Vielleicht kommt es ganz anders

Vorbemerkung: Dies ist meine persönliche Chronik der Corona-Pandemie, die ich Anfang April 2020 zu schreiben begonnen habe, so wie viele es bereits getan haben oder immer noch tun. Daher empfehle ich Ihnen nicht unbedingt, es zu lesen, Sie werden nicht sehr viel Neues darin finden, das sie nicht – vielleicht besser – schon in anderen Blogs und Artikeln gelesen oder selbst geschrieben haben, außerdem ist es sehr lang geraten. Weiterhin ist es nur ein Zwischenstand, die Seuche ist ja noch längst nicht vorüber. Aber auch eine Idee für einen Thriller, falls Sie sowas mögen. (Wenn nicht, sollten Sie ab dem Bild mit den blühenden Kastanien nicht weiterlesen.)

Im Laufe der Zeit wurde der Text immer wieder an die aktuellen Entwicklungen angepasst. Im Übrigen wäre dieses Blog, das ja dazu dient, den alltäglichen Wahnsinn zu dokumentieren, ohne eine Chronik dieser ungewöhnlichen Zeit unvollständig. Falls es in zehn oder zwanzig Jahren mal jemand lesen sollte, sofern es dann das Blog noch gibt, und jemanden, der es lesen will und kann.

(Hoffentlich letzte Aktualisierung: 2. Februar 2023)

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Als es um den Jahreswechsel 2019/2020 herum hieß, in China sei eine neuartige, rätselhafte Lungenkrankheit ausgebrochen, die zu Todesfällen führt und sich schnell ausbreitet, da war das ungefähr so weit weg wie der Sack Reis, der in China immer wieder mal umfällt. Millionenstädte wurden abgeriegelt, Reisen untersagt, was nur in einem totalitären Staat wie eben China denkbar schien. Die Fernsehbilder von zahlreichen Baggern, die sich scheinbar unkoordiniert auf einer durchwühlten Fläche drehten, angeblich, um innerhalb weniger Tage ein Notkrankenhaus zu errichten, tat ich zunächst als Propaganda der Regierung ab, um der Welt zu zeigen: Wir tun was, haben die Sache im Griff. Dann wurde klar: Die bauen wirklich ein Krankenhaus, nicht nur eins. Die Sache war offenbar ernst.

Kurz darauf wurde vor Reisen nach China, vor allem in die betroffenen Gebiete, offiziell gewarnt. Die menschliche Rationalität erfuhr erste Aussetzer, wie so oft, wenn Unheil droht, wenn auch zunächst diffus und unbestimmbar: Menschen aus China, egal aus welcher Region, Menschen mit asiatischer Physiognomie, egal woher, wurden plötzlich angefeindet und diskriminiert.

Bei uns, wie auch sonst überall außerhalb Chinas, ging das Leben unterdessen seinen gewohnten Gang: Wir fuhren zur Arbeit, auf den Autobahnen die täglichen Staus, wir konsumierten, reisten, machten Kreuzfahrten, feierten Karneval, Partys, spielten und schauten Fußball, machten Skiurlaub, natürlich mit Apres Ski. Die Kalender waren voll mit Terminen, privat wie beruflich: geplante Urlaube, Wochenendausflüge, Dienstreisen. Politiker beschimpften sich wie üblich, die Wirtschaft wuchs, weil Wachstum wichtig ist, Menschen wurden wegen ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe oder aus anderen Gründen getötet oder in die Flucht getrieben; der ganz normale Wahnsinn.

Dann kam das Virus näher: Norditalien, Spanien, Österreich, Frankreich. Menschen erkrankten, manche schwer, einige starben. Man relativierte: Schließlich starben jährlich Tausende an der Grippe, im Straßenverkehr und an den Folgen des Rauchens und von Alkohol, da würde es schon nicht so schlimm sein. Dennoch waren Corona und Covid-19 nun jedermann ein Begriff. Es erinnerte an vergangene Epidemien wie Schweinegrippe, Sars, H1N1, EHEC, und wie sie alle hießen, längst vergessen, wann war das nochmal gewesen … Damals hatte es auch geheißen: Husten und Niesen nur in die Armbeuge, Hände möglichst gründlich waschen. Auf Toiletten hingen nun wieder bebilderte Anleitungen zum korrekten Händewaschen. Das ganze hatte etwas von einem Thriller, wie „Der Schwarm“ von Frank Schätzling: Man liest es mit einer Art angenehmem Schauder, ist aber selbst nicht betroffen, weil entweder Fiktion oder weit weg.

Aber so weit weg war es nicht mehr, die ersten Fälle nun auch in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen, Kreis Heinsberg, das war nun wirklich nah! Jetzt wurden nicht nur Menschen mit asiatischem Aussehen angefeindet, sondern auch die mit „HS“ als Kfz-Kennzeichen, wenn sie sich über ihre Kreisgrenze wagten. Unterdessen die ersten Einschränkungen des öffentlichen und geschäftlichen Lebens in Italien, Spanien, Österreich und Frankreich, um die weitere Verbreitung des Virus aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen. Menschen durften sich dort nicht mehr frei bewegen, Geschäfte, die nicht lebensnotwendig waren, mussten schließen, bald auch Kneipen und Restaurants. Krankenhäuser waren überfüllt, Ärzte und Personal an ihren Grenzen. Nicht mehr allen Erkrankten konnte geholfen werden, viele starben, vor allem Alte mit Vorerkrankungen, aber bei Weitem nicht nur die. Drohte uns das bald auch in Deutschland?

Bei uns wurden zunächst Veranstaltungen ab tausend Personen untersagt, kleinere blieben erlaubt; allenfalls wurde empfohlen, darauf zu verzichten. Auch wir fragten uns: Sollten wir wirklich noch zur Feier des sechzigsten Geburtstags des Schwagers nach Bünde fahren? Wir fuhren, es war vorläufig unsere letzte Reise und die letzte größere Ansammlung von Menschen, deren Teil wir waren. Es ging gut, und doch fühlte es sich falsch an, verboten. Das Hotel, in dem wir übernachtet hatten, musste kurz darauf für privat Reisende schließen, wie alle Hotels. In Bünde sah ich erstmals leergekaufte Supermarktregale. Der Thriller wurde realer.

Die menschliche Vernunft ging weiter zurück: Viele hielten sich nicht an die Kontaktbeschränkungen, manche feierten sogar „Corona-Partys“. Und sie kauften Unmengen Toilettenpapier, als hinge ihr Leben davon ab; wochenlang war es Glückssache, noch eine Packung zu erstehen. Außerdem Nudeln und Mehl, warum ausgerechnet Mehl, was machten sie damit? Dabei gab es keine Engpässe in der Versorgung, wie Handel und Politiker nicht müde wurden zu betonen, es war grundsätzlich genug von allem für alle da. Oder wäre gewesen, wenn jeder nur so viel gekauft hätte, wie er benötigte. Der Konjunktiv bekam Konjunktur in diesem Jahr. Das, was wir „zivilisiertes Verhalten“ nennen, erwies sich als ein dünner Faden, der schnell reißt, sobald wir glauben, die Kontrolle zu verlieren, uns übervorteilt oder bedroht fühlen oder schlicht Angst haben.

Ein wenig erinnerte mich die Situation an 1986, als aus Tschernobyl die radioaktive Wolke zu uns kam und wir sehr verunsichert waren wegen dieser unsichtbaren Gefahr, ängstlich unter das nächste Dach liefen, sobald ein paar Regentropfen fielen, kein Wild und keine Waldpilze mehr aßen. Und doch war ich jetzt guter Hoffnung, es würde mich und mir nahestehende Personen nicht treffen. Allein von den Fallzahlen her war die Wahrscheinlichkeit einer Infektion mit schwerem Krankheitsverlauf gering. Noch.

Die Woche darauf verkündete die Bundeskanzlerin erst in einer Pressekonferenz, dann in einer Ansprache ans Volk weitreichende Einschränkungen auch bei uns: Keine Veranstaltungen, keine unnötigen Reisen wie Urlaub, keine Restaurantbesuche, die Wohnung nur noch verlassen, wenn es unvermeidbar ist, wie zur Arbeit oder zum Einkaufen; grundsätzlich maximal zu zweit und mit mindestens eineinhalb Meter Abstand zueinander. Abstand wurde zu einem der meist gebrauchten Wörter des Jahres. Viele Geschäfte mussten nun auch in Deutschland schließen, zudem alle Kneipen, Bars, Theater, Museen, Friseure, Universitäten und Schulen. Keine Konzerte, Gottesdienste, Sportveranstaltungen, sogar die Fußball-Europameisterschaft und Bundesliga wurden abgesagt. Kurz: Alles, wo Menschen zusammenkamen aus nicht lebenswichtigen Gründen. Die meisten Grenzen zu den Nachbarländern wurden geschlossen und Mecklenburg-Vorpommern ließ niemanden aus anderen Bundesländern mehr rein. Der Stillstand bekam einen eigenen Namen, nein zwei: wahlweise „Lockdown“ oder „Shutdown“. Irgendwer fing damit an, bald plapperten es alle nach.

Viele Firmen ordneten, soweit möglich, Heimarbeit an, oder sie stellten den Geschäftsbetrieb ganz ein, wie die großen Autohersteller. Ich selbst wollte und durfte weiterhin ins Büro fahren, fuhr nur noch mit dem Fahrrad dorthin, auch bei Regen und Kälte. Die Stadtbahn mied ich, obwohl die Bahnen anfangs fast leer durch die Gegend fuhren, sicher ist sicher. Ich war froh, noch ins Büro zu dürfen, obwohl ich ebenfalls zu Hause hätte arbeiten können. Es gab meinen Tagen Struktur und die mir wichtige Trennung Arbeit – Privat blieb erhalten. Der Autoverkehr auf den Straßen ging drastisch zurück, die Staumeldungen im Radio fielen ungewohnt kurz aus.

Die Reise- und Tourismusbranche kam fast zum Erliegen, die meisten Flugzeuge blieben am Boden, Kreuzfahrtschiffe lagen fest. Die Natur konnte ein wenig aufatmen. Wie mochte es jetzt in Playa del Ingles auf Gran Canaria sein, wo wir früher so oft waren, einem Ort, der fast ausschließlich aus Hotels und Ferienappartements und einer rein auf den Tourismus ausgelegten Infrastruktur bestand? Gespenstisch leer vermutlich, vor allem nachts.

Ich fragte mich, wie lange die Bevölkerung noch ruhig und zu Hause blieb, den Empfehlungen der Regierung folgte, die beschlossenen und verkündeten Maßnahmen und Einschränkungen akzeptierte. Kam es irgendwann zu Unruhen, Gewalt, Plünderungen? Die Menschen bereiteten mir viel mehr Sorgen als das Virus. Wie lange war die Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt? Hielten die Menschen in den sogenannten „systemrelevanten“ Berufen – Ärzte, Polizisten, Verkäufer, Zusteller, Feuerwehr und andere – noch lange durch? Was passierte, wenn nicht?

Anfang April lebten wir seit drei Wochen im Ausnahmezustand, der mit großer Wahrscheinlichkeit noch einige Wochen anhalten würde, auch wenn die Stimmen nicht nur aus der Wirtschaft laut wurden, dass wir das nicht mehr lange durchhielten. Aber was war die Alternative? Die Zahl der Infektionen stieg weiter, fast 100.000 Fälle und 1.500 Tote, aber immerhin auch 26.000 Genesene in Deutschland; über letztere wurde in den Medien wenig berichtet.

Persönlich empfand ich mich nur wenig eingeschränkt, vielmehr konnte ich der Situation auch durchaus Gutes abgewinnen: In absehbarer Zeit gab es keine Dienstreisen, fast alle privaten Verpflichtungen waren ausgesetzt oder ganz gestrichen. Ich musste abends nicht mehr raus zu Vereinsaktivitäten, die mir schon vor der Pandemie zunehmend lästig geworden waren. Früher waren freie Wochenenden ohne Termine ein Geschenk, nun wurden sie zur Regel. Ich durfte weiterhin spazieren gehen und war gewissermaßen gezwungen, regelmäßig Fahrrad zu fahren. Und ich habe keine Kinder, die ich nun den ganzen Tag bespaßen und beschulen musste, weil sie nicht zur Schule gehen konnten. („Homeschooling“ ist auch eins dieser unsäglichen, nachgeplapperten Wörter, die dieses Jahr hervorgebracht hat.) Ich glaube, wenn ich Kinder hätte, käme ich nachts nicht in den Schlaf aus Sorge um deren Zukunft, auch wenn diese Seuche irgendwann vorüber sein sollte; andere Krisen, allen voran der Klimawandel, gehen weiter.

Natürlich gab es einiges, was ich vermisste: Die Woche Urlaub in Südfrankreich nach Ostern. Die gebuchte Schifffahrt zu „Rhein in Flammen“ Anfang Mai. Restaurantbesuche. Mit Freunden ins Ahrtal fahren, mit anschließender (W)Einkehr. Aber was waren das für Probleme, verglichen mit denen Anderer? Die infiziert oder erkrankt waren. Die bereits Angehörige verloren hatten. Die ihre Lieben im Krankenhaus oder Pflegeheim nicht besuchen durften. Die sich Sorgen um ihre berufliche Zukunft machen mussten. Die irgendwo in einem fernen Land oder auf einem Kreuzfahrtschiff festsaßen und nicht nach Hause konnten. Die in einem Flüchtlingslager lebten. Obdachlose. Nein, uns ging es gut, es fehlte an nichts.

Die Maßnahmen wirkten: Die Zahl der Neuinfektionen ging zurück, im Mai wurden die Einschränkungen teilweise aufgehoben. („Lockerungen“ wurde ein weiteres Wort des Jahres.) Läden, Restaurants, Friseure, Schulen und Kirchen öffneten wieder, unter strengen Auflagen: Sie durften nur mit Mund-Nasen-Schutzmaske betreten werden, deren Wirksamkeit noch wenige Wochen zuvor bei Politikern und Wissenschaftlern umstritten war, was vielleicht auch daran lag, dass es anfangs nicht genug Masken für alle gab. Nun gab es sie in rauen Mengen, von einfachen Einwegmasken bis hin zu modischen Designerstücken mit lustigen Motiven. Beim Betreten der Läden musste man sich die Hände desinfizieren, in Restaurants Namen und Kontaktdaten hinterlassen, zur „Kontaktpersonennachverfolgung“, eine weitere Wortgeburt dieses Jahres. Wir durften also wieder raus, Leute treffen, in die Büros, mit Einschränkungen reisen. Auch Fußballspiele vor reduziertem Publikum waren wieder möglich. Die „neue Normalität“ wurde ausgerufen. Man fuhr und flog wieder in den Urlaub, nach Mallorca, Italien, in die Türkei – die meisten jedoch blieben im Inland. Nord- und Ostseeküste erlebten einen Andrang wie lange nicht mehr.

In der Bevölkerung regte sich Widerstand gegen die angeordneten Maßnahmen, die weiterhin Bestand hatten, allen voran die Maskenpflicht. Das reichte von „ist doch nicht viel schlimmer als eine Erkältung“ bis hin zu absurden Verschwörungstheorien, wonach das Virus nur eine ausgedachte Gefahr war, um das Volk zu versklaven. In Berlin, Stuttgart und anderen Städten gingen die Leute deswegen auf die Straßen, Regenbogenfahnen marschierten neben Reichskriegsflaggen.

Der Sommer wurde heiß, viele junge Leute pfiffen weiterhin auf die Regelungen und Abstand, trafen sich, da Diskos und Clubs geschlossen waren, in Parks, auf Plätzen, am Rheinufer; tranken, feierten, sahen es überhaupt nicht ein, sich einschränken zu lassen. Mehrfach löste die Polizei Ansammlungen auf, was häufig auf Widerstand stieß und immer wieder Gewalt auslöste.

Einige Staatspräsidenten verharmlosten die Gefahr und weigerten sich, Masken zu tragen, gerade solche mit besonders hohen Infektionszahlen in ihrem Land, etwa Brasilien, Großbritannien, die USA oder Weißrussland. Folgerichtig fingen sie sich selbst das Virus ein, wobei nur Boris Johnson, der britische Premierminister, nennenswerte Symptome aufwies, während die anderen – Trump, Bolsonaro, Lukaschenko -, glimpflich davonkamen und hinterher umso überzeugter verkündeten, das Virus sei ungefährlich, obwohl bereits Tausende aus ihrer Bevölkerung daran gestorben waren.

Die meisten jedoch waren vernünftig und hielten sich an die Einschränkungen. Aber was nützte das alles, solange es keine Impfung und kein Medikament gab? Wahrscheinlich müssten wir bestimmte Vorsichtsmaßnahmen noch lange Zeit beibehalten: Hände häufig waschen, keine Umarmungen und Küsschen zur Begrüßung, keine Hände schütteln, Abstand halten. Immerhin: Wenn Händeschütteln durch diese Krise dauerhaft abgeschafft würde, hätte sie wenigstens etwas Gutes bewirkt.

Große Veranstaltungen wurden abgesagt: das Oktoberfest in München, die Karnevals-Session, Weihnachtsmärkte. Dennoch galt es, einen weiteren Stillstand um jeden Preis zu vermeiden, weil man befürchtete, große Teile der Wirtschaft würden den nicht überstehen.

Im Herbst, nach Rückkehr der Urlauber, stiegen die Infektionszahlen wieder an. Zunächst langsam, bald rasant. Fast alle angrenzenden Länder wurden zu Risikogebieten erklärt, wer dorthin reiste, musste hinterher einen negativen Corona-Test vorweisen oder sich in Quarantäne begeben. Einige Länder verschärften die Maßnahmen wieder drastisch, verhängten Ausgangssperren. Auch immer mehr Regionen in Deutschland waren betroffen. Die Bundeskanzlerin beriet sich mit den Ministerpräsidenten der Länder, was zu tun sei, doch es gelang zunächst nicht, sich auf einheitliche Regelungen zu einigen. Die Maskenpflicht wurde verschärft, auch draußen sind seitdem Mund und Nase zu bedecken überall dort, wo viele Menschen sind, vor allem in Fußgängerzonen. Als Brillenträger läuft man nun noch häufiger im Nebel herum. Für die Gastronomie wurde die Sperrstunde eingeführt. Immerhin gab es noch Gastronomie.

Zum November einigten sich Bund und Länder auf neue Beschränkungen, nicht ganz so drastisch wie im Frühjahr: Befristet für zunächst vier Wochen mussten Gaststätten wieder schließen, Veranstaltungen wurden untersagt, maximal fünf Personen aus unterschiedlichen Haushalten durften sich öffentlich treffen. Immerhin gab es keine Ausgangssperren wie in anderen Ländern, zum Beispiel Frankreich. Geschäfte und Schulen blieben geöffnet, der Profisport durfte ohne Zuschauer weiter betrieben werden, vermutlich ließ sich damit auch so noch genug Geld verdienen.

Es gab Hoffnung: Im November meldeten mehrere Unternehmen, einen wirksamen Impfstoff entwickelt zu haben. Doch der musste erstmal zugelassen, in erforderlicher Anzahl hergestellt und verteilt werden.

Die Neuinfektionen gingen unterdessen nicht zurück, täglich meldete das Robert-Koch-Institut eine fünfstellige Zahl an neu Infizierten, auch die Zahl der „an oder mit“ Corona Gestorbenen stieg an. Daher einigten sich Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten auf eine Verlängerung der Maßnahmen, erst bis Ende Dezember (das Weihnachtsgeschäft!), dann bis Anfang Januar; über Weihnachten und Silvester sollte es leichte Lockerungen geben, statt fünf sollten sich vorübergehend zehn Personen treffen dürfen. Einige Städte verhängten nächtliche Ausgangssperren. Die Verrückten demonstrierten unterdessen weiter und faselten von „Diktatur“.

Anfang Dezember mahnten führende Wissenschaftler dringend weitere Beschränkungen an. Gleichzeitig wurden in Großbritannien die ersten Menschen geimpft, was zu Diskussionen und Unverständnis führte, da die EU sich mit der Zulassung noch etwas Zeit ließ; erst nach Weihnachten sollten auch hier die ersten Spritzen gesetzt werden. Unterdessen wurden aufgrund der weiter steigenden Infektionszahlen die Maßnahmen weiter verschärft. Über die Weihnachtstage gab es nur noch geringfügige Lockerungen, die derart kompliziert formuliert waren, dass sie keiner verstand, zu Silvester wurden Ansammlungen in der Öffentlichkeit und der Verkauf von Feuerwerk untersagt.

Die früheren Impfungen nützten den Briten zunächst wenig: Eine Woche vor Weihnachten trat eine neue Variante des Virus auf, die bis zu siebzig Prozent ansteckender sein sollte, nach ersten Erkenntnissen jedoch weder zu schwereren Krankheitsverläufen noch einer erhöhten Sterblichkeit führte. Zur Sicherheit stellten zahlreiche europäische Länder vorübergehend den gesamten Reise- und Frachtverkehr mit Großbritannien ein; kurz darauf stauten sich tausende von LKWs vor Dover. Konsumfreude kollidierte mit Naturgewalt.

Kurz vor dem nächsten Jahreswechsel freuten sich viele, weil dieses schlimme Jahr vorüber ging, obwohl das Ende des vorläufigen Dauerzustandes noch lange nicht absehbar ist. Weiterhin meldet das Robert-Koch-Institut für Deutschland täglich Neuinfektionen in fünfstelliger Zahl. Weltweit hatten sich fast 83 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert, über 1,8 Millionen davon sind gestorben. Deutschland stand mit rund 1,7 Millionen Infizierten und dreiunddreißigtausend Toten noch vergleichsweise gut da. Einige klagten vor Gericht, weil sie zu Silvester keine Raketen abfeuern durften und bekamen sogar Recht, weil die Richter keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Feuerwerk, Infektions- und erhöhter Knallkörperverletzungsgefahr sahen.

Immerhin: Der Stuttgarter Initiator der zweifelhaften Bewegung, die sich selbst als „Querdenker“ bezeichnet, hatte angekündigt, bis auf weiteres auf Demonstrationen zu verzichten. Die LKW, die sich vor Weihnachten in England stauten, durften ihre Fahrt fortsetzen. Und in Europa sind die Impfungen angelaufen, als erstes alte Menschen in Pflegeheimen und medizinisches Personal; in den Nachrichtensendungen wird ungefähr alle zwei Minuten eine Nadel in einen Oberarm getrieben.

Schon kurz nach Weihnachten wurden Zweifel laut, dass die Beschränkungen wie geplant nach dem 10. Januar teilweise zurückgenommen werden können. Anfang Januar trafen sich wieder Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten und sie beschlossen, die Maßnahmen bis Ende Januar zu verlängern, mehr noch: Nun durften wir uns nur noch mit einer haushaltsfremden Person treffen und man erwog, den Bewegungsradius von Menschen in besonders stark betroffenen Gebieten auf einen Umkreis von fünfzehn Kilometer um den Wohnort zu beschränken. Das wurde heftig kritisiert, da weder klar war, ob mit Wohnort die konkrete Adresse des Einzelnen oder die Gemeinde-/Stadtgrenzen gemeint waren, noch wie das durchzusetzen und zu kontrollieren sei. Heftig kritisiert wurde auch der Gesundheitsminister, weil die Impfungen wegen zu wenig Impfstoff nur schleppend anliefen. Unterdessen starben in Deutschland täglich mehr als tausend Menschen wegen Corona.

Da im Laufe des Februars die Zahlen sanken, wurden Lockerungen ab Anfang März beschlossen, die kaum einer richtig verstand, mit „Notbremse“ bei schlechter Entwicklung. Friseure durften wieder Haare schneiden (was für manche Menschen scheinbar wichtiger war als Lebensmittel und Klopapier), Einzelhändler durften wieder ihre Läden öffnen, allerdings nur nach Terminvereinbarung, wofür das nächste Wortungetüm „Click & Meet“ geschaffen wurde. Gegen jede Vernunft und ohne ausreichende Testmöglichkeiten wurden Schüler wieder zum Präsenzunterricht einberufen. Unterdessen lief das Impfen weiterhin sehr schleppend; während andere Länder wie Israel, sogar Amerika und England schon sehr weit waren und unter anderem Außengastronomie ermöglichten, stritt man in Deutschland darüber, wer wann wen wo und womit impfen durfte. Vor allem fehlte es nach wie vor an ausreichend Impfstoff. Hinzu kam ein Skandal, weil mehrere CDU-Abgeordnete im vergangenen Jahr in unlautere Geschäfte mit Schutzmasken verstrickt waren, die sie ihr Mandat und die Partei erhebliche Stimmen bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz kosteten.

Während Urlaubsreisen im Inland weiterhin nicht möglich waren, galt Mallorca nicht mehr als Risikogebiet, woraufhin sich Tausende auf den Weg dorthin machten, trotz Maskenpflicht und ab dem frühen Abend geschlossenen Kneipen und Restaurants. Hauptsache mal raus. Die Festland-Spanier durften ihre Städte und Regionen unterdessen weiterhin nicht verlassen.

Wenig überraschend stieg die Zahl der Neuinfektionen im März wieder stark an, vor allem auch wegen der neuen Virus-Varianten. Daher zogen Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten Mitte März die Notbremse, die sie nach heftiger Kritik aus der Wirtschaft bereits zwei Tage später wieder etwas lockern mussten. Erstmals in der Geschichte äußerten sie unverblümt Selbstkritik und baten für ihre Fehlentscheidung um Entschuldigung. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politiker war schwer beschädigt und niemand wusste mehr genau, was noch erlaubt war und was nicht.

Deshalb wurde Ende April das Bundesinfektionsschutzgesetz angepasst, wieder war ein neues Wort geboren: die „Bundesnotbremse“. Unter anderem galt nun einheitlich für Städte und Kreise mit einem Inzidenzwert über 100 Infizierte je 100.000 Einwohner (somit fast alle) eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 22 und 5 Uhr, wobei spazieren und laufen auch noch bis 24 Uhr erlaubt war. Die meisten Geschäfte durften Waren nur noch zur Abholung anbieten, andere wie Friseure durften nur mit einem tagesaktuellen negativen Testergebnis betreten werden. Arbeitnehmer waren grundsätzlich zur Heimarbeit verpflichtet, wenn es die Tätigkeit zuließ.

Unterdessen breitete sich in Indien nach religiös-rituellen Massenbädern im Ganges eine neue Variante aus, die täglich zu tausenden Neuinfektionen und Toten führte. Das Gesundheitssystem kollabierte, man kam kaum noch hinterher, die Leichen zu verbrennen.

Bei uns hingegen zeigte die „Bundesnotbremse“ Wirkung – die Zahl der Neuinfektionen ging zurück, zunächst nur langsam, dann deutlich. Gleichzeitig stieg die Zahl der Geimpften, zumal neben den Impfzentren auch Haus- und Betriebsärzte endlich impfen durften. Läden und Außengastronomie öffneten wieder, vorläufig durften sie nur mit einem aktuellen negativen Testergebnis betreten werden. Deshalb öffnete an jeder zweiten Straßenecke eine Teststation, offenbar ein einträgliches Geschäft, was manche Betreiber motivierte, es mit der Zahl der gemeldeten Tests nicht allzu genau zu nehmen und großzügig aufzurunden.

Mit weiter sinkenden Zahlen entfiel die Testpflicht für Geschäfte und Gastronomie, im Freien mussten keine Schutzmasken mehr getragen werden – einige taten es erstaunlicherweise dennoch weiterhin. Arbeitnehmer durften wieder in die Büros zurückkehren, viele arbeiteten dennoch lieber weiterhin zu Hause, wenn ihre Chefs sie ließen. Und man fuhr und flog wieder in den Urlaub in andere Länder. Fast fühlte es sich wieder „normal“ an, was immer mehr Leute dazu brachte, ihren zweiten Impftermin nicht wahrzunehmen; an manchen Tagen war bei den Impfstellen mehr Impfstoff vorhanden als Impfwillige. Ein neuer Begriff war geboren: „Impfschwänzer“.

Anders entwickelten sich die Zahlen in anderen Ländern, etwa England und Portugal, wo sich die hochansteckende indische Variante, inzwischen umbenannt in „Delta“, um die Inder nicht zu diskreditieren, schnell ausbreitete. Das hielt die UEFA nicht davon ab, die im letzten Jahr verschobene Europameisterschaft nachzuholen, vor Publikum in teilweise voll besetzten Stadien. Fußballfans ohne Masken jubelten und fielen sich in die Arme, zogen später in Feierlaune durch die Städte. Immerhin, dank der Impfungen stieg die Zahl der schweren Erkrankungen und Todesfälle nicht stark an.

Für den Herbst rechnete man indessen fest mit einer vierten Welle. Zu recht: Dank Delta rollte sie bereits ab August über uns hinweg. So richtig schien das trotz stark ansteigender Neuinfektionen vor allem bei jüngeren Menschen niemanden mehr zu kratzen; von möglichen Einschränkungen sprach kurz vor der Bundestagswahl niemand, für die sogenannten „3G“ (Genesene, Geimpfte und Getestete) standen wieder alle Türen offen, was Unmut bei den Impfunwilligen erzeugte. Die Zahl der schweren Krankheitsverläufe und Todesfälle stieg weiterhin nur moderat.

Unterdessen wurde darüber gestritten, ob Arbeitgeber zur Planung von Präventionsmaßnahmen bei ihren Mitarbeitern den Impfstatus erfragen dürfen. Laut Gegnern verstieß diese Frage gegen die persönliche Selbstbestimmung und sie könnte die weit befürchtete „Impfpflicht durch die Hintertür“ fördern.

Das änderte sich, als im November die Zahlen dramatisch anstiegen. Während am Elften im Elften Fernsehbilder von Straßen und Plätzen voller bunt kostümierter Narren und Jecken in Köln verstörten, meldete das Robert-Koch-Institut erstmals Tageswerte von über 50.000 Neuinfektionen, und das war erst der Anfang. Die Krankenhäuser beklagten wieder volle Intensivstationen, notwendige Verschiebungen von Operationen und Pflegekräfte am Ende ihrer Kräfte, wenn sie noch nicht gekündigt hatten. Noch immer waren viel zu viele Menschen ungeimpft, obwohl genug Impfstoffe für alle vorhanden war; manche hatten immer noch Bedenken wegen vermeintlicher Spätfolgen, andere sahen in einer Impfung einen unzulässigen Angriff auf die persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit. Besonders dramatisch war die Lage in Sachsen und Bayern, deshalb wurden dort, ebenso wie in Österreich und den Niederlanden, wieder weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens und Schließungen angeordnet, Weihnachtsmärkte abgesagt, bereits aufgestellte Buden wieder abgebaut. In Österreich und Holland kam es wegen der Maßnahmen zu teilweise schweren Ausschreitungen.

Nicht nur Ungeimpfte, auch zweifach Geimpfte infizierten sich, das neue Wort „Impfdurchbruch“ verbreitete sich. Immerhin verhinderte die Impfung zumeist schwerere Krankheitsverläufe und Todesfälle. Wie sich zeigte, reichte „3G“ nicht aus, um die weitere Ausbreitung zu verhindern. Selbst auf Veranstaltungen mit „2G“, also nur Geimpfte und Genesene hatten Zutritt, kam es zu Ausbrüchen. Daher wurden viele Veranstaltungen unter „2G Plus“ durchgeführt, also geimpft oder genesen und zusätzlich getestet. Ein Problem war die oft nur lückenhafte Kontrolle der Maßnahmen.

Die Anordnung von „2G Plus“ zeigte Wirkung: Vor Impfstationen und -bussen bildeten sich lange Schlangen, Hausärzte konnten die Anfragen kaum bewältigen. Die Impfzentren waren unterdessen bereits größtenteils abgebaut worden. Viele Menschen ließen sich, zunächst nur für Ältere und Gefährdete, später für alle empfohlen, zum dritten Mal impfen; hierfür etablierte sich der Begriff „Boosterimpfung“ bzw. „boostern“.

Die „Politik“ agierte hilflos und zögerlich. Auch, weil nach der Bundestagswahl im September die alte Bundesregierung nur noch geschäftsführend und wenig ambitioniert im Amt war, während sich die neue „Ampelkoalition“ noch in der Findung befand. Immerhin schaffte man es, ein neues Infektionsschutzgesetz zu beschließen. Erstmals war die Impfpflicht, zumindest für bestimmte Berufsgruppen, kein Tabu mehr, und Arbeitgeber duften ihre Mitarbeiter zum Impfstatus befragen, zudem mussten sie „3G“ am Arbeitsplatz sicherstellen und wieder Heimarbeit ermöglichen.

Für den Bonner Weihnachtsmarkt, der immerhin stattfand, galt „2G“, für die Innenstadt wurde wieder die generell Maskenpflicht angeordnet. Die Gastronomie litt, weil viele Weihnachtsfeiern sowie Karnevalsveranstaltungen abgesagt wurden. Die Aussichten für das bevorstehende Weihnachtsfest und die Karnevalssession waren wenig optimistisch.

Ende November 2021 kam eine neue Variante auf, bezeichnet als „Omikron“. (Eigentlich hätte sie „Xi“ heißen müssen, aber man wollte den chinesischen Präsidenten nicht verärgern.) Omikron war noch viel ansteckender als die Delta-Variante und breitete sich trotz hektisch angeordneter Einschränkungen des Reiseverkehrs rasend schnell auf der ganzen Welt aus. Doch sie führte zu wesentlich milderen Verläufen, vor allem bei Geimpften. Trotz Neuinfektionen in sechsstelliger Höhe täglich blieben überlastete Intensivstationen die Ausnahme.

Ebenfalls nicht überlastet waren die noch bestehenden Impfzentren; trotz eines neuen Impfstoffes, der auch die Skeptiker überzeugen sollte, ließen sich nur noch wenige Menschen impfen. Auch im März 2022 waren noch immer über vierzig Prozent der deutschen Bevölkerung nicht vollständig geimpft. Zu einer allgemeinen Impfpflicht konnte man sich weiterhin nicht durchringen, sie wurde nur für bestimmte Berufsgruppen in der Pflege und im Gesundheitswesen eingeführt, was zu teilweise erheblichen Protesten der zu Impfenden führte.

Immer mehr Leute auch aus dem eigenen Bekanntenkreis infizierten sich, bei den meisten war es dank Impfung nicht schlimmer als eine Erkältung und schnell überstanden. Die Corona-Warnapp zeigte dauerhaft „rot“, was man mit nicht viel mehr als einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm. Wer positiv getestet wurde, blieb ein paar Tage zu Hause.

Obwohl die Zahl der Neuinfektionen täglich neue Rekordwerte erreichte, wurden im März 2022 auf Drängen der FDP und trotz Protest der Bundesländer per neuem Infektionsschutzgesetz die meisten Einschränkungen aufgehoben. Maskenpflicht bestand nur noch in bestimmten geschlossenen Räumen und öffentlichen Verkehrsmitteln, die Gastronomie durfte wieder auch von Ungeimpften mit negativem Testergebnis besucht werden, die Pflicht der Arbeitgeber zur Ermöglichung von Heimarbeit wurde aufgehoben. Während die einen trotzdem weiterhin auch im Freien Maske trugen, sprachen andere vom „Freedom Day“. Sie betrachteten die Corona-Pandemie nach zwei Jahren als beendet.

Ende März 2022 erwischte es auch mich und meine Lieben. Als es im Hals zu kratzen anfing wie bei einer aufkommenden Erkältung, machte ich einen Selbsttest, der den zweiten Strich aufwies und kurz darauf durch einen amtlichen Schnell- und PCR-Test bestätigt wurde. Wann und wo genau ich mich infiziert hatte, wusste ich nicht, es war auch nicht so wichtig.

Während meine Lieben, gleichfalls positiv getestet, fast keine Symptome aufwiesen, verbrachte ich vier Tage mit so etwas wie einer mittelschweren Erkältung im Bett. Danach wurde es mit jedem Tag besser, und doch dauerte es fast zwei Wochen, bis der Test wieder negativ war. Danach fühlte ich mich nahezu unverwundbar – dreimal geimpft und einmal genesen konnte mir das Virus vorläufig nicht mehr gefährlich werden. Hinzu kam, dass im öffentlichen Leben die meisten Maßnahmen zurückgenommen wurden, Restaurants konnte man wieder ohne Impf- oder Testnachweis besuchen und man musste keine Maske mehr tragen. Konzerte, Karneval, Veranstaltungen, Volksfeste und Weihnachtsmärkte können seitdem ohne Einschränkungen besucht werden. Nur in öffentlichen Verkehrsmitteln und Gesundheitseinrichtungen bestand weiterhin Maskenpflicht. Wir hatten Glück: Mein Bruder etwa, ungefähr zur gleichen Zeit infiziert wie ich, hatte bis Dezember 2022 seinen Geschmackssinn nicht vollständig wieder erlangt, und das war noch eine der eher harmlosen möglichen Langzeitfolgen. Auch dafür gibt es ein Wort: Long Covid.

Selbst China lockerte Ende 2022 seine bislang extrem strengen Schutzmaßnahmen, nachdem die Bevölkerung dagegen aufbegehrt hatte, wochenlang ihre Wohnungen nicht verlassen zu dürfen und in Isolationskliniken zwangseingewiesen zu werden. Die zuvor praktizierte und mit aller Härte der Staatsgewalt durchgesetzte Null-Covid-Strategie mit all ihren negativen Auswirkungen auch auf die Wirtschaft geriet ins Wanken. Dort, wo Anfang 2020 alles begonnen hatte, infizierten sich, erkrankten und starben in der Folge drei Jahre später tausende Menschen. Doch es blieb bei der Aufhebung der Maßnahmen, die große Infektionswelle ebbte wenige Wochen später auch in China wieder ab.

Anfang Februar endete bei uns die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, sie gilt nur noch in Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen. Ebenso die Isolationspflicht, wenn man sich infiziert hat. Wer erkrankt ist, soll zu Hause bleiben, das Gebot lautet „Eigenverantwortung“.

(November 2020)

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Wir verhalten uns wieder, als sei das Virus besiegt, und glauben das auch. Wir sind wieder übergegangen zum üblichen Irrsinn, machen weiter wie vorher, reisen, konsumieren, zerstören die Umwelt, wandeln das Klima, Hauptsache wir haben Wachstum. Reiche werden reicher, Arme ärmer, und wir Menschen werden immer mehr. Alles wie gehabt.

Aber vielleicht kommt es ganz anders. Hätte ich Talent und Lust, einen Thriller zu schreiben, dann etwa so:

Es gibt acht Milliarden Menschen auf der Erde, mit den bekannten Auswirkungen auf Natur und Klima, und es werden immer mehr. Dabei vermehren sich augenscheinlich diejenigen besonders stark, die es sich am wenigsten leisten können: die Ärmsten in Afrika, RTL-Zielgruppenzugehörige, die sich durch absurde Frisuren und Haarfärbungen, Tätowierungen bis zum Hals und Metallteilen in verschiedensten Körperteilen selbst den Weg zu großen Teilen des Arbeitsmarktes verbauen; selbst in Flüchtlingslagern, wo Menschen teilweise seit Jahren festsitzen und vermutlich andere Sorgen als die Arterhaltung haben, werden neue Menschen geboren.

Vielleicht ist Corona nur ein Auftakt, ein Vorgeschmack auf etwas kommendes Großes. Kaum, dass wir die Krise überwunden glauben und da weitermachen, wo wir vorher aufgehört haben, entsteht eine neue Mutation des Virus. Zunächst unbemerkt, da über Monate keine Symptome auftreten, breitet es sich rasend schnell aus. Als man begreift, dass wiederum ein Virus die Ursache für eine neue, rätselhafte Erkrankung ist, ist es zu spät. Man kann ihm nicht entgehen, nirgendwo, es ist nahezu auf der ganzen Welt. Reihenweise erkranken die Menschen weltweit schwer, anders als bei Covid-19, wo ein hoher Anteil nur leichte oder gar keine Symptome zeigte, trifft die neue Form alle, die sich infiziert haben. Innerhalb weniger Tage bricht das Gesundheitssystem zusammen, die Sterblichkeit liegt bei über fünfzig Prozent. Geschäftliche Aktivitäten werden in kürzester Zeit eingestellt, die Grundversorgung mit Strom, Internet, Wasser und Lebensmitteln kommt zum Erliegen. Das, was wir Zivilisation nennen, hört auf zu existieren, es herrscht einzig das Recht des Stärkeren. Staat und Politik lösen sich auf, auch auf die „Rechten“ und „Querdenker“, die anfangs noch Schuldige ausgemacht hatten und einfache Lösungen wussten, hört niemand mehr. Globalisierung und Gendersternchen sind nur noch Begriffe ohne irgendeine Bedeutung.

Während in den Parks die Kastanien in voller Blüte stehen, sterben innerhalb weniger Wochen mehrere Milliarden Menschen, vor allem in den hoch entwickelten, technikabhängigen Industrieländern. Ganze Städte sind menschenleer, stattdessen wühlen Wildschweine in den Vorgärten der Villenviertel.

Vielleicht erleben wir gerade das Ende der Menschheit, wir wissen es nur noch nicht. Nicht der Klimawandel oder ein Atomkrieg löscht uns aus, sondern ein Virus. Acht Milliarden Menschen, die sich benehmen, als wären sie die einzige Spezies von Bedeutung, der sich alles andere unterzuordnen hat, die sich immer weiter vermehren – vielleicht ist es damit bald vorbei, und die Weltherrschaft geht über an Ameisen oder Ratten. Vielleicht beherrschen die auch längst die Welt, wir haben es nur noch nicht bemerkt.

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Ende Januar 2023 starben auf einer spanischen Nerzfarm zahlreiche Tiere an der Vogelgrippe. Anscheinend hat sich das Virus inzwischen an Säugetiere angepasst.

Woche 33/2022: Knieleid und Konferenzgeschwätz

Montag: Heimarbeit ist großer Mist, mir ist völlig rätselhaft, warum so viele davon so begeistert sind. Heute ging es nicht anders: Mittags wurde ich abgeholt zu einer Dienstreise bis Mittwoch in Leipzig, da wäre es wenig sinnvoll gewesen, vorher noch ins Werk zu fahren.

Hinzu kam ein gewisses Wehleid wegen der am vergangenen Wochenende zugezogenen Wunden, die sich während der Fahrt in unterschiedlicher Weise bemerkbar machten. Es ist erstaunlich, wie sehr solch vergleichsweise harmlosen Wehwehchen auf das Gemüt drücken, das montags ohnehin in desolatem Zustand ist.

Kurz vor dem Ziel durchfuhren wir heftigen Regen, zum Glück ohne Hagel, Sturm und andere meteorologische Unwägbarkeiten, dafür mit so richtig viel Wasser, das kennt man inzwischen kaum noch. Auch die Temperatur sank vorübergehend auf knapp über zwanzig Grad herunter, so dass ich mir später beim Abendessen draußen ein Pullöverchen überzog. Wenn auch als einziger weit und breit, aber das störte mich nicht.

Auf dem Weg dorthin kam uns eine Gruppe Jugendlicher entgegen. Als wir uns auf Höhe eines Restaurants begegneten, wo, in Restaurants nicht unüblich, welche aßen, zeigte ein Mädel hinein und sprach zu den anderen: „Seht mal, die essen da!“ Geben die Sachsen ihnen Kindern nichts zu essen?

Dienstag: Trotz eines gewissen Hellhörigkeit des Hotels (der Zimmernachbar pfeift sich offenbar gerne ein Liedchen) und der unter dem Fenster deutlich vernehmbaren Straßenbahn schlief ich gut.

Blick aus dem straßenbahnumtosten Hotelzimmer

Erkenntnis aus Tag eins unserer Veranstaltung: Am besten präsentiert man nur aus „Folien“ (erstaunlich, dass das gut zwanzig Jahre nach dem Tageslichtprojektorzeitalter immer noch so heißt), die man selbst erstellt hat; alles andere gerät schnell zu Powerpoint-Karaoke. Es lief dennoch ganz gut. Nachmittags war ich kurz in der Apotheke, Pflaster nachkaufen. Mehr Leipzig brauchte ich heute nicht, auch wenn es zweifellos eine schöne Stadt ist.

Auch wenn die Schönheit der Stadt im Innenhof des Hotels nicht gar so deutlich wird
Hotelhumor

Gelesen hier: „Ich müsste umschulen, auf einen Job, bei dem man nicht denken muss. Man dürfte aber auch nichts anderes machen müssen, denn es ist alles zu anstrengend. Was macht man denn da, was wird man da?“ – Beamter, was sonst? (Ich darf das schreiben, ich bin einer und weiß deshalb, dass diese Art der Selbstpolemik jeglicher Grundlage entbehrt.)

Mittwoch: In unserem Hotel ist jeden Tag Nikolaustag, wenn der Gast es will. Als Zeichen, dass man zur Schonung der Umwelt auf die Zimmerreinigung verzichtet, stellt man nicht seine Schuhe vor die Tür, sondern hängt ein bereitliegendes Jutebeutelchen an die äußere Türklinke. Zur Belohnung wird vom Personal ein Äpfelchen und ein Müsliriegel hinein gelegt, die mir heute Morgen als Frühstück dienten, da ich Hotelfrühstücke bei Veranstaltungen wegen morgendlicher Gesprächsgefahr grundsätzlich meide. Eine kreative Form der Personaleinsparung (an jeder zweiten Klinke hing das Beutelchen), gleichsam für‘n Appel und‘n Ei Müsliriegel.

„Gesundheit/Gesundheit/sundheit/ndheit/heit/t!“ – Warum ich es auf Tagungen und in größeren Gruppen nach Möglichkeit vermeide, zu niesen.

Donnerstag: Die erste Fahrradfahrt ins Werk mit wunden Knien lief besser als gedacht. Dennoch freue ich mich darauf, wenn sie wieder heile sind. Geduld. Geduld ist ja nicht unbedingt des Fahrradfahrers erste Tugend, er wartet ungern, auf grünes Ampellicht etwa oder auf Vorfahrt habende andere Verkehrsteilnehmer. Ich hingegen war heute dankbar für jede Pause; auf dem Rückweg hielt ich vor einem Zebrastreifen, um zwei junge Damen passieren zu lassen. Das schienen sie von Radfahrern nicht gewohnt zu sein, sie schauten leicht irritiert und bedankten sich brav.

Mittags in der Kantine gab es Gnocchi. Das erinnerte mich an ein italienisches Lied, das wir mal im Chor sangen, als ich noch im Chor sang und das ich nicht besonders mochte. Dennoch – oder deshalb, man weiß es nicht – hielt es sich im Hirnradio bis in den Nachmittag hinein. Der Arbeitstag war dennoch recht zufriedenstellend, trotz Kartoffelnockenlied, Knieleid und viel Konferenzgeschwätz.

Abends während der heute-Nachrichten zuckte ich kurz, als der Sprecherin während eines Beitrags über das aktuelle Fischsterben in der Oder ein ungegendertes „Forscher“ entfuhr. So weit ist es schon.

Freitag: Wo Menschen zusammenleben, knirscht es bisweilen, dabei ist es ganz einfach: Vor dem Abfuhrtag holt jemand die Mülltonnen aus ihrer Nische und rollt sie an die Straße, nach der Leerung rollt sie jemand zurück. Grundsätzlich klappt das ganz gut in unserer Hausgemeinschaft. Es sei denn, ein Trottel parkt seinen Roller so dämlich, dass die Nische versperrt ist. Nach Rückkehr aus dem Werk war der Roller verschwunden und die Tonnen standen an ihrem Platz. Es fügt sich immer alles irgendwie.

Bitte denken Sie sich die Tonnen-Nische links vor dem Roller

Im Zusammenhang mit dem leerlaufenden Rhein zitiert die Zeitung einen Lehrstuhlinhaber für Aquatische Systembiologie. Aquatisch – welch herrlich blühende Rose im Wörtersee.

Abends erprobten wir das neue Restaurant am Hotel Kanzler, das erst am Vortag eröffnet wurde, also das Restaurant, nicht das Hotel. Trotz unvermeidbarer Verkehrsgeräusche im Außenbereich, es liegt direkt an der Bundesstraße 9, waren wir sehr zufrieden, daher kommen wir bestimmt wieder. Zurück gingen wir zu Fuß, hinsichtlich Knieweh unproblematisch. Auch der Geliebte, längeren Fußmärschen sonst eher unaufgeschlossen, hielt tapfer durch.

Samstag: Die Stadt Bonn teilt mit, es sei zu einem Verkehrsunfall „mit einem Radfahrenden“ gekommen. Wenn der Sinn des Genderns an seine natürlichen Grenzen stößt.

Abends besuchten wir das Parkfest in Bad Godesberg, wo der Karnevalsverein mit einem Bühnenprogramm und einem Bierstand vertreten war; Wiedersehen macht Freude, wie sich einmal mehr bewahrheitete. Am späteren Abend, als das Bühnenprogramm längst beendet war, wurde etwa eine halbe Stunde lang auf Wunsch mehrerer junger Bierstandbesucher Musik gespielt, die wohl in die Kategorie Mallorca/Ballermann fällt, so genau kenne ich mich da nicht aus, kann mir jedenfalls gut vorstellen, wie zweifelhaft mitgrölende Menschen dazu rotes Getränk durch lange Trinkhalme aus Putzeimern saugen, falls das noch üblich und erlaubt ist. Auch das umstrittene Layla-Lied war dabei, wobei das nach meinem Empfinden noch eines der eher erträglichen war. Immer wieder erstaunlich, an was viele Menschen Spaß haben.

Sonntag: Vom Ballermann nach Bayern – Lotelta war im Allgäu am Niedersonthofener See, also genau dort, wo auch ich Ende September ein paar Tage zu verbringen beabsichtige. Der Bericht verursachte mir größere Vorfreude, wofür ich sehr danke.

Zur Knieschonung verzichtete ich heute auf den Sonntagsspaziergang, las dafür die Sonntagszeitung etwas intensiver als sonst. Darin ein längerer Artikel über die verheerenden Auswirkungen des Schulsportes auf das seelische Wohlergehen nicht so sportbegabter Kinder und Jugendlicher, der mich innerlich „Genau so ist es!“ ausrufen ließ. Daraus:

»Wenn es schlecht läuft, wird der Unterricht als Demütigung und Bloßstellung erlebt. Wöchentliche Stunden, in denen Durchhaltevermögen nicht im Ausdauersport geprobt wird, sondern in der Fähigkeit, trotz Schmach die Aufgaben zu absolvieren. Dank Mannschaftssport und Leichtathletik schält sich heraus, welche Schülerinnen und Schüler nicht so ganz dazugehören.«

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Anscheinend hat sich daran bis heute nichts geändert, noch immer wird dieser Unsinn benotet.

***

Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 3: Lockendown

Montag: Die Rufe nach einer Pflicht zur Heimarbeit werden lauter. Dabei gibt es immer einen Grund, warum etwas nicht geht. In diesem Fall: Ich will nicht.

Morgens in der Zeitung eine Sprachperle:

„… in unserer Welt des vorzeitigen Nachrichtenergusses“

David Kriesel, Datenwissenschaftler, im General-Anzeiger

Die Frage der geschlechtsneutralen Ansprache und die Kritik am generischen Maskulinum führen immer wieder zu Diskuss- und Emotionen. Auch der Duden machte sich diesbezüglich in jüngster Zeit, je nach Betrachtungsweise, beliebt oder unbeliebt, beziehungsweise un*beliebt. Nachrichtensprechende sprechen einen Sternchensprung, wenn sie etwa „Nachrichtensprecher*innen“ sagen, und zunehmend liest man in Texten das generische Femininum statt der gewohnten allgemeinmännlichen Form, was ebenfalls nicht völlig unproblematisch ist. Wenn etwa ein Minister oder ein anderer in hingehaltene Mikrofone sagt: „Die Enten sind sicher“, müssen sich Erpel dann sorgen?

Dienstag: So langsam wird es frisurlich interessant, zumal der nächste Friseurbesuch in unbekannter Ferne liegt. Wie ich morgens beim Blick in den Spiegel feststellte, entwickelt sich der sogenannte Lockdown immer mehr zu einem Lockendown.

„Die Atmosphäre ist aufgewühlt“, sagte der Wettererklärer Sven Schwanke oder Karsten Plöger im WDR-Fernsehen, ich kann die immer noch nicht auseinander halten, im Gegensatz zu Özden Terli und Katja Horneffer im ZDF, die vergleichsweise gut zu unterscheiden sind. Doch nicht nur draußen toben die Turbulenzen, auch im trauten Heim war die Stimmung zeitweise bewölkt, was mich bereits beim ersten Morgenkaffee, lange vor der üblichen Sprechzeit, in ein klärendes Gespräch verwickelte, welches zumindest vorläufig zu einer Aufheiterung führte.

Weniger erbaulich dagegen die letzte Besprechung des Tages im Werk ab siebzehn Uhr, zu der ich nicht das Mindeste beitragen konnte, wofür ich andererseits nicht undankbar war, da mein Buchstabenbudget um diese Zeit üblicherweise längst aufgebraucht ist, heute erst recht, siehe oben. Da ich das bereits morgens ahnte, erwog ich, meine Teilnahme abzusagen, doch gemahnte mich der Liebste: „Das kannst du nicht machen, bei deinem Gehalt“, womit er nicht ganz unrecht hatte, daher ließ ich es stumm über mich ergehen.

Stumm bleibt auch der Radiowecker: „Dem Glücklichen schlägt keine Stund‘“, sagte er sich abends und kündigte dauerhaft seinen Dienst.

Mittwoch: In einer besonders sinnlosen Besprechung mutmaßten sieben Teilnehmer zwanzig Minuten lang über den Zweck und das Erfordernis eines IT-Systems, das augenscheinlich seit fünf Jahren nicht mehr genutzt wurde, während der achte, der die Antwort vermutlich weiß, unentschuldigt dem Gespräch fernblieb.

Fernbleiben muss ab sofort auch ein anderer, und zwar dem Weißen Haus, was aus historischen Gründen auch hier für die Nachwelt festgehalten sei:

(Der Spiegel Online)

„Was wir getan haben, ist in jeder Hinsicht erstaunlich“, sagte Trump zum Abschied. „Das waren unglaubliche vier Jahre.“ Damit hatte er zweifellos recht.

Zur Erinnerung auch dieses, vor gut vier Jahren schon einmal gezeigte:

(Archivbild aus Die Welt Kompakt 2016)

Unterdessen hat der Bonner Stadtrat wegweisende Entscheidungen getroffen:

(General-Anzeiger Bonn)

Eine Neuanschaffung alter Eisenbahnen, die keiner Zustimmung bedarf, auch bei mir:

Donnerstag: Wie die Werksverwaltung mitteilte, ist die Heizung wieder defekt. Vielleicht ist das auch ein subtiler Versuch, hartnäckige Heimarbeitsverweigerer wie mich auf dem kalten Weg umzustimmen.

Freitag: Nachdem zu Weihnachten 2004 der Tsunami in Südostasien Hunderttausende in Tod und Verderben gespült hatte, verzichteten die Radiosender in Deutschland darauf, „Die perfekte Welle“ von Wir sind Julisilbermondhelden oder wie die hießen zu spielen. Aus aktuellem Anlass rege ich an, in gleicher Weise mit „Auf das was da noch kommt“ von Lotte/Giesinger zu verfahren.

Samstag: Notwendige Be- und Entsorgungen verband ich mit einem kurzen Spaziergang an den Rhein. „Es gibt kein Corona, nur Politik“, rief ein Obdachloser, der sein Lager unter der Kennedybrücke aufgeschlagen hat, in einer Endlosschleife allen Vorbeigehenden zu. Als ob Politik ebenfalls eine Seuche wäre, der nur mit Impfung und Abstand beizukommen ist. Wenig später musste ich einer hinter mir gehenden jungen Frau beim Telefonieren zuhören, die von ihren Bekannten erzählte, die trotz Baby weiterhin in der WG wohnen und die Kleine auf eine fünfwöchige Backpackertour mitnahmen. Sie selbst überlege ebenfalls, die Pille abzusetzen, wisse aber noch nicht, was sie stattdessen tun solle. Was man halt so redet, wenn man unter sich ist und nicht damit rechnet, jemand könnte mithören und es anschließend aufschreiben. Eine unerfreuliche Begegnung anschließend erneut auf dem Verbindungsweg vom Rhein zum Augustusring. Der Weg ist der Länge nach durch eine sichtbare Kante in zwei ungleich breite Streifen aufgeteilt, Verkehrsschilder an beiden Enden weisen ihn eindeutig als kombinierten Fuß-/Radweg aus:

(Archivbild von April 2018)

Als ich auf dem schmaleren Streifen (links im Bild) nach oben ging, kam mir ein älterer Radfahrer entgegen gerast und beschimpfte mich unflätig als Trottel, weil ich seiner Ansicht nach auf dem Radweg ging. Was mich daran ärgerte, war nicht zuvörderst seine Beschimpfung – die Aufteilung des Weges ist wirklich etwas irreführend, vielleicht war der schmalere Streifen früher tatsächlich als Radweg ausgewiesen, und er hat das Schild nicht bemerkt, kann ja passieren. Am meisten ärgerte mich meine eigene Reaktion, deren verbale Unflätigkeit der seinen in nichts nachstand. Das war äußerst unsouverän von mir, wofür ich in aller Form um Entschuldigung bitte, wenn ich auch nicht genau weiß, wen. Den Radfahrer jedenfalls nicht, dieses A*loch.

Sonntag: Irgendwo las ich vor einigen Wochen eine Beschreibung des Buchs „Die Stille“ von Don DeLillo. Die Geschichte versprach Unterhaltungswert: In New York treffen sich fünf befreundete Personen, während weltweit die digitale Infrastruktur aus unbekannter Ursache dauerhaft zusammenbricht. „Ein Werk mit verblüffenden Parallelen zur aktuellen Situation in der Welt, ebenso hell- wie weitsichtig. DeLillos geschliffene Sprache, seine Vorstellungskraft und sein seismografisches Gespür machen »Die Stille« zu einem literarischen Ereignis“, preist der Verlag das zwanzig Euro teure, gerade mal hundertsechs Seiten dünne „Werk“ auf dem Rückumschlag an. Vielleicht ist mein eigenes seismografisches Gespür zu grob kalibriert, denn dieses literarische Ereignis, bestehend überwiegend aus geschwurbelten, schwer nachvollziehbaren Dia- und Monologen mit einer winzigen Prise Sex ohne jede Erotik, stieß bei mir vor allem auf gelangweilte Ratlosigkeit; selbst bei einem derart dünnen Buch kann man sich fragen: Wann ist es endlich vorbei? Sie können es sich bei Interesse gerne aus dem öffentlichen Bücherschrank vor dem Frankenbad abholen.

Endlich vorbei ist nun auch dieser Wochenrückblick. Ich wünsche Ihnen eine erfreuliche neue Woche.

Woche 44: Alberne Naturen und gerupfte Schäfchen

Montag: „Corona gefährdet Sportunterricht“, steht in der Zeitung. Als Jugendlicher hätte mir diese Nachricht freudiges Jauchzen und Luftsprünge ausgelöst, beim Einschlafgebet hätte ich Gott gedankt und gebeten, mit dem Impfstoff keine unnötige Eile walten zu lassen. Nur gegen weniges hegte ich tiefere, in Richtung Hass tendierende Abneigung als gegen Schulsport, noch heute mache ich um jede Turnhalle einen möglichst großen Bogen.

Dienstag: Laut einem Bericht will der VDA, Lobbyverband der Automobilindustrie, die Klimaziele der EU billigen. Vielen Dank, VDA, das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen.

Mittwoch: Bei Frau Kraulquappe gelesen über die Vorzüge eines Einfamilienhauses:

»Niemanden treffen zu müssen, den man nicht treffen wil, wenn man los will, kein unnötiger Austausch von Floskeln in Treppenhäusern, keine Höflichkeitsantworten auf dämliche Verlegenheitsfragen wie „Naaaa, alles gut bei euch?“ […] Ich mag das Diskrete, das Unaufdringliche, für mich liegt eindeutig mehr Höflichkeit darin, sich einfach nur freundlich grüßen zu dürfen/können, aber nichts weiter reden zu müssen, wenn man das gerade nicht kann/möchte.«

Hinzu kommen die wunderbaren Wörter „Abstandswiese“, „Diskretionswall“, „Distanzrefugium“ und „Virenvakuum“. Sie schreiben mir aus der Seele, meine Liebe!

Ansonsten in der Zeitung gelesen: In Amerika hat sich während einer Party ein Dreijähriger mit einer Pistole erschossen, die zuvor einem der Gäste aus der Tasche gefallen war. Das ist nicht lustig; leider nicht der erste und mit großer Sicherheit nicht der letzte Fall dieser Art. Sie begreifen es einfach nicht.

Weiterhin in der Zeitung gelesen den Leserbrief von Peter G. aus B:

»So gut der Wunsch „Bleiben Sie gesund“ bei allen Gelegenheiten auch ist: Millionen Menschen sind zur Zeit krank. Für sie trifft dieser gut gemeinte Wunsch doch gar nicht zu. Wäre daher nicht eine entsprechende Ergänzung sinnvoll: „Bleiben oder werden Sie gesund“?«

Augenscheinlich haben manche sehr viel Zeit.

Donnerstag: Manchmal muss man es einfach aushalten und abwarten, bis es vorüber ist. Das gilt für Schnupfen und Sturm wie für Zwischenmenschlichkeiten. Bei letzteren hilft es mir, zu denken: Stell dir vor, du hättest Kinder. Schon ist es nur noch halb so schlimm. Oder ich werde selbst zum Kind und spiele mit der Eisenbahn.

(Nahverkehrszug 7844 von Dransfeld nach Rosdorf, planmäßige Abfahrt in Barlingerode Ost um 16:31 Uhr)

Freitag: Millionen von Arbeitnehmern, auch der Liebste, gehen seit März nicht mehr ins Büro, stattdessen erledigen Sie die Geschäfte innerhalb heimischer Wände. Nicht wenige finden das gut, weil sie nicht mehr täglich fahren müssen und „flexibler“ sind, wie sie es nennen. Andere finden das gar nicht gut, weil ihnen die Trennung beruflich – privat wichtig ist. Zu denen gehöre ich. Heute ließ es sich auch für mich nicht vermeiden, ausnahmsweise zu Hause zu arbeiten, wenn auch nur diesen einen Tag. Nach einem freitäglich-frühen Feierabend fühle ich mich bestätigt: Ich mag das nicht. Es widerstrebt mir, mich zu Hause auf berufliche Angelegenheiten zu konzentrieren, mich überhaupt dafür zu interessieren oder anderen per Kopfhörer dabei zuzuhören. Die Arbeit geht schwerer von der Hand, nicht weil ich sie am Laptop statt mit Tastatur, Bildschirm und Maus erledige. Sie gehört hier einfach nicht hin, eine Störung der heimische Komfortzone. Daher bin ich meinem Chef sehr dankbar, dass ich auch in diesen Zeiten grundsätzlich täglich ins Büro darf.

Samstag: Den samstäglichen Gang zum Altglascontainer (bitte fragen Sie nicht) verband ich mit der von meinen Lieben beauftragten Beschaffung einer neuen Butterdose (bitte fragen Sie immer noch nicht) in der Innenstadt. Die Sonne schien, entsprechend gut besucht die Außengastronomie. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, die Leute hielten sich konsequent an die Maskenpflicht, auch so etwas wie Abstandswahrung glaubte ich zu erkennen. Leider zu spät: Ab Montag bleiben die Gaststätten aus dem bekannten Grund geschlossen, für einen Monat. Hoffen wir, nicht länger. Übrigens kann man für Butterdosen sehr viel Geld ausgeben. Muss man aber nicht.

Unterdessen etabliert sich der fragwürdige Begriff „Lockdown light“, der alberne Naturen veranlasst, zu fragen, ob als nächstes der „Lockdown zero“ kommt, aber das haben Sie bestimmt längst mitbekommen, vermutlich ist Twitter voll davon. Ich weiß es nicht, habe dort seit Wochen nicht mehr reingeschaut.

Sonntag: Morgens erreichte mich die traurige, gleichwohl nicht überraschende Nachricht über die Absage der #Mimimimi-Lesung am 13. November, Sie können sich denken, warum. Hoffen wir also auf einen nicht allzu fernen Ersatztermin, wenn die Situation es wieder zulässt.

Ein kleines Rätsel am Wegesrand, gesehen während des Sonntagsspaziergangs am anderen Ufer:

Lösungsvorschläge nehme ich gerne entgegen. Ich bin gespannt.

Ansonsten in dieser Woche gehört und notiert: „Schnell sind die Schäfchen gerupft.“ – „Jetzt mal Schmalz bei die Butter. Ach nee, Fische, oder?“

Woche 10: Man verzichtet aufs Händeschütteln

Montag: „Wir werden alle sterben“, sagte der Geliebte, als morgens die Lichter angingen. Das ist wohl so ziemlich das einzige, was noch einigermaßen sicher ist.

Wegen der Erkältung schlecht geschlafen. Traum: Über Nacht hat Amazon meinen Arbeitgeber mit allen Konzernbereichen und Tochterunternehmen übernommen. Als ich morgens ins Werk komme, sehe ich zahlreiche Männer in schwarzen Anzügen mit Aktenrollkoffern und gegelten Scheitelfrisuren über die Flure huschen, vor meinem Büro wartet auch schon einer. Noch bevor ich mir einen Kaffee holen kann, interviewt er mich auf Englisch und tippt die Antworten sofort in sein Tablet ein. Unsere Chefs, Personalabteilung und Betriebsrat scheinen sich unterdessen aufgelöst zu haben, niemand ist erreichbar. Stattdessen höre ich im Telefon in Endlosschleife eine Frauenstimme, die in klebrig-lächelndem Werbeton Amazon-Angebote gegen Erkältung anpreist, dazu wiederholt sie ständig: „Jetzt Prime-Kunde werden, wenn Sie weiterhin wie gewohnt am Leben teilnehmen wollen. Möchten Sie sich jetzt registrieren lassen?“ – „Nein!“, schreie ich ins Telefon. – „Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch, Sie können nun alle Vorzüge als Prime-Kunde nutzen.“

Im Laufe des Tages wird uns mitgeteilt, wer bleiben darf und wer gehen muss, die Nachricht erhalten wir per Paket. Nachmittags kommt der Bote, über der DHL-Jacke trägt er die grelle Weste von Amazon Logistics. Nachdem er mir die Sendung übergeben hat, verwandelt er sich in einen Halsbandsittich und filmt von draußen durch das Fenster, wie ich das Paket öffne; dies soll später als lustiges Unboxing-Video in den internen Kommunikationsmedien und auf Amazon Prime Video veröffentlicht werden, erst jetzt wird mir klar, dass ich morgens beim Interview mein Einverständnis dazu erteilt habe. Bevor ich das Paket öffnen konnte, wachte ich verstört auf und schlief nicht mehr ein.

Später, als der Chef wieder erreichbar war, meldete ich mich krank.

Dienstag: Sehr gut und lange geschlafen, es wird langsam besser. Einer versuchsweisen Umbettung ins Werk ab morgen steht demnach voraussichtlich nichts entgegen.

Dabei könnte ich mich durchaus daran gewöhnen: Bis mittags schlafen, nach Bad und knappem Frühstück aufs Sofa, Tee, Musik hören, Lesen in alten Tagebüchern und Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ (wahrlich keine leichte Lektüre). Außerdem habe ich endlich mit der hoffentlich letzten Überarbeitung meines Bestsellers begonnen. Und wer weiß – was bitte nicht bedeuten soll, dass ich es herbei wünsche – die Quarantäne kann noch kommen, weil man Kontakt hatte mit jemanden, der Kontakt hatte mit … Sie wissen schon.

Mittwoch: Meinen Zustand als vollständig genesen zu bezeichnen wäre übertrieben, gleichwohl ging es einigermaßen im Werk. Das Schlimmste: Vermutlich zur Vermeidung der Virenverbreitung war das Dessertbuffet in der Kantine nicht befüllt. Kein Nachtisch nach köstlichem Spießbraten! Wie soll man da die Ruhe bewahren und nicht in Panik verfallen?

Donnerstag: Eine Bildunterschrift aus einem Zeitungsartikel zur Wahl in Thüringen: „Nach seiner Wahl und Vereidigung verweigerte Bodo Ramelow (links) dem rechten AfD-Vorsitzenden Björn Höcke den Handschlag.“ Man stelle sich vor, der zuständige Redakteur hätte eine Rechts-Links-Schwäche oder das Bild wäre von der anderen Seite aus gemacht worden.

Nach einem Tag Heimarbeit (nicht wegen Quarantäne, sondern weil ein Handwerker an der weiteren Vollendung unseres Bades wirkte, das noch immer nicht ganz fertig ist und dadurch langsam wie eine Miniatur der Elbphilharmonie oder des Berliner Flughafens anmutet, jedenfalls bezüglich des Zeit-, hoffentlich nicht Kostenrahmens, und der viel länger für die Montage eines Waschtischunterschrankes und eines Handwaschbeckens benötigte als er und ich dachten, was mir einen ganzen Arbeitstag zu Hause bescherte statt wie gehofft nur ein paar Stunden) stelle ich erneut fest: Kann man mal machen, muss aber nicht sein.

Und weil der Handwerker es nicht richtig gemacht hat – als nebenberufliche Bauaufsicht eigne ich mich nicht, habe ich auch nie behauptet – arbeitete der Geliebte abends nochmal einiges nach. Sie bauen auf, sie reißen nieder / So gibt es Arbeit immer wieder.

Freitag: Gehört: „Hüftschwung hast du keinen. Jedenfalls nicht beim Tanzen.“

Wie ich nachmittags erfuhr, fällt in der kommenden Woche aus bekanntem Grund die Veranstaltung aus, die für mich eine Dienstreise in die Nähe von Ulm bedeutet hätte. Niemals in den mittlerweile zahlreichen Jahren meines Lebens erlebte ich etwas, das vergleichbare Auswirkungen auf das öffentliche und geschäftliche Leben hatte wie dieses Virus. Was mag passieren, wenn sich mal eines ausbreitet, das wirklich bedrohlich ist? Positiv: Man verzichtet aufs Händeschütteln.

Zugegeben – ein großer Kinderfreund war ich nie. Und doch würde ich keinem Kind wissend und wollend Leid antun (ebenso den meisten Erwachsenen nicht). Bei dem schrecklichen Blag aus der Kijimea-Reklame könnte ich mir allerdings vorstellen, eine Ausnahme zu machen.

Aus der Zeitung: „Statt Wasser sprudelte Wein aus den Leitungen: Ein technischer Defekt beim Abfüllen spülte Lambrusco von einer lokalen Kellerei in einige Häuser von Castelvetro di Modena in der Emilia-Romagna.“ Technischer Defekt – das ist noch unplausibler als die kürzlich schon erwähnte Geschichte des Mannes, der mit einer Banane im Anus zum Arzt kommt, weil er angeblich nach dem Duschen ausgerutscht und in die Obstschale gestolpert ist, Sie erinnern sich vielleicht.

Samstag: Glückwunsch dem Mann im Radio, nachdem auch er bemerkt hat, dass Torn von Ava Max Elemente von ABBA enthält.

Sonntag: Italien sperrt weite Teile im Norden ab, um der Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten. Dessen ungeachtet wirbt eine vermutlich nicht ganz günstige ganzseitige Anzeige in der heutigen Sonntagszeitung: „Dolce Vita und jahrtausendealte Kultur, aber auch imposante Landschaften und idyllische Dörfer locken in Italien. Bleibt die Frage: Wo bitte soll man bei dieser Fülle nur anfangen?“ Inzwischen dürfte der Inserent die Frage wohl anders formulieren.