an ihrem Platz. Es fügt sich immer alles irgendwie.

Bitte denken Sie sich die Tonnen-Nische links vor dem Roller

Im Zusammenhang mit dem leerlaufenden Rhein zitiert die Zeitung einen Lehrstuhlinhaber für Aquatische Systembiologie. Aquatisch – welch herrlich blühende Rose im Wörtersee.

Abends erprobten wir das neue Restaurant am Hotel Kanzler, das erst am Vortag eröffnet wurde, also das Restaurant, nicht das Hotel. Trotz unvermeidbarer Verkehrsgeräusche im Außenbereich, es liegt direkt an der Bundesstraße 9, waren wir sehr zufrieden, daher kommen wir bestimmt wieder. Zurück gingen wir zu Fuß, hinsichtlich Knieweh unproblematisch. Auch der Geliebte, längeren Fußmärschen sonst eher unaufgeschlossen, hielt tapfer durch.

Samstag: Die Stadt Bonn teilt mit, es sei zu einem Verkehrsunfall „mit einem Radfahrenden“ gekommen. Wenn der Sinn des Genderns an seine natürlichen Grenzen stößt.

Abends besuchten wir das Parkfest in Bad Godesberg, wo der Karnevalsverein mit einem Bühnenprogramm und einem Bierstand vertreten war; Wiedersehen macht Freude, wie sich einmal mehr bewahrheitete. Am späteren Abend, als das Bühnenprogramm längst beendet war, wurde etwa eine halbe Stunde lang auf Wunsch mehrerer junger Bierstandbesucher Musik gespielt, die wohl in die Kategorie Mallorca/Ballermann fällt, so genau kenne ich mich da nicht aus, kann mir jedenfalls gut vorstellen, wie zweifelhaft mitgrölende Menschen dazu rotes Getränk durch lange Trinkhalme aus Putzeimern saugen, falls das noch üblich und erlaubt ist. Auch das umstrittene Layla-Lied war dabei, wobei das nach meinem Empfinden noch eines der eher erträglichen war. Immer wieder erstaunlich, an was viele Menschen Spaß haben.

Sonntag: Vom Ballermann nach Bayern – Lotelta war im Allgäu am Niedersonthofener See, also genau dort, wo auch ich Ende September ein paar Tage zu verbringen beabsichtige. Der Bericht verursachte mir größere Vorfreude, wofür ich sehr danke.

Zur Knieschonung verzichtete ich heute auf den Sonntagsspaziergang, las dafür die Sonntagszeitung etwas intensiver als sonst. Darin ein längerer Artikel über die verheerenden Auswirkungen des Schulsportes auf das seelische Wohlergehen nicht so sportbegabter Kinder und Jugendlicher, der mich innerlich „Genau so ist es!“ ausrufen ließ. Daraus:

»Wenn es schlecht läuft, wird der Unterricht als Demütigung und Bloßstellung erlebt. Wöchentliche Stunden, in denen Durchhaltevermögen nicht im Ausdauersport geprobt wird, sondern in der Fähigkeit, trotz Schmach die Aufgaben zu absolvieren. Dank Mannschaftssport und Leichtathletik schält sich heraus, welche Schülerinnen und Schüler nicht so ganz dazugehören.«

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Anscheinend hat sich daran bis heute nichts geändert, noch immer wird dieser Unsinn benotet.

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 16: Konjektaneen aus dem Thesengenerator

Montag: Laut Zeitungsbericht wird Sankt Martin in Nordrhein-Westfalen nun als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Warum ausgerechnet in NRW, geht aus dem Artikel nicht hervor. Weiterhin wurden anerkannt: das Brieftaubenwesen, die Haubergswirtschaft (was auch immer das ist), der Köln-Düsseldorf-Konflikt, die Bolzplatz-„Kultur“ sowie das Knüpfen von Flechthecken. (Eines davon habe ich mir ausgedacht, Sie dürfen gerne raten, was. Tipp: Die Flechthecken sind es nicht.)

Dienstag: Am Morgen in der Bahn sah ich einen etwa zehnjährigen Jungen, der, anstatt sich mit seinem Telefon zu beschäftigen, einen klassischen, analogen Zauberwürfel zu ordnen suchte. Mir ging das Herz auf, und mein Hirnradio spielte Don’t you forget about me.

Mittwoch: Sensation: Eine Zeitungsannonce verkündet die Eröffnung(!) eines neuen Teppichhaus in Bonn.

Das neueste Tröpflein im konzerninternen Floskelgewölk scheint „agil“ zu sein, das nächste große Digitalding „Blockchain“. Nach allem, was ich bisher darüber gelesen habe, weiß ich nur, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, was das ist und kann und wozu es gut ist. Der Junge mit dem Zauberwürfel von gestern könnte es mir bestimmt erklären.

Donnerstag: „Geduld ist auch eine Art von Energie“, stand neulich irgendwo. So gesehen war der Energieaufwand für die von Verzögerungen im Betriebsablauf arg gebeutelte Bahnfahrt im RE 1 von Dortmund nach Köln immens, während derer ich aus dem Fenster schaute und nämliches zusammenhangloses Wortgemisch in mein Notizbuch schrieb: alte Industriehalle, warm, Böschung, Kontrolle, grün, Hochspannungsmast, Dortmund-Marten Süd, blühende Zierkirsche, Graffiti, Regenrückhaltebecken, Sendemast, Beton, stillgelegte Bahntrasse, Forsythien, Fabrikschornstein, langsam, Öltanks, Kleingärten, Reklame, Stellwerk, Bochum-Langendreer, Silo, Gartencenter, hässliches Haus, Sonnenkollektoren, heruntergekommen, Siedlung, schneller, Felder, Autobahn, Sonnenschirm, Hochhaus, Mülltonnen, Brücke, Fachwerk, Gestrüpp, wilder Müll, Bochum Hbf, Gleisbauzug, „Mäckes“, Musical, hackenfrei, warten, Apotheke, kurze Hosen, weiter, abellio, Hotspot, Parkhaus, Kastanie, Kirchturm, trostlos, Container, Diesellok der Baureihe 261 (V 60) in ozeanblau-beige, Tennisplätze, Durst, Stahl, Wattenscheid, Birken, Baumarkt, Kopfhörer, Baracken, Fitnesscenter, Lärmschutzwand, Halde, Siedlung, Friedhof, Tankstelle, Umspannwerk, Essen, Beine, Haare, persönliche Gegenstände, Aldi, Neubau, Altbauten, Straßenbahn, Müllcontainer, Andrang, Kinderwagen, voll, Krawatte, warten, Raucherbereich, weiter, Postamt, Kran, Lagerhaus, Mauer, Gasometer, Moschee, Wald, Teich, blauer Himmel, Mülheim an der Ruhr, Mietfahrräder, Pferdeschwanz, Schrotthändler, Mannesmann, Styrum, Windrad, Kanal, Bunker, Duisburg, Balkone, Satellitenschüssel, Eurobahn, Garagen, Martini, Fernsehturm, Pfeifen, Strohhut, wech, Güterhallen (verfallen), Loveparade, Straßenbahndepot, Kühltürme, Sonne, Vollbremsung, Kreuzung, Ziegenpeter, Torwand, Paletten, Spedition, Paketzusteller, Allee, Rapsfeld, Misteln, Pferde, Strohballen, Traktor, Kopfsteinpflaster, Flughafen, Skytrain, Stacheldraht, Tunnel, dunkel, Aufzug, Rollkoffer, Anzugträger, Sommerflieder (vertrocknete Blüten), jabbelndes Kind, warten, Durchsage (keine), Überholung durch ICE, Düsseldorf, Verspätung, Löwensenf, nun plärrendes Kind,  Fußballplatz, Park, Gärten, Plastikmüll, Benrath, Autohaus, Tannenschonung, Bauernhof, Trinkhalle, See, Leverkusen, Tristesse, Packstation, Drahtfabrik, Köln-Mülheim (hach), Monobloc-Stühle, Dixiklo, Deutz, Messehallen, Rhein, Liebesschlösser.

Freitag: „Mit Fremden unterhält man sich nur, wenn es absolut nicht zu vermeiden ist oder wenn man betrunken ist“, so schrieb Max Goldt in seinem Buch „Die Chefin verzichtet“. Ebenfalls bei Max Goldt las ich folgenden Satz, den er einem gewissen Dieter Steinmann zuschreibt: „Sich unerwünschter Gespräche einigermaßen anstrengungslos verweigern zu lernen, das sollte Schulfach sein.“ Wie richtig beide Aussagen sind, zeigte sich am Abend gegen Ende unseres Restaurantbesuchs anlässlich des Liebsten Geburtstages. Während sich die Wirtin beim Servieren des Desserts uns gegenüber positiv-neutral über die nebenan untergebrachten Flüchtlinge äußerte, glaubte die Dame vom Nebentisch, Teil eines Ehepaares im Pensionsalter aus Bad Godesberg, sich einmischen zu müssen mit Konjektaneen aus dem AfD-Thesengenerator. Kostproben: „Die sollen erstmal unser Grundgesetz lesen.“ – „Wenn das so weitergeht, herrscht bei uns bald die Scharia.“ – „Haben Sie Unterwerfung von Houellebecq gelesen? So wird es hier bald sein, wenn wir nicht aufpassen!“ Es liegt mir fern, anderen Menschen ihre Meinung abzusprechen, und wenn sie noch so abweichend ist. Das verpflichtet mich jedoch nicht, mit ihnen zu diskutieren, schon gar nicht nach vorzüglichem Mahl. Zum Glück kam bald das Taxi, das die beiden in ihre Villa brachte, wo sie vielleicht Steuern hinterziehen.

Samstag: „Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“, so der Titel eines Films in den Siebzigern oder Achtzigern, so genau weiß ich das nicht mehr, die Zeit vergeht ja so schnell. Man hört ein Lied im Radio, denkt sich, kuck an, oder: hör nur, bestimmt auch schon zwanzig Jahre alt, dann, weil man gerade nichts besseres zu tun hat, vielleicht sind die Kinder schon aus dem Haus oder man verzichtete ganz auf Nachzucht, recherchiert man ein wenig und stellt fest, der Song lief schon vor über dreißig Jahren. Man denkt darüber nach, was vor dreißig Jahren sonst noch war: In wen war man verliebt, mit wem zog man durch die Kneipen, was war gut, was schlecht, welche Weichen stellte man richtig, welche falsch, das Leben glich weichentechnisch ja eher noch dem Gleisvorfeld des Kölner Hauptbahnhofs (wohingegen es heute eher einer eingleisige Strecke in Richtung Sonnenuntergang ähnelt); oder einer Backmischung, bei der man die eine Zutat weglässt, dafür die andere hinzufügt, weil man zum Beispiel Kokosflocken verschmäht, dafür Rosinen liebt. Man überlegt, was damals sonst los war in der großen Welt, sofern man sich in jungen Jahren schon dafür interessierte. Wobei ich glaube: Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Offenbar hatte ich bei der Zuteilung meiner ziemlich großes Glück. Heute morgen um sieben war sie jedenfalls in Ordnung. Um elf aber auch noch.

Sonntag: Meine Abneigung gegen den übermäßigen Gebrauch des Wörtchens „okay“ brachte ich schon zum Ausdruck. Während ich es in der klassischen Verwendung als Bestätigungs- und Verstänsnislaut durch Businesskasper und Angehörige der „Generation Genau“ kaum noch wahrnehme, vielleicht ist es inzwischen auch zu einer Gewöhnungslapalie verkümmert, lese und höre ich es immer häufiger in der attributiven Verwendung, zum Beispiel „Ich hatte einen ganz okayen Tag“. Obzwar der aktuelle Duden meint, das sei okay, finde ich es nach wie vor recht unschön.

KW16 - 1