Ameisen wird es wohl immer geben

Zunehmend wächst in mir eine diffus-ablehnende, leicht wie Hass schimmernde Haltung gegenüber den modern-menschlichen Gewohnheiten, mit einem Kaffeebecher durch die Gegend zu laufen, ständig auf das Telefon zu schauen oder ohne Not in der Öffentlichkeit zu telefonieren, oder jeden Mist ohne weiter nachzudenken bei Amazon zu bestellen. Keine Frage, und sei sie noch so unwichtig, bleibt heute unbeantwortet, weil irgendwer immer sofort Siri oder Google befragt. Ständig erreichen uns Filmchen, Bilder und Sprüche, die wir lustig oder niedlich finden sollen, dazu hält uns ständig irgendwer ungefragt ein Display vor die Nase und sagt „kuck mal“. An manchen Tagen liegt meine größte Leistung darin, meine Verachtung gegenüber diesen Dingen nicht allzu deutlich werden zu lassen.

Dabei tun mir diese Menschen nichts, auch stören sie mich eigentlich nicht, nicht einmal mehr die Telefonierer, im Gegenteil, liefern doch gerade sie mir immer wieder Stoff für meine niedergeschriebenen Alltagsbeobachtungen, wenn sie in der Bahn solche Sätze sagen wie „Der ist zwar gerade erst verheiratet, aber das heißt ja gar nix“ oder „Da kaufe ich nicht, die laufen mir werbetechnisch zu oft über den Weg“, oder „Samstag kann ich nicht, die bin ich geburtstagstechnisch unterwegs“. Ich selbst vermeide es, wenn immer möglich, in Anwesenheit Fremder zu telefonieren. Abgesehen davon, dass ich ohnehin kein Freund des Ferngespräches bin: Nicht etwa, um andere nicht zu belästigen, sondern vielmehr, weil ich es nicht ertrage, wenn sie mir dabei zuhören. Man selbst merkt es ja oft erst als letzter, wenn man dummes Zeug redet.

„Die ideale Welt ist menschenleer“, so war neulich im SPIEGEL zu lesen. Das mag, nicht zuletzt angesichts der oben genannten Gewohnheiten, stimmen; die Frage ist dann nur: ideal für wen? Ameisen? Feldhamster? Kleine Hufeisennasen? Seeanemonen? Miesmuscheln? Sind wir denen nicht bereits heute vollkommen egal? Eins immerhin ist klar: Für jeden von uns ist das Todesurteil bereits gefällt, so gesund, abstinent, vegan, nachhaltig oder politisch korrekt wir uns auch durch unser Leben bewegen.

Ich glaube übrigens nicht, dass die Menschheit durch einen Atomkrieg ausgelöscht wird. Vielmehr erscheint mir hierbei das Zusammenspiel mehrerer Faktoren als Ursache wahrscheinlich. Erstens: Wir werden krank, weil es keine saubere Luft zum Atmen mehr gibt. (Hauptsache, der Autoindustrie geht es gut, denken Sie nur an die Arbeitsplätze.) Zweitens: Es wird nicht mehr genug Trinkwasser geben. (Hauptsache, Obstplantagen in Wüstengebieten werden bewässert, damit wir das ganze Jahr frische Erdbeeren essen können.) Drittens: Die Stromversorgung wird zusammenbrechen, weil der Bedarf an Elektrizität immer mehr steigt. (Hauptsache, der Digitalisierungswahnsinn wird nicht aufgehalten, auf dass wir auch weiterhin streamen, chatten, posten und unsere Zimmerbeleuchtung, Klospülung und Heizung per App bedienen können.) Hinzu kommen Religionen, Größenwahn, Gier und Werbung.

Vielleicht entsteht auch ein extrem resistentes Virus, das sich rasend schnell weltweit über die Luft verbreitet und verhindert, dass menschliche Eizellen und Spermien zueinander finden. Schon nach wenigen Monaten werden keine Kinder mehr geboren, so sehr die Menschen auch dagegen anvögeln. Nach spätestens zwanzig Jahren bricht das Chaos aus, weil es zunächst nicht mehr genug, später gar keine Ärzte, Pflegekräfte, Polizisten, Bauern und Arbeitskräfte in Kraftwerken und anderen Versorgungsbetrieben mehr gibt. Atomkraftwerke und andere Industrieanlagen explodieren reihenweise, weil niemand mehr da ist, der sie wartet. Globalisierung, Multi Kulti, Digitalisierung, Märkte, Wachstum und Flexibilität sind dann nur noch bedeutungslose Begriffe aus einer vergangenen Zeit.

Etwa hundert Jahre später verschwindet der letzte Mensch von der Bildfläche. Keine tausend Jahre später sind die meisten unserer Spuren von Sand, Wasser, Eis und Pflanzen verdeckt, und die Erde kann in aller Ruhe weiter ihre – nach menschlichem Ermessen – unendlichen Bahnen um die Sonne ziehen. Jedenfalls so lange, bis sich eine neue, vom Wahnsinn getriebene Spezies bildet, oder aus den Tiefen des Alls angeflogen kommt und die Erde besiedelt, weil auf ihrem eigenen Planeten Maschinen, Roboter und Algorithmen die Macht übernommen haben. Ameisen wird es dann hier wie dort vielleicht immer noch geben.

DAS wäre mal Stoff für einen Thriller, den ich lesen oder notfalls sogar streamen würde.

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(Übrigens lese ich gerade QualityLand von Marc-Uwe Kling. Digitalskeptikern sehr zu empfehlen.)

Ode an den Montag

Montagmorgen, sieben Uhr. Bevor der Nachrichtensprecher im Radiowecker einen Satz zu Ende sprechen kann, bringe ich ihn mit einem blind beherrschten Knopfdruck zum Schweigen. Nicht die Schlummertaste – eine in meinen Augen höchst unsinnige Erfindung, sie verlängert das morgendliche Leiden nur unnötig. Ich bin wach, oder – na ja – ich schlafe jedenfalls nicht mehr. Eine neue Woche beginnt, fünf neue Arbeitstage, fünfmal früh aufstehen. Eine grausame Erkenntnis, jede Woche erneut. Noch ein paar Minuten bleibe ich liegen, beklage stumm das Dasein, dann aktiviere ich alle verfügbaren Kräfte, raus aus dem Bett, ins Bad, wo mich zwei müde Augen aus dem Spiegel bedauernd anschauen.

Später lustlos eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser am Küchentisch, mehr bekomme ich um diese Zeit nicht runter, an essen nicht zu denken. Es soll Menschen geben, denen es mühelos gelingt, schon frühmorgens ein ausgiebiges Frühstück im fröhlichen Kreise der Lieben zu genießen. Wie machen die das nur? Stattdessen Trübsal am Küchentisch. Wenn sich die Menschen aufteilen in Eulen und Lerchen, dann bin ich eine Miesmuschel. Montagmorgen ist Mist.

Es hilft nichts, um kurz vor acht muss ich mich unter Menschen begeben, verlasse den Küchentisch und schleppe mich zur Haltestelle der Bahn. Da ist wieder dieser komische Vogel mit dem Käppi, der den Fahrscheinautomaten mit Münzgeld aus einem Blechdöschen füttert und sich einen Einzelfahrschein zieht, jeden Morgen. Warum macht er das? Warum kauft er sich keine Mehrfahrten- oder Monatskarte? Vielleicht sieht er darin ja einen unangemessenen Vorschuss an die Verkehrsbetriebe, dessen Einlösung er sich nicht sicher sein kann, könnte ihn doch noch heute der Schlag treffen. Es gibt solche Menschen.

Im Büro ringe ich mir ein „Guten Morgen“ ab, wissend, dass nichts an diesem Morgen gut ist. Meine um diese Zeit schon gut gelaunten Kolleginnen und Kollegen, allesamt Lerchen, wissen, dass Sprechen für mich um diese Zeit höchste Qual bedeutet, und nehmen Rücksicht darauf, meistens jedenfalls. Nicht nur deshalb mag ich sie, trotz ihrer guten Morgenlaune.

Während der Rechner hoch fährt, gönne ich mir einen Kaffee und einen Biss ins mitgebrachte Bütterchen, so langsam gelingt es mit fester Nahrung. Das Telefon klingelt, Unverschämtheit. Da ich die angezeigte Nummer nicht kenne, ignoriere ich es, soll später noch mal anrufen, oder eine Mail schreiben – oder am besten mich in Ruhe lassen. Mit Desinteresse schaue ich die seit Freitag aufgelaufenen Mails an. Mein Körper sitzt am Schreibtisch, der Geist ist noch nicht angekommen, befindet sich noch im Wochenend-Modus; es fühlt sich an, als sei das Hirn in Bleiwatte gepackt. Verständnislos nehme ich zwei Mails zur Kenntnis, die am Sonntagnachmittag geschrieben wurden. Warum glauben manche Menschen, das tun zu müssen, wissen die am Wochenende nichts mit sich anzufangen?

Neun Uhr dreißig. Die Woche zieht sich. Telefonkonferenz. Man redet gegen die üblichen Störgeräusche an (wobei schon mancher Wortbeitrag quasi ein Störgeräusch ist), mir gelingt es nicht, mich am Gespräch zu beteiligen, dem besprochenen Thema Interesse entgegen zu bringen. Ich nehme eine bequeme Sitzposition auf dem Schreibtischstuhl ein, popele ausgiebig und ziehe Grimassen, ein echter Vorteil der Telefonkonferenz gegenüber einer Besprechung am Tisch. In jeder Hinsicht abwesend, lasse ich meinen Blick schweifen nach draußen, über den Rhein, und wünschte, jetzt dort unten zu sein, am Rheinufer, wo ich mit einem kühlen Getränk den Schiffen zuschauen könnte. Ob so ein Rheinschiffer wohl seinen Beruf liebt? Oder schaut er neidisch zu uns herauf, denkt sich „Die haben es gut in ihren klimatisierten Büros, mit geregelter Arbeitszeit, Fünftagewoche, Kantine und Bonuszahlung“? In der Tat, tauschen möchte ich nicht mit ihm, oder jedenfalls nur ganz selten.

Doch ab etwa sechzehn Uhr wird es besser. Die Aussicht auf den mehr nicht allzu fernen Feierabend lässt die Bleiwatte aufreißen wie ein Sonnenstrahl die Wolkendecke nach einem trüben Regentag. Auf dem Flur ist es ruhiger geworden, die ersten Lerchen sind schon abgezwitschert. Eine gute Stunde später fahre auch ich den Rechner runter mit halbwegs passabler Laune und der Gewissheit, dass es morgen besser wird.

Zu Hause tausche ich den Anzug gegen Laufklamotten, gleich wieder raus, runter zum Rhein, laufe bis zur Nordbrücke und auf der anderen Seite zurück. An manchen Tagen eine Qual, an anderen läuft es richtig gut, fast wie von selbst. Spätestens nach dem anschließenden Brausebad ist die Bleiwatte vollständig aufgelöst. Die Wetterkarte im Fernsehen zeigt die Vorhersage für Freitag an, ein erster Ausblick auf das nun schon etwas näher gerückte Wochenende. Während der Verlesung der Sportnachrichten lese ich, was die Ironblogger in der letzten Woche geschrieben haben. Später ein Glas Rotwein mit dem Liebsten, der Rest vom Wochenende. Dazu ein Abendzigarettchen. Zeitig ins Bett. Glücksgefühl.

Montagabend ist schön.