Antrag auf Einführung eines neuen geflügelten Wortes

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Gibt es eigentlich dieses Pokémon noch, oder hat es schon der Aufforderung „Go“ Folge geleistet? Zugegeben: Als es vor einigen Monaten aufkam und junge Menschen dazu zwang, nahezu orientierungslos massenhaft über Friedhöfe, Autobahnauffahrten und durch Vorgärten zu irren, befand ich mich in vorderster Front der darüber lästernden, stimmte sogleich ein im Chor derjenigen, die das Einfangen virtueller Monster als sinnlose Zeitverschwendung zu verdammen nicht müde wurden.

Doch bedenke, mahnte mich die innere Stimme, womit du selbst vor etwa fünfunddreißig Jahren wertvolle Stunden vergeudetest! Vielleicht wäre aus dir ein angesehener Investmentbanker oder bedeutender Waffenlobbyist geworden, hättest du stattdessen deine Nase in die Seiten deiner Schulbücher gehalten! Wir erinnern uns: Um 1980 dachte sich der ungarische Ingenieur Ernö Rubik einen etwa handgroßen Würfel mit verschiedenfarbigen Seiten aus, der aus 26 in allen Richtungen gegeneinander verschiebbaren Einzelelementen bestand. Hiermit wollte er meiner Erinnerung nach Studenten irgendwelche geometrischen Zusammenhänge veranschaulichen, wer es genauer wissen will, kann es ja nachwikipedieren.

Schon sehr bald erkannte jemand den immensen Unterhaltungswert dieses an sich zwecklosen Gegenstandes als Geduldsspiel, es kam zur Massenproduktion unter der Bezeichnung „Rubiks Cube“ oder „Zauberwürfel“, plötzlich musste jeder so ein Ding haben, und trotz des recht hohen Verkaufspreises von etwa zwanzig Mark waren sie zeitweise ausverkauft, so wie heute das neue iPhone.

An das iPhone dachte Anfang der Achtziger freilich noch niemand, und niemand litt unter dem Ringxiety-Effekt, jenem trügerischen Gefühl, das Mobiltelefon habe vibriert, obwohl man es gar nicht dabei hat. Um zu kommunizieren, musste man sich entweder treffen oder die mannigfache Produktpalette der Deutschen Bundespost in Anspruch nehmen: Man telefonierte entweder von einer der noch zahlreichen postgelben Telefonzellen aus oder, sofern vorhanden, vom heimischen Hausanschluss, wo ein grauer Apparat mit Wählscheibe ungefähr von der Größe eines Graubrotes das Bindeglied zur Außenwelt darstellte. Der klingelte auch noch richtig, mit einer metallenen Schelle in seinem Inneren. Heutige Telefone machen alle möglichen Töne, von Grillenzirpen über Bremsenquietschen bis Helene Fischer, trotzdem heißt es in Ermangelung eines neuen, passenden Wortes noch immer klingeln. Zwar gab es schon so etwas wie Mobiltelefonie, das konnte sich jedoch niemand leisten. Und das Internet gab es noch nicht mal als Wort.

Wollte man nicht sprechen, schrieb man sich Briefe oder Postkarten – musste es schneller gehen, Telegramme. Die füllte man im Postamt aus, einige Stunden später wurde dem Empfänger die schriftliche Nachricht per Eilbote zugestellt, auf Wunsch und gegen Aufpreis auch mit musizierendem Schmuckblatt. Das Telefax fand erst später weitere Verbreitung.

Wer es ausgefallener mochte, frönte dem etwas skurilen Hobby Amateurfunk. Mit Hilfe eines riesigen Antennengestrüpps auf dem Hausdach konnte sich der Amateurfunker von seiner Dachkammer aus mit Hobbykollegen aus aller Welt über das Wetter unterhalten.

Doch zurück zum Zauberwürfel. Einen durchmischten Würfel wieder auf einfarbige Seitenflächen zu drehen, war ohne Anleitung nahezu unmöglich. Eine solche druckte der SPIEGEL in einem seiner Hefte ab, welche per Fotokopie bald flächendeckend zur Verfügung stand. Ich benötigte zwei Tage und stieß zahlreiche Flüche aus, ehe ich es endlich hinbekam. Doch durch stetige Übung hatte ich die Handgriffe bald drauf, schon nach einer Woche benötigte ich die Anleitung nicht mehr, konnte den Würfel fast blind ordnen. Es kam zu Wettkämpfen, wer konnte es am schnellsten. Zu meinen besten Zeiten schaffte ich es in unter drei Minuten.

Leider waren die Würfel für einen derartigen Dauerbetrieb nicht ausgelegt – durch die sich aneinanderreibenden Kunstoffflächen leierten sie bald aus und hakten, was der Geschwindigkeit abträglich war. Vielleicht war das aber auch Teil des Geschäftsmodells, denn was blieb einem anderes übrig, als sich einen neuen Würfel zu kaufen, wollte man weiterhin durch seine Fingerfertigkeit hervorstechen? Die Profis schmierten daher Fett oder Graphitpulver zwischen die beweglichen Innenflächen, danach knarzte der Würfel aber nicht mehr so schön beim Drehen.

Kürzlich fiel mir mein alter Zauberwürfel nach Jahren staubfangenden Regalliegens wieder in die Hände. Sollte ich es mal versuchen? Ich sollte und drehte ihn, ausgeleiert und abgegriffen, erstmal gründlich durcheinander. Dann begann ich, so wie ich es einst gelernt hatte: erst die obere Ebene, dann die mittlere, schließlich die untere, und siehe da, es klappte noch auf Anhieb, sogar die berüchtigten zweiundzwanzig Züge zur korrekten Positionierung eines Ecksteines in der dritten Ebene. Daher beantrage ich hiermit die Einführung eines neuen geflügelten Wortes: „Das ist wie Zauberwürfel, verlernste nie.“

Inzwischen ist Rubiks Zauberwürfel zu einem beliebten Symbol der Achtzigerjahre geworden. Als eher ängstlich-vorsichtiger Mensch gehe ich ungern Wagnisse ein. Gleichwohl wage ich zu bezweifeln, dass Pokémon Go zum Sinnbild der Zwanzigzehner oder in fünfunddreißig Jahren noch bekannt sein wird. Man wird seine Zeit dann wohl anderweitig verschwenden.