Woche 22: Hand am Arm und zweibeinige Spatzen

Montag: Ein Nachtrag zu letzter Woche, ich fand den Eintrag erst heute in meinen Notizen wieder, es ist nur ein Wort. Am Samstagnachmittag probierten wir bei einem Moselwinzer sein Sortiment; am Ende, als alles probiert und für gut befunden war, wurde der „Reparaturriesling“ gereicht, ein einfacher Riesling mit dem Zweck, die aufgrund vorangegangener Aromenstürme vor Verzückung jubilierenden Geschmacksnerven zu beruhigen und sie wieder auf den Boden der Tatsachen zu führen. So, als reichte ein Molekularküchensternekoch nach dem letzten Gang eine herzhafte Frikadelle.

Was allemal besser wäre als die tote Banane, die neuerdings bei uns im Hof liegt.

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Dienstag: Geträumt: Wir saßen in so einem Züglein, mit denen Touristen durch fremdenverkehrlich auffällige Städte gefahren werden, Sie kennen die sicher, mehrere offene Waggons hinter einem als Lokomotive verkleideten Traktor, dessen Fahrer den Fahrgästen per Bordlautsprecher die örtlichen Sehenswürdigkeiten erklärt. In so einem vollbesetzten Züglein also fuhren wir durch eine Straße, die auf beiden Seiten von ebenfalls vollbesetzter Außengastronomie gesäumt war (der Traum spielte demnach vor, oder, falls es das irgendwann geben sollte, nach Corona), man beobachtete sich gegenseitig, wir im Zug die draußen und umgekehrt. An einem Tisch draußen saß ein extrem dicker, unzufrieden wirkender Junge, und während ich, als wir ihn passierten, dachte: Boah, ist der dick, ging ein kollektives „Boah, kuck mal …“ durch das Züglein. Das fand ich beschämend.

Im nächsten Traum wurde mir als Teilnehmer einer Liveshow auf RTL die Aufgabe gestellt, möglichst lustig einen Zahnarzt mit extremem Lippenherpes zu spielen. Während ich mir unter den Augen eines Millionenpublikums recht ungeschickt eine Schutzmaske aufsetzte (dieser Traum spielte womöglich zu Corona), dachte ich: So ein Unsinn. Nach einer Stunde wurde die Szene wegen akuter Unlustigkeit abgebrochen.

Im Werk hörte ich in einer Besprechung nämliches: „Wie ihr wisst, sind wir zeittechnisch nicht gerade gut unterwegs.“ Auch nicht besonders lustig.

Mittwoch: Die Ausgaben für Verteidigung werden laut Zeitungsbericht in diesem Jahr um 3,5 Milliarden Euro gegenüber Vorjahr steigen. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen kommt es darauf an, das Geld für die richtigen Dinge auszugeben und die Rüstungsindustrie zu stützen.

„Das ist noch sehr Hand am Arm„, sagt einer während einer Präsentation. Wo denn sonst? Ist das wieder so ein stumpf übersetzter Anglizismus, oder was meint das?

„Wie war die Anrufqualität“, fragt Skype nach der Konferenz. Inhaltlich eher fragwürdig, möchte ich antworten.

Bei Heimkehr aus dem Werk hatte ich den Eindruck, die Banane im Hof hätte sich kurz bewegt.

Donnerstag: Im Pressespiegel ein Interview mit dem Senior Transaction Manager Global Operations Real Estate & Design eines großen Versandhändlers, bei dem ich aus grundsätzlichen Erwägungen nichts bestelle. Da geht einem schon beim Lesen des Titels einer flitzen.

Flitzen gegangen ist auch die Banane, jedenfalls ist sie weg. Ob sie sich aus eigener Kraft entfernte oder jemand spontan Vitaminbedarf hatte, ließ sich nicht klären.

Das sollten Sie lesen, vor allem das mit den Leckmuscheln.

Freitag: Für Menschen mit fragwürdigem Naturverständnis mag es „Unkraut“ sein, mich hingegen ließ auf dem Weg in die Kantine dieses Lavendelchen kurz lächeln.

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Apropos Natur: Nachdem es hieß, die Zahl der Spatzen ginge zurück, beobachte ich sie in letzter Zeit – neben den bereits erwähnten Halsbandsittichen – in erfreulicher Anzahl vor meinem Büro, wo sie mir vom Fenstersims aus tschilpend bei meinem Tun und Lassen zuschauen. „Mich besuchen in letzter Zeit viele Spatzen“, erzählte ich am Morgen. Der Geliebte: „Ist klar, vor allem zweibeinige.“ – „Ja, was sonst?“ – „… ach ja.“

Samstag: Der Duft von Lavendel hält übrigens nicht nur Motten vom Kleiderschrank fern, er lindert auch Liebeskummer, steht in der Zeitung. Nicht dass ich welchen hätte oder in absehbarer Zeit erwarte, dennoch gut zu wissen, falls mal ein zweibeiniger Spatz herbeiflattert.

Aus Gründen, die hier nicht näher erläutert werden sollen, suche ich regelmäßig die Altglascontainer hinter dem Stadthaus auf. Diese können wegen einer Baustelle zurzeit nicht geleert werden, was zur Überfüllung des mittleren, laut Anschrift „Nur für Weißglas“ bestimmten geführt hat. Davor steht nun eine größere Menge Flaschen und Gläser, immerhin korrekterweise nur farblose, da Leute einerseits keine Lust haben, das Zeug zu einem anderen Container zu schleppen, andererseits, vielleicht aus Gründen gewisser Obrigkeitshörigkeit, sich nicht trauen, es wie ich und augenscheinlich vor mir bereits andere in die Behälter daneben für Braun- und Grünglas einzuwerfen, die noch über freie Kapazitäten verfügen oder „Luft nach oben“, wie man auf Blöddeutsch oft hören muss. Vielleicht ist das dieses „typisch Deutsch“.

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Der Liebste war beim Friseur. Abends wurde mein Kopfhaar thematisiert, mit völlig unangemessener Bezugnahme auf die Hinterkopflichtung durch den Geliebten: „Du hast bald die Haare wie Roy Black.“ – „Wie hat denn Roy Black die Haare?“ – „Gar keine mehr.“

Logik beim Abendessen, es gab gegrillten Rollbraten: „Die Schnur kann man mitessen, ist Baumwolle.“

Sonntag: Alle Jahre wieder- was genau war nochmal Pfingsten? Ist dieser Heilige Geist auch so eine Art Virus?

Gespräch beim Frühstück: „Blühen die Pfingstrosen im Garten schon?“ – „Die sind schon verblüht.“ – „Da kann man mal sehen, wie dusselig die sind.“

Nachmittags kam mir eine Dame auf dem Fahrrad mit volltätowierten Brüsten entgegen. Das war sehr unschön.

Woche 27: Der Taubenvergrämer von Malaucène

Montag: Zum Konzert mit dem Tenor Andrea Bocelli in der Köln-Arena schreibt der Bonner General-Anzeiger: „Aber die Strahlkraft seiner Stimme, das, was uns dazu bringt, tief in uns hineinzuhorchen, um dann, endlich, all das preiszugeben, daran zu leiden und es gleichzeitig zu genießen, was in uns schlummert und um Süße, Sehnsuchtserfüllung und Vergebung bettelt, ist noch immer da.“ Ja, da möchte man schmerzerfüllt um Vergebung betteln. In einem anderen Artikel wird die Sängerin Bonnie Tyler als „Rock-Röhre“ bezeichnet. Das ist mindestens so fade-verstaubt (oder „asbach“, wenn Ihnen das lieber ist), wie jemandem, der die Satire beherrscht, zu bescheinigen, er bringe die Dinge „mit spitzer Feder“ auf den Punkt.

Nicht einmal der SPIEGEL ist bereit, auf abgenutzte Synonyme und schiefe Bilder zu verzichten: Ein (ansonsten sehr lesenswerter) Artikel über Österreich kann nicht ohne das Wort „Alpenrepublik“ verfasst werden, und zum Ableben von Joseph Jackson, dem Vater von Michael, Janet, La Toya und einigen weiteren muss man lesen, er habe seine Kinder „durch ein Stahlbad“ geschickt, was auch immer das bedeuten mag.

Leider ist meine Feder nicht annähernd so spitz wie die des Meisters der Überleitung, Max Goldt. Daher nun ein etwas unsanfter Themenwechsel:

In der Bar, wo wir immer unser Nachmittagsbier einnehmen, lief Fußball im Fernseher, die Franzosen sind ja noch dabei. Auch wenn es mich nicht interessiert, musste ich doch ab und zu hinschauen. Dieser brasilianische Fußballstar, dessen Name mir aus Sicherheits- und rechtlichen Gründen gerade entfallen ist, erinnert mich an ein lackiertes, dressiertes Äffchen.

Dienstag: Am Morgen nahm ich nach sechs Jahren Abschied von meinem mittlerweile von reichlich Silberstoppeln durchsetzen Mehrtagesbart. Erstmal vorläufig, vielleicht nur vorübergehend. Ich weiß es noch nicht. Das entscheide ich kommende Woche.

Mit großer Freude darf ich darauf hinweisen, dass mir am 10. August erneut die Ehre zuteil wird, ein paar Zeilen aus meinem Schaffen verlesen zu dürfen. Einzelheiten dazu hier: https://4xmi.de/

Mittwoch: Nachdem bereits gestern am frühen Abend ein Gewitter die Stadt umzogen hatte, war in der Nacht erneut ein leichtes, fernes Grollen zu vernehmen, was sich ungünstig auf die Qualität meines Schlafes auswirkte. Freundlicherweise blieb es in der Ferne und verstummte bald wieder.

Während in der heimischen Ferne die lieben Kollegen damit beschäftigt sind, die Welt zu retten, oder wenigstens das „EBIT“ des Unternehmens, während in Berlin Frau Merkel mit Herrn Seehofer zankt, sitze ich im Schatten vor unserem Urlaubsdomizil und gebe mich genüsslich der Lektüre des von mir sehr geschätzten, bereits oben erwähnten Max Goldt hin, von dem ich extra für den Urlaub in der Buchhandlung meines Vertrauens (und nicht bei Amazon, trotz EBIT, oder gerade deswegen, die Ansichten darüber gehen zurzeit auseinander) drei weitere Bücher erstanden habe. (Vor einiger Zeit las ich, er schreibt nicht mehr, weil ihm nichts mehr einfällt. Stimmt das? Das wäre sehr zu bedauern.) Doch der Anschein der Ruhe trügt, nur eine Armlänge von meinem bequemen Stuhl entfernt tobt Krieg: Zwei Ameisenvölker liefern sich wilde Schlachten, wobei ich nicht erkenne, welches Volk im Vorteil ist. Während die einen durch ihre Körpergröße beeindrucken, sind die anderen in der Überzahl. Als zum Katastrophisieren neigender Mensch rechne ich nun damit, dass sie sich verbünden und ich morgens eine dunkle, kribbelnde Masse auf der Bettdecke vorfinde.

Donnerstag: Rote Mückenstich-Placken verunzieren Bein und Fuß. Das ist unschön, jedoch besser, als von Ameisen verzehrt zu werden. Die sind inzwischen verschwunden. Entweder haben sie sich gegenseitig umgebracht, oder die Flucht ergriffen, nachdem der Liebste großräumig Katzenvergrämungsspray ausgebracht hat wegen der Köttel unter dem Frühstückstisch.

Übrigens: Auch in Malaucène, dem lieblichen Ort in der nördlichen Provence, in welchem wir zurzeit in unsere Urlaubstage hineinzuleben das Vergnügen haben, gibt es jetzt einen Taubenvergrämer. Nur handelt es sich hier nicht um eine populäre Twitter-Figur, sondern einen im Baumwipfel angebrachten Lautsprecher, der in regelmäßigen Abständen Schreie von Greifvögeln und anderem Getier verlauten lässt und damit nicht nur Tauben, sondern augenscheinlich auch den einen oder anderen Tourist auf Abstand hält.

Freitag: Es ist schon bemerkenswert, wenn der Vorstandsvorsitzende eines Konzerns das 232-fache „verdient“ von dem, was alle anderen Beschäftigten des Unternehmens im Durchschnitt bekommen. Erst recht dann, wenn dieser Konzern kürzlich noch eine Gewinnwarnung herausgegeben hat unter anderem wegen zu hoher Personalkosten. Aber wahrscheinlich ist es eine menschliche Gewohnheit, immer mehr haben zu wollen, auch wenn man schon genug hat.

Zu den unschönen menschlichen Gewohnheiten gehört auch die öffentliche Nasenreinigung ohne Taschentuch: Man hält sich das eine Nasenloch zu und schnaubt das Sekret aus dem anderen in die Umgebung. Bislang beobachtete ich das nur bei Radfahrern, was es nicht akzeptabler macht, heute sah ich indes auch einen Fußgänger auf der Straße dergleichen tun. Zum Glück befand sich gerade niemand in seiner unmittelbaren Umgebung, auch ging er während des Schnaubens nicht an einem Obststand entlang. Und ja: Ich benutze Stofftaschentücher, aus Gewohnheit und Überzeugung, und ich wüsste nicht, was es darüber zu diskutieren gibt.

Samstag: Während eines Ausflugs um und über den Mont Ventoux ließ in der Nähe des Ortes Sault, welcher durch Lavendel verarbeitendes Gewerbe Touristen aus Nah und Fern lockt, ein Lavendelfeld, das den Eindruck erweckte, es sei nur für die Produktion der einschlägigen Provence-Postkartenmotive angelegt worden, welches grober gewebte Charaktere mit wenig Sinn für Schönes womöglich gar als kitschig bezeichnen würden, die Motivklingeln unser Mobilgeräte aufs Heftigste ausschlagen, oder bellen, wie der Brite sagen würde, müsste er nicht gerade Fußball schauen. Die Eindrücke möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:

Apropos Fußball: Das Albernste bei den Spielen sind ja diese Werbewände, die anschließend eiligst aufgestellt werden, um Spieler davor zu zerren und zu zwingen, sinnlose Dinge zu sagen.

Sonntag: Heute ist nichts Nennenswertes geschehen. Also es ist bestimmt schon einiges passiert: Donald Trump hat wahrscheinlich irgendwas Blödes getwittert, in Russland wird ein Ball in ein Netz geflogen sein, und vielleicht hat „Astro-Alex“ wieder etwas Sympathisches gesagt oder getan, woraufhin ihm die Herzen der Welt in seine Umlaufbahn zuflogen, ein interessantes Bild, aus dem ein Comiczeichner oder Zeichentrickfilmer sicher was machen könnte. Also mir ist jedenfalls nichts zu Gesicht oder -hör gekommen, was notierenswert erschiene. Weitere Informationen zum Tag entnehmen Sie daher bitte den von Ihnen bevorzugten Medien.

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Immer nur Provence

Mittagshitze liegt über dem kleinen Ort Vinsobres. Die alten Häuser aus beigem Stein scheinen unter verwitterten Dachziegeln zu schlafen, haben ihre Augen mit lavendelblauen oder lindgrünen Fensterläden geschlossen. Auf der Straße, in den Gassen fast keine Menschen, nur in dem kleinen Restaurant in der Mitte des Dorfs Geschäftigkeit, Mittagszeit, der junge Kellner trägt Speisen, Wasser, Weinflaschen und Kaffee an die Tische unter der Markise, fast Festtagsstimmung an einem normalen Dienstagmittag in der Provence. Das gelbe Auto von La Poste fährt vorbei, ohne anzuhalten.

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Ringsum grüne Hügel unter blauem, wolkenlosem Himmel, die Sonne heizt die Luft auf. Das einzige, was man hört, ist der Gesang der Zikaden, es müssen hunderte sein, aus allen Richtungen, wie in einem Wettstreit, wer es am lautesten kann; ab und zu zwitschert ein Vogel dazwischen, leichter Wind haucht durch die Sträucher, sonst Stille, keine menschlichen Stimmen, kein Straßenlärm. In der Ferne, an den Hängen und in den Feldern, ducken sich einzelne Häuser zwischen Büschen und Weinreben, unverbaubarer Blick auf eine unvergleichlich schöne Landschaft. Lavendelfelder leuchten violett, viel dezenter als auf den Postkarten, es duftet nach Kräutern und Sommer.

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„Fahrt ihr wieder nach Frankreich?“, werde ich gefragt, wenn ich den anstehenden Urlaub erwähne, und vernehme den Unterton „Warum immer nur nach Frankreich, nicht mal nach Italien, Thailand, Ägypten, Afrika, auf die Seychellen, in die Türkei, Griechenland… gut, Griechenland im Moment vielleicht nicht unbedingt. Warum also immer nach Frankreich, in die Provence? – Siehe oben.

Weitere Eindrücke aus unserem Urlaub gibt’s übrigens hier: http://www.kubicki-in-bonn.de/kubicki-blog/Provence_im_Juli_12/Provence_im_Juli_12.html