Abgeschrieben: 80er

Hier noch eine Fundsache: Den nachfolgenden Text entdeckte ich beim Durchstöbern meiner E-Mail-Ablage. Leider kenne ich nicht den Verfasser und kann somit auch keine korrekte Quellenangabe machen, hole das jedoch gerne nach, wenn ihn mir jemand nennt. Die E-Mail stammt bereits aus dem Jahre 2001, jedoch hat der Text meines Erachtens an Aktualität noch nicht sehr viel eingebüßt.

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Offen gestanden kotzt es mich an: dieses dumme Gerede der derzeitigen „Generation Z“, die 80er Jahre wären langweilig gewesen. Totaler Bockmist.

Hört genau zu, Ihr zungengepiercten Tekknohoppler mit Tattoos auf der linken Arschbacke: Ihr wart nicht dabei! Wir Mit-Dreissiger/-Vierziger haben sie live erlebt: die Geburt des Synthesizers und den wahren Soundtrack der 80er, der von Bands wie Depeche Mode, Cure und Yazoo geschrieben wurde.

Wir haben noch mit Midischleifen und Oszillographen gekämpft! Wir haben Euer Tekkno erfunden, bei uns nannte sich das aber noch „Wave“ und war tatsächlich Musik. (übrigens verwursten Eure DJs die Dinger noch heute zu einer Art musikalischer Canneloni mit schwülstiger Computerbasssosse).

Wir mussten noch keine Angst haben, dass uns Tina Turner mit dem klassischen Seniorenoberschenkelhalsbruch von der Bühne purzelt und wir haben Madonna noch mit festen Brüsten und ohne Baby-Pause gekannt, Ihr Nasen!

Wir verbinden „Kraftwerk“ noch nicht mit Solarenergie und wir hatten noch Angst, dass Joschka Fischer von Holger Börner mit der Dachlatte verprügelt wird. Wir erinnern uns noch an Terroristenfahndungsplakate, auf denen hin und wieder ein Gesicht liebevoll mit Kuli von einem Staatsbediensteten durchgestrichen wurde …

Die Bundeswehr und die NVA machten noch Spaß, wir kannten ja die Richtung, aus der der Feind kommt …

Zu unserer Zeit fielen Break-Dancer auf den Fussgängerzonen noch hin und wieder richtig auf die Fresse und Peter Maffay wurde beim Stones-Konzert noch ordentlich von der Bühne gepfiffen. Wir hatten noch Plattenspieler (auf 33″ und 45″) und richtig geile Plattencover, auf denen man die Namen der MUSIKER (und nicht der Programmierer) ohne Lupe erkennen konnte und die tatsächlich Kunst waren – keine Tempotaschentuchgrossen, einfarbigen Booklets auf denen gerade noch „nice Price“ lesbar ist.

Für uns war eine LP etwas Heiliges, das gepflegt und geliebt werden musste – und keine CD-Plastik-Wegwerfware, die so robust ist, dass man sie durchaus auch als Bierglasuntersetzer verwenden kann. Bei uns erkannte jeder sein Eigentum noch an den individuellen Kratzern.

Wir haben kein „Big Brother“ geguckt sondern „Formel 1“, wo es eine ganze fette Stunde wirklich gute Musikvideos zu sehen gab, die das Lied untermalten, wir hatten kein MTV mit degenerierten CD-Werbespots nötig.

Wir liessen uns die Haare seitlich ins Gesicht fallen – ohne diese beknackten, umgedrehten Baseballmützen oder Wollhauben. In unseren Hosen konnte man sehen, ob einer einen Hintern hatte, heute hängt der Arsch ja bei jedem von Euch in der Kniekehle der achso tollen Baggy-Trousers.

Bei uns haben sich keine Neonazis mit Türken gekloppt, sondern Punks mit Teds, Teds mit Poppern, Popper mit Ökos und Ökos mit der Polizei…

Und wer einen Führerschein hatte, fuhr als erstes einen Käfer oder eine Ente, bei der Dellen von Individualismus zeugten, ihr Opel-Corsa-Popel!

Und weil ihr gerade im Leistungskurs Informatik sitzt: die AC/DC Einritzungen auf den Tischen sind von UNS – und es geschieht Euch nur recht, wenn ihr glaubt, dass die Dinger aus dem Physiksaal kommen, wo irgendein findiger Schüler seinerzeit die Abkürzung für „Starkstrom/Schwachstrom“ in die Bank gemeisselt hat!

Also erzählt uns nichts über die 80er. Und ja, hiermit entschuldige ich mich, auch im Namen meiner Altersgenossen, für Modern Talking. Das haben wir nicht gewollt…

Casual Friday

Eine der zahlreichen Errungenschaften aus dem Land der in alle Richtungen unbegrenzten Mög- und Peinlichkeiten ist neben dem Bic Mac, Homer Simpson, Halloween, Bruce Springsteen, Hollister und Starbucks der so genannten Casual Friday. Ursprünglich diente dieser ab den fünfziger Jahren in großen amerikanischen Unternehmen dazu, den ansonsten an eine strenge Kleiderordnung gebundenen Angestellten durch Verzicht auf gestärktes Hemd und Krawatte den Übergang von der Arbeitswoche ins bevorstehende Wochenende etwas zu erleichtern.

Nun neigt der Deutsche ja dazu, alles scheinbar gute, was aus den Vereinigten Staaten den Weg zu uns gefunden hat, dankbar aufzunehmen und auf die Spitze zu treiben, der Zwanglos-Freitag ist ein gutes Beispiel dafür, wie ich bei meinem eigenen Arbeitgeber immer wieder beobachten kann. So verzichten die Herren freitags nicht nur auf die Krawatte, auch lassen sie den Anzug ganz im Schrank und kleiden sich dafür in verwaschenen Jeans mit kunstvoller Perforation und verspielt-bunten Ornamenten in der Gesäßzone, das Oberkleid variiert je nach Jahreszeit zwischen fragwürdig gemustertem Kurzarm-Freizeithemd und Kapuzenpulli. Als Schuhwerk werden Chucks oder Adidas bevorzugt. Die Damen zeigen sich statt des geschäftsmäßigen Hosenanzugs in ärmllosen Leibchen mit Spaghettiträgern, legginsartigem Beinkleid und offenen Sandalen, wobei streng darauf geachtet wird, dass sämtliche Tätowierungen gut zur Geltung kommen – Sie glauben gar nicht, wo man/frau sich überall tätowieren lassen kann.

Kurz: statt in der Konzernzentrale eines bedeutenden deutschen Unternehmens wähne ich mich freitags zunehmend in der Filiale einer großen Bäckereikette am Samstagmorgen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Jogginganzug, Badeshorts, Bikini und Flip Flops endgültig durchgesetzt haben werden.

Ich brauche das nicht, der Übergang ins Wochenende ist mir noch nie schwer gefallen; sobald mich am Freitagnachmittag das große Gebäude ausgespuckt hat, fühle ich mich frei und verwende bis zum Montag keinen Gedanken mehr an geschäftliche Angelegenheiten. Der Übergang vom Wochenende auf Montag fällt mir indes viel schwerer, da sollten sich die Amis endlich mal was sinnvolles einfallen lassen. Wie wäre es mit einem Business Sunday: Statt in Boxershorts und T-Shirt schauen wir den Tatort in Hemd, Krawatte und dreiteiligem Anzug, frisch gebügelt, fri- und rasiert.

Andererseits möchte ich mich nicht allen Trends verschließen, selbst wenn sie vom großen Bruder jenseits des Atlantiks kommen. Da mich schon Facebook langweilt wie ein kombiniertes Angel- und Schachtournier und ich Subway-Filialen meide wie Kardinal Meisner den Sexshop, so will ich wenigstens freitags nicht mehr der einzige Anzugträger sein (obwohl ich gerne Anzug trage). Also: ab kommenden Freitag gehe ich nackt ins Büro. Ich bin mir sicher, nach einer gewissen Irritation wird man mich gewähren lassen, bevor man den Sicherheitsdienst ruft, der mir dann eine Decke überwirft und mich nach nur kurzem Hand- und Wortgemenge aus dem Büro zerrt.

Brillen

Es ist nicht zu leugnen: ich werde älter. Das Haar wird dünner, dafür grauer, die Runzeln und Falten um die Augen tiefer und mehr, ein noch kleines und doch bei unverhüllter Betrachtung nicht zu übersehendes Bäuchlein wölbt sich oberhalb der Schamgrenze und bildet einen reizvollen Kontrast zu meinen dürren Beinen und Spillerärmchen; die Ohren- und Augenleistung lassen nach, weshalb ich zum einen des öfteren Gesprächen nicht mehr folgen kann, was nicht in jedem Fall ein Nachteil ist, vor allem im öffentlichen Personennahverkehr und an anderen Orten, wo man fremder Leute Geschwätz ausgesetzt ist, zum anderen trage ich seit geraumer Zeit eine Brille.

Ich mag meine Brille, unbeeinträchtigt von Eitelkeit trage ich sie gerne (abgesehen von gelegentlichen Aufenthalten in gewissen Spelunken, aber dort ist es ohnehin dunkel); ein schlankes Modell mit relativ kleinen Gläsern, eingefasst in ein schlichtes Gestell aus dezentem Draht. Ich mag meine Brille, obgleich sie keineswegs im Trend liegt: Wer heute mit der Zeit gehen will, trägt eine große Brille mit schwarzer, möglichst breiter Horneinfassung, früher AOK-Standard, heute Designerstück, prominente Träger sind/waren Woody Allen und Erich Honecker, nicht ganz so prominent mein Großvater mütterlicherseits; was vor kurzem noch als Karnevalsartikel mit Fensterglas verkauft wurde und jedem Kostüm das humoristische Sahnehäubchen aufsetzte, ist heute die große Mode der sehgeschwächten.

Waren es früher vor allem ältere Herren, die diese Art von Brillen trugen, weil sie die Reife erlangt hatten, da Äußerlichkeiten nur noch eine untergeordnete Rolle spielen (eine dezentere Sehhilfe hätte der Physiognomie etwa eines Erich Honeckers nur unwesentlich zum Vorteil gereicht), so sind es heute vor allem Herrn in meinem Alter und jünger, deren Antlitze schwere schwarze Horngestelle zieren, selbst unser verehrter Herr Außenminister stieg unlängst auf ein markanteres Modell um, wenn auch nicht ein ganz so großes, ohnehin gibt er sich in letzter Zeit ja ungewohnt bescheiden; allüberall bin ich umgeben von dunklen Riesenbrillen, auf der Straße, in der Firma, in der Bahn…

Ich mache das nicht mit, zumal ich befürchte, dass mir ein solches Gerät die Anmutung eines ausgehungerten Uhus verliehe, trotz des erwähnten Bauchansatzes. Sollte allerdings eines Tages die Achtzigerjahre-Helmut-Kohl-Brille ihre modische Wiedergeburt erfahren, dann, ja dann könnte ich schwach werden.

Fürs Leben gezeichnet

Die Tätowierung der Menschheit begann vor etwa siebentausend Jahren, wie entsprechende Mumienfunde im nördlichen Chile belegen. War die dauerhafte Körperzeichnung bis vor einigen Jahren noch überwiegend Kennzeichen gewisser Randgruppen, etwa Knastbrüder, Seefahrer und zweifelhafter Damen, deren Hauptkunden Knastbrüder und Seefahrer waren, so bildet heute die nicht-tätowierte Minderheit eine immer geringer werdende Randgruppe. Nicht nur der Punk auf dem Bahnhofsvorplatz oder die Aushilfsuschi im Lidl, auch leitende Angestellte und Zahnarzt- wie Bundespräsidentengattinnen bekennen heute Farbe.

Meine erste Begegnung mit einer Tätowierung hatte ich in den Siebzigerjahren, als die Popgruppe Sailor auf dem Höhepunkt ihrer Zeit angekommen und regelmäßig in Ilja Richters Disco oder dem Musikladen mit Manfred Sexauer (ob der wohl wirklich so hieß? Der Name erinnert  ein wenig an ungeübten Analverkehr) zu sehen war, die älteren von Ihnen erinnern sich vielleicht: Girls, Girls, Girls, A Glas Of Champagne und The Old Nickelodeon Sound; die vier Jungs aus England, Erfinder und Nutzer des Nickelodeons, einem sperrigen, von zwei gegenüberstehenden Personen zu bedienenden Tasteninstrument, heute längst in den popmusikalischen Tiefen abgetaucht, sowohl die vier Jungs als auch ihr tönendes Sperrmöbel.

Disco und Musikladen, so was gibt es  heute leider gar nicht mehr, heute muss man Wetten, dass…? kucken, wenn man im Fernsehen internationale Popstars auf der Bühne sehen will, und wer will das schon, also Wetten, dass…? kucken, meine ich. In diesem Zusammenhang unbedingt erwähnenswert erscheint mir auch die Plattenküche mit Helga Feddersen, Gott habe sie selig, und Frank Zander, eine Mischung aus Musikladen und Klimbim, nur ohne die Titten von Ingrid Steeger.

In den Achtizigern gab es dann Formel Eins mit Peter Illmann, gefolgt von Ingolf Lück, Stefanie Tücking und Kai Böcking. Die Stars traten nun nicht mehr in Form von Bühnenpräsenz in Erscheinung, dafür aber in ihren Musikvideos, eine musikalische Darreichungsform, die kurz zuvor in Mode gekommen war. Formel Eins, ich habe es geliebt (während ich den gleichnamigen Autorennsport ungefähr so interessant fand und finde wie die Betrachtung eines Grashalmes beim Wachsen); leider musste es mit dem Aufkommen von MTV und VIVA bald sterben, sehr bedauerlich. Manchmal wird Formel Eins heute noch wiederholt, leider in unerträglicher Form, anstatt die damaligen Folgen einfach noch einmal zu senden, zeigen sie nur einzelne Ausschnitte, ständig unterbrochen von völlig überflüssigen Kommentaren nicht minder überflüssiger sogenannter B-Prominenter („Oh ja, bei dem Lied habe ich damals zum ersten Mal onaniert“ und so weiter).

Zurück zum Thema. Zu Zeiten von Formel Eins war das Schiff von Sailor längst gesunken oder bestenfalls im hintersten Winkel eines Hafenbeckens für alle Zeiten festgemacht als seeuntüchtiges Restaurantschiff. Ihr Sänger, George Kajanus, sang nicht nur sehr schön, während er auf seiner Gitarre spielte (übrigens eine sogenannte akustische Gitarre, was für ein Unfug in sich, das Gegenteil ist dann wohl eine optische oder olfaktorische oder was??), sondern er trug auf seiner Wange die Tätowierung eines kleinen Ankers. Also ich nehme nicht an, dass der wirklich tätowiert war, aber man weiß ja nie bei so einem richtigen Seebären. Ich gebe zu, es gab Zeiten, da vergötterte ich Sailor, konnte viele ihrer Lieder, frei von jeglichen Englischkenntnissen, mitsingen, und zu Karneval ging ich als – nein, nicht als Seemann – als George Kajanus, ohne Gitarre, aber mit Ringelpullover, Schiffermütze und Anker auf der Backe, also auf der Wange, meine ich. (Ich bin mir sicher, heute gibt es nicht wenige Menschen, die einen Anker oder andere Bildnisse auf der Backe, nicht auf der Wange tragen.)

Sah man früher Tätowierungen bei den oben genannten Randgruppen vor allem auf Unterarmen und im Falle von George Kajanus im Gesicht, auch die alten Nordchilenen beschränkten sich zunächst auf Hände und Füße, so ist heute nahezu keine Körperregion mehr davon ausgenommen. Während das in den Neunzigern vor allem bei Damen beliebte Arschgeweih aus gutem Grund aus der Mode gekommen ist (was bei einer Tätowierung ja eher eine Art langfristiges persönliches Pech bedeutet), sieht man zunehmend junge Männer mit tätowierten Waden. Ich finde das schlimm. Ein Jungsbein soll haarig sein, aber nicht tätowiert, so ist es meines Wissens in der päpstlichen Schöpfungsordnung vorgesehen, vielleicht irre ich mich aber auch. Vielleicht ist ja auch der Papst unterhalb seines wallenden Gewandes großflächig gefärbt, niemand wird es je erfahren, ist wohl auch besser so.

Proportional zur Anzahl der Tätowierwilligen wächst auch die Zahl der Tattoo-Studios, in der Nachbarschaft zum Beispiel erfolgt die piksende Färbung direkt hinter einem Schaufenster, der einzufärbende sitzt mit entblößtem Körper(teil) in einer Art Frauenarztstuhl, während der Künstler mit mächtigen, von oben bis unten tätowierten Armen für jedermann sichtbar seinem stechenden Werk nachgeht. Ich frage mich, tätowiert der sich eigentlich selbst, oder geht er dafür seinerseits in ein Tatoo-Studio seines Vertrauens? Sinngemäß dieselbe Frage stelle ich mir schon seit langem für Frisöre und Zahnärzte, ohne je eine verlässliche Antwort erhalten zu haben.

Ich gestehe: auch ich wollte nicht länger zur Randgruppe der Nichttätowierten gehören, deswegen ließ ich das bereits vor geraumer Zeit ändern, nur was ganz kleines aus dem Tätowiererkatalog, etwas größeres hätte auch nicht auf meinen spillerigen Oberarm gepasst; ein Ornament ohne jede symbolische Aussage, so hoffe ich jedenfalls, aber genau weiß ich es nicht, vielleicht ist es ja ein fremdländisches Schriftzeichen, welches mich in ein eher ungünstiges Licht rückt, etwa als Kinderhasser oder Paarhuferkopulierer. Wenn es so sein sollte, werde ich es hoffentlich niemals erfahren.

Tätow

Eine Bitte zum Schluss: keine Wort darüber an meine Eltern, auch mit Mitte vierzig bin ich kein Freund unnötiger Diskussionen. Vielen Dank!

 

Tschick – eine persönliche Nachlese

Im Urlaub hat man Zeit, jedenfalls ich, sonst wäre es für mich kein Urlaub – Zeit zum Lesen. So habe ich „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf zu Ende gelesen, nachdem ich es vor ein paar Wochen begonnen hatte, immer nur morgens in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit und abends wieder zurück.

Ich mag Herrndorfs Art zu schreiben, schon „In Plüschgewittern“ begeisterte mich. Nun also Tschick, der verkürzte Name eines der beiden Helden, ein russischer Achtklässler; „Tschichatschow“ kann sich schließlich keiner merken, geschweige denn, es aussprechen.

Der andere Held – und Ich-Erzähler des Romans – ist Maik, nach eigenem Empfinden der größte Langweiler in seiner Klasse, von niemandem beachtet, vor allem nicht von Tatjana, die er anschmachtet, und die alle zu ihrer großen Geburtstagsfeier ins Haus am See einlädt – fast alle, außer Maik, Tschick und ein paar andere Außenseiter. (Maik ist übrigens meine Lieblingsfigur des Buches, so ein bisschen finde ich mich hier und da in ihm wieder.)

Maik und Tschick freunden sich an, und zu Beginn der Sommerferien kommt Tschick auf die Idee, mit einem gestohlenen (bzw. „geliehenen“) Lada in die Walachei zu fahren, wo Verwandtschaft wohnt. Nach anfänglichen Bedenken wittert Maik die Chance, endlich aus seinem Langweilertum auszubrechen, und so steigt er in den Lada ein.

Obwohl keiner von beiden weiß, wo die Walachei liegt, fahren sie erstmal los, aus Berlin hinaus Richtung Süden, durch das oberlausitzer Braunkohlerevier und andere rätselhafte Gegenden; sie begegnen skurrilen Personen, wie der merkwürdigen Familie in einem kleinen Dorf, die ganz viel weiß, nur nicht, wo der Supermarkt ist; der verlotterten Isa von der Müllhalde; dem Schützen Horst Fricke, der die beiden fast über den Haufen schießt; und der Sprachtherapeutin mit der Physiognomie eines Flusspferdes, die Tschick versehentlich einen Feuerlöscher auf den Fuß fallen lässt, so dass Maik von da an den Lada fahren muss.

Unterwegs erzählt Tschick Maik, dass er schwul ist, was jedoch auf den Verlauf der Geschichte – erfreulicherweise – keinen Einfluss hat.

Ein Unfall mit einem Schweinelaster beendet das Abenteuer schließlich, Tschick kommt in ein Heim, Maik kommt mit Arbeitsstunden davon, ansonsten läuft für ihn alles wie gewohnt weiter, bis auf den Hauch eines gewissen Heldentums, der auch Tatjana nicht entgeht.

Das Buch endet im elterlichen Swimmingpool, zusammen mit Maiks besoffener Mutter und einigen Möbelstücken – mit den letzten Worten:

„Weil, man kann zwar nicht ewig die Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange.“

Ein wunderbares Buch, sehr zu empfehlen!

Tschick

Bestseller

Neulich träumte mir, ich sei ein erfolgreicher Schriftsteller, der mit seinem Debütroman „Vom Leid des Kronkorkens“ innerhalb kürzester Zeit die Spitzen aller deutschen Bestsellerlisten erobert hat. Das Interview, welches der Feuilletonist einer führenden überregionalen Tageszeitung – im Folgenden der Einfachheit halber F genannt – anlässlich der Verleihung eines bedeutenden Literaturpreises mit mir führte, können Sie unten nachlesen. Da es die nachträgliche Wiedergabe eines Traumes ist, kann ich leider keine Garantie dafür übernehmen, dass das Interview genau so stattfand; mögliche Erinnerungslücken wurden phantasievoll aber plausibel ergänzt.

F: Herr Kah, Ihr Buch hat innerhalb von nur drei Wochen die Top Fünf fast aller deutschen Bestsellerlisten erreicht, selbst Marcel Reich-Ranicki äußerte sich schon verhalten begeistert. Wie erklären Sie sich den unglaublichen Erfolg Ihres Einstiegswerkes?

Ich: Keine Ahnung, ich fühle mich noch immer wie in einem Traum.

F: Können Sie uns etwas zur Entstehung des Buches sagen?

Ich: Es kam jäh über mich wie ein Anfall, als ich unter der Dusche stand, plötzlich war die Geschichte da und wollte aufgeschrieben werden, noch nass und nur mit einem Handtuch umwickelt, um meinen Kopf, stützte ich an meinen Schreibtisch und begann aufzuschreiben, was mir eine fremde Stimme in die Feder diktierte, Wort für Wort, Satz für Satz, Kapitel für Kapitel; nach zwei Wochen ununterbrochenen Schreibens war es dann fertig.

F: Sie meinen, Sie haben zwei Wochen lang ununterbrochen…

Ich: Bis auf kurze Unterbrechungen, die der menschlichen Natur geschuldet sind, sie verstehen. Man staunt, bei welchen Verrichtungen man alles schreiben kann: beim Essen, auf der Toilette, beim…

F: Gewiss, gewiss. Herr Kah, mit Ihrem Werk haben Sie ein Thema aufgegriffen, welches bislang in der Weltliteratur noch nicht behandelt wurde und womit Sie anscheinend den Nerv der Zeit getroffen haben. Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet hierüber zu schreiben?

Ich: Sehen Sie, das erklärt vielleicht gerade den Erfolg meines Buches: Die Bücherschränke sind voll mit Werken über Liebe, Sex, Mord und Totschlag, Körperausscheidungen, Familienschicksale; zu diesen Themen gibt es im Grunde nichts, was nicht schon irgendwann geschrieben wurde. Mein Buch behandelt ein Thema, das jeden betrifft, vom Kleinkind bis zum Greis, vom Hartz IV- Empfänger bis zum Top-Manager. Ich möchte Ihre Frage mal umformulieren: Warum hat bislang noch niemand darüber geschrieben?

F: Es gelingt Ihnen, den Leser mit einer sehr dichten Sprache zu fesseln…

Ich: … nicht wahr, da bekommt das Wort Dichter eine ganz neue Bedeutung (albernes Lachen)

F: M-hm… Herr Kah, gerade mit Ihrem Romanhelden, Malte-Kevin, diesem gleichsam beneidens- wie bedauernswerten Halbidioten, liebt, leidet und empfindet der Leser in einer nahezu unbeschreiblichen Weise, er könnte als unsterbliche Figur ist die Weltliteratur eingehen, Seite an Seite mit Christian Buddenbrook, Oskar Matzerath und Wachtmeister Dimpfelmoser – Hand aufs Herz: steckt etwas Malte-Kevin in Ihnen?

Ich: Nein. In mir steckten schon einige, das können Sie mir glauben, aber ein Malte-Kevin noch nicht, das wüsste ich…

F: (errötend) Nein, nein, das meinte ich nicht, vielmehr wollte ich wissen… also, trägt Ihr Roman autobiografische Züge?

Ich: Sehen Sie, so ein bisschen Malte-Kevin sind wir doch alle: wir essen, trinken, spielen gelegentlich an uns herum, bohren in der Nase, wenn es keiner sieht, schauen uns Pornos an, hören gerne Volksmusik…

F: Sie mögen Volksmusik?

Ich: Natürlich nicht. Sie?

F: Nun, ab und zu schaue ich schon das Musikantenstadel, wenn es nichts besseres gibt, das Fernsehprogramm wird ja auch immer schlechter…

Ich: Interessant… Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Volksmusik lieben?

F: Nun ja, lieben, so weit möchte ich nicht gehen, aber… ähem… – Herr Kah, haben Sie schon ein neues Werk in Arbeit, werden Sie versuchen, an den Erfolg vom „Leid des Kronkorkens“ anzuknüpfen?

Ich: Nein. Ich werde nie wieder etwas schreiben. Wissen Sie, nach dem Erfolg des „Kronkorkens“ kann ich mir nicht vorstellen, etwas vergleichbares oder gar besseres zu schreiben; alles, was jetzt noch käme, könnte dagegen nur farb- und tonlos erscheinen.

F: Was werden Sie stattdessen tun?

Ich: Ich spiele mit dem Gedanken, mir die Brust vergrößern zu lassen, und dann… mal sehen.

F: Eine Brustvergrößerung als… äh… Mann?

Ich: Ja warum denn bitte nicht? Wir leben im Zeitalter der Gleichberechtigung, Frauen arbeiten in metallverarbeitenden Berufen, die Zahl der Stahlträgerinnen ist in den letzten zehn Jahren sprunghaft gestiegen, sie fahren Bus, ja selbst ein Laubbläser in Frauenhand ist heutzutage nichts außergewöhnliches mehr; da werde ich als Mann mir ja wohl die Brust vergrößern lassen dürfen!

In diesem Moment ging der Wecker los und beendete jäh das Gespräch. Leider kann ich mich nicht erinnern, was das Thema meines Romans „Vom Leid des Kronkorkens“ war, welcher mir diesen Erfolg bescherte. Aber die Idee mit der Brustvergrößerung gefällt mir immer besser.

Abgeschrieben: Das Mädchen mit den 3 Chromosomen

Am 5. April lud der @vergraemer zum Jour Fitz nach Köln ein und nach Zahlung eines geradezu lächerlichen Bestechungsgeldes war es mir vergönnt, daran teilzunehmen, aktiv und passiv, wenn man so will. Zu den besonderen Vergnügen meiner passiven Teilnahme zähle ich es, Anja Gottschling, in gewissen Kreisen besser bekannt als @3x3ist6, zuzuhören, die ihren Text „Das Mädchen mit den 3 Chromosomen“ las.

Nun ist dieser Text viel zu schön, um nach einmaligem Vortrag womöglich für alle Zeiten in der Versenkung zu verschwinden, deswegen bin ich sehr froh, ihn hier mit Anjas Erlaubnis wiedergeben zu dürfen. Also, ich wünsche viel Vergnügen!

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Das Mädchen mit den 3 Chromosomen.

von Anja Gottschling

Ich wurde als Mädchen mit 3 Chromosomen geboren. Zwei X und einem Y Chromosom. Äußerlich macht es sich nicht bemerkbar, außer vielleicht dem Bedürfnis, sich vorm Fernseher am Sack zu kratzen, nach Genuss eines Bieres mit Herzenslust aufzustoßen oder jeden morgen gähnend vor der Toilette zu stehen um enttäuscht festzustellen, dass einem die Optionen fehlen und man sich definitiv setzen MUSS.

Ansonsten bin ich ganz normal. Normal für ein Mädchen mit 3 Chromosomen.

Das ich 3 Chromosomen habe liegt daran, dass meine Eltern bei der Bestellung des ersten Kindes lediglich ‚Hauptsache gesund‘ ankreuzten. Das ist so, als würde man bei einer Pizza ‚Hauptsache Teig‘ ankreuzen. Teig ist wichtig, aber ob die Zutaten geschmacklich harmonieren liegt dann am Lieferdienst.

Mein Lieferdienst war ein Storch.

Storch, das ist heute ein sehr veraltetes Verfahren, haben wir doch DPD, UPS oder Hermes den Götterboten, aber damals war es so üblich. Als der Storch mich zu meinen Eltern brachte, hielt sich die Freude erstmal in Grenzen. Ich war recht proper und der Storch etwas schwach. Er konnte nicht mehr so hoch fliegen wie er wollte und so nahmen wir jedes Hindernis mit, das höher als 5m war.

Türme, Brücken, Bonsais… So wurde ich mit einem etwas deformierten Hinterkopf ausgeliefert, was meinen Vater überlegen lies, die Bestellung zu stornieren. Mama freute sich doch so sehr auf ein süßes Baby.

Nun hatte man aber schon so lange gewartet, Kilo, ach was, zentnerweise Eis in sich hinein geschaufelt, das Kinderzimmer fertig eingerichtet und der Retourenschein schien mit der unverständlichen Bauanleitung der IKEA-Wickelkommode im Müll gelandet zu sein.

Ich durfte also bleiben.

Meine Eltern wollten mich jedoch erstmal nicht den Nachbarn präsentieren und holten sich ärztlichen Rat, wie man denn aus so einem Eierkopf-baby etwas vorzeigbares hinbekommen würde. Sein Tipp war rundstreicheln. Jeden Tag zu den Mahlzeiten bekam ich also extra energische Streicheleinheiten.

Täglich wurden die Fortschritte gemessen, ob Conehead bald ein normales Leben führen und den Nachbarn vorgestellt werden könnte.

Als der Kopf auf der Birnenskala nur noch eine 2 von ursprünglich 10 brachte, war es soweit. Alle waren ganz entzückt, weil es ein Mädchen geworden ist und Mädchen rosa Kleidchen tragen, immer lieb sind, gerade am Tisch sitzen und mit Barbies spielen. Normale Mädchen.

Ich saß also in meinem Körbchen, wurde gefüttert, ließ mich von den Nachbarn verhätscheln und wartete darauf, dass endlich mein Bruder zur Welt kam, weil es mit den Alten etwas öde war.

Puh, das waren die längsten 22Monate meines Lebens.

Doch dann war er endlich da. Jung, schön, perfekter Hinterkopf und alle liebten ihn. Er war Mein! Ich ließ ihn nicht mehr aus den Augen, er war so schön, so klein, so blöd, so neu auf der Welt und er roch so gut.

ER WAR MIR – wie der Rheinländer grammatikalisch korrekt zu sagen pflegt.

Irgendwann, als meine Eltern ihn frei ließen, wohnten wir in einem Zimmer und hatten ein Doppelstockbettiges Boot. Es war herrlich, schließlich musste er als Jüngster im unteren Abteil schlafen und ich war der Kapitän! Aber mit meinem zusätzlichen Y-Chromosom war ich ja schließlich auch mehr als qualifiziert.

Wir durchsegelten die Weltmeere, überfielen Piraten, strandeten auf einsamen Inseln und erlebten Abenteuerliches. Ich glaube sowohl LOST als auch „Fluch der Karibik“ wurden nach unserem Vorbild gedreht.

Wir hatten aber auch Freunde. Alles Jungs. Das war etwas ärgerlich, da ich durch meinen erhöhten X-Chromosom-anteil und diesen auffallend mädchenhaften rosa Kleidchen, in die mich meine Eltern stopften, immer die Mutter beim Vater-Mutter-Kind Spiel sein musste.

Im Nachhinein finde ich es allerdings nicht mehr so schlimm, denn immerhin war ich so nicht das Kind!  Das 7jährige Kind eines 5-jährigen zu sein ist bestimmt kein Spaß. Ich war also die Mutter… Mutter und Bestimmerin.

Bestimmerin zu sein liegt nicht so sehr in meinem Naturell, aber ich musste. Es war ja für die Familie. Wir, Vater 8, Mutter 7 und die Kinder 5 und 5, nicht verzwillingt oder sonstwie verwandt, brauchten ja jemanden, der aus Kompost und den wunderschönen Zierpflanzen, dem ganzen Stolz unserer Eltern, essen kocht.

Ich bestimmte also, dass es Spaghetti Bolognese gab. Spaghetti Bolognese aus Gras und den wunderschönen roten Rosen. Wir aßen aus fiktiven Tellern mit fiktiven Gabeln, hatten fiktive Gläschen aus denen wir, die Eltern, fiktives Bier tranken und die Kleinen eine Vanillemilch. Es war köstlich!

So Familienlebten wir täglich fröhlich vor uns hin, bis etwas total unsinniges im Fernsehen kam und der Vater und ich uns scheiden lassen mussten. Sohn 2 nahm er mit.

Am nächsten Tag waren wir dann wieder verheiratet. Wir sahen das nicht so eng, brauchten weder Pfarrer noch Scheidungsanwälte, ein einfaches „spielen wir VaterMutterKind?“ genügte um wieder eine glückliche Ehe zu führen.

Eines Tages ereignete es sich, dass ich meinem Mann das Bestimmer-Zepter übergab, um einen Familienausflug zu planen. Wir wanderten fröhlich 250m in die weite Welt hinaus um Kastanien zu sammeln.

Als alle Kastanien vom Boden gesammelt waren und wir uns nach ganz unfiktiver Verköstigung ausgewundert hatten, warum denn Rehe so etwas ekliges wie Kastanien überhaupt essen, stieg mein ‚Mann‘ in den Baum um weitere Kastanien aus den Ästen zu schütteln. Er rüttelte und schüttelte was das Zeug hielt und die Mannes-Kraft eines 8-jährigen so zuließ.

Nach all der Anstrengung musste er pullern.

Die Kastanie war dicht beblättert, so vernahmen wir zuerst nur das Geräusch und ein leises Kichern. Alle waren hellauf begeistert, auf was für tolle Ideen der Vater so kam und da Eltern Vorbild sind, stiegen unsere 5-jährigen Nichtzwillinge ebenfalls hinauf um von hoch oben die Wiese zu wässern.

Nun war Mutter dran, deren zusätzliches Y-Chromosom sie daran hinderte an Etikette in rosa Kleidchen zu denken und die ihren Männern in nichts nachstehen wollte.

Es wäre auch alles gut gegangen, denn der Winkel um an den Rüschen-söckchen vorbei zu zielen war exakt berechnet, kämen nicht genau in diesem Moment Nachbarn vorbei.

„Wie liebenswert diese kleinen Lausbuben, sie pinkeln von der Kastanie!“

„Wie furchtbar, wie unerzogen, das Mädchen pinkelt von der Kastanie!!!“

Wochen lang mussten sich meine Eltern nun anhören, wie misraten ich sei und zustimmend nicken, während sie sich beim Umdrehen schon wieder fröhliche Blicke zuwarfen und stolz darauf waren, dass ihr Mädchen die anatomische Benachteiligung beim ‚imStehenpinkeln‘ durch mathematisches Geschick ausglich und dank exakter Winkelberechnung weder Rüschensöckchen noch Schühchen traf.

So lebten wir vor uns hin. Meine Eltern wahrten ihr Gesicht indem sie Bestürzung vorgaben, wenn sie jemand auf ihr ungezogenes Gör ansprach und ich konnte dennoch die Bedürfnisse, die mein Y-Chromosom vorgab, stillen.

Bis zum Frühjahr 1993… da brauchte ich göttliche Hilfe.

Jeden Abend lag ich im Bett und betete. „Lieber Gott, bitte schenk mir noch keine Brüste. Es wird bald Sommer und ich kann dann nicht oben ohne rumlaufen!“ Gott erhörte mich, ich war den Sommer über flach wie ein Brett.

Gott erhörte mich etwas zu lange.

Auch ein Jahr später war da… nix. Langsam machte sich eine leichte Panik breit.

Ich rutschte auf Knien, revidierte was ich im Sommer zuvor in die Luft sprach und flehte ihn an.

Gott hatte ein Einsehen. 3-Chromosomen-Girl bekam Brüste!

Ich ließ mir die Haare wachsen und kaschierte die genetische Anomalie gekonnt. Anfänglich zwar noch mit einem Wattezusatz im BH, aber es wirkte täuschend echt, wie mein Y-Chromosom mir bestätigte. Meine Mutter ließ sich zwar nicht so täuschen, aber das war uns egal.

Ich lernte damit umzugehen, weniger die Nachbarn zu verschrecken und öfter das rosa-Kleidchen-Mädchen zu geben, auch wenn dieses Verhalten eher in Docs und Army-Jacke stattfand.

Ich begann mich für Jungs zu interessieren und wenn mich einer nicht wollte, dann schlug ich eben direkt zu, statt später bei Herzschmerzsongs zu heulen.

Ich fand Freundinnen, mit denen ich mich beim gegenseitigen Fingernägel lackieren langweilen konnte und reihte mich brav mit ihnen in die Warteschlange vorm Frauenklo ein, auch wenn ich eigentlich ein Recht auf den schnellen Weg übers Männerklo hatte.

Mit 3 Chromosomen zu leben bedeutet manchmal Verzicht, aber wenn man damit umzugehen lernt, lebt es sich wirklich hervorragend. Das möchte ich auch irgendwann einmal weitergeben, denn ich bin mir sicher, ich werde mal ein guter Vater.

***

Und hier das ganze nochmals zum nachhören und -sehen:
http://www.youtube.com/watch?v=dPWikONErBo&feature=related

(Ich selbst langweilte das Publikum an diesem Abend übrigens mit zwei zweifelhaften Geschichten aus dem Darkroom und aus der Bahnhofshalle.)

 

 

Rosenkrieg!

Gestern war ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Poetry-Slam-Lesung. Die Veranstaltung heißt „Rosenkrieg“ und läuft jeweils am letzten Sonntag jedes Monats im NYX in der Bonner Altstadt (ja ja, ich weiß, eigentlich „Innere Nordstadt“!), die „Macher“ des Rosenkriegs sind Florian Müller und ein gewisser Florian H. H. Graf von Hinten, weitere Details dazu gibt es hier.

Die Zahl der Zuhörer war eher überschaubar, und es traten nur vier Schreiberlinge gegeneinander an (deren Namen ich mir leider nicht gemerkt habe), sonst sollen es wohl mehr sein; dennoch oder vielleicht gerade deshalb war es ein sehr unterhaltsamer Abend. Gelesen (bzw. in einem Fall auswendig vorgetragen) wurde in drei Runden, erste und zweite Runde jeweils alle vier, dritte Runde die beiden Poeten, die zuvor vom Publikum die meisten Rosen erhalten hatten; eingeleitet wurde jede Runde durch jeweils einen außer Konkurrenz gelesenen Text der beiden Florians. Das mit den Rosen geht so: nach jeder Runde geben die Zuhörer durch Heben langstieliger Rosen zu erkennen, welche Texte ihnen gefallen haben, nach der dritten Runde wirft man die Rose dann seinem Favoriten auf die Bühne vor die Füße; wer am Ende den dicksten Rosenstrauß aufweisen kann, hat gewonnen, ganz einfach.

Es kam auch zu einem Zwischenfall, ich zitiere von der Rosenkrieg-Internetseite:
„Ferner gilt:
Jeder dessen Handy während der Veranstaltung klingelt wird umgehend verhaftet und auf die Bühne transportiert. Dort muß er ein von uns aus der Mundorgel ausgewähltes Lied vortragen!“

Diesen Satz hatte ein junger Mann aus dem Publikum offenbar nicht vorher gelesen oder nicht damit gerechnet, dass sie es damit ernst meinen, und das tun sie: Nachdem sein Handy piepte, fand er sich kurz darauf auf der Bühne wieder und durfte uns mit „Die Affen rasen durch den Wald“ erfreuen; na ja, früher in der CVJM-Jungschar haben wir es mit etwas mehr Elan intoniert, fast war ich versucht, auf die Bühne zu springen, dem armen Kerl die Mundorgel mit einem beherzten „Gib mal her“ zu entreißen und ihn somit von seinem Schicksal zu erlösen…

Am besten gefallen haben mir übrigens die Vorträge der beiden Florians, vor allem des Grafen, aber für die konnte man ja nicht stimmen.

Apropos stimmen: Bislang war ich Lesewettbewerben gegenüber immer sehr skeptisch; Schreiben ist meines Erachtens nichts, was sich besonders gut dazu eignet, Wettkämpfe zu gewinnen wie z. B. Kugelstoßen, dazu sind Texte einfach zu unterschiedlich und die Gut-Schlecht-Kriterien zu subjektiv. Das ist ja das angenehme beim „Jourfitz“ des @vergraemer, die Leute lesen dort aus Spaß an der Sache und nicht, um zu gewinnen. Nachdem ich jedoch gestern gesehen habe, wie locker-unverkrampft die Veranstaltung lief und wie viel Spaß auch dort die Vortragenden hatten, habe ich meine Meinung hierzu etwas gelockert.

Nun das für mich wesentliche: während der Vorträge spürte ich ein gewisses Kribbeln, selbst mal daran teilzunehmen und nicht nur im Publikum zu sitzen. Dass mir das Lesen von eigenen Texten vor Publikum großen Spaß macht, habe ich ja schon hier angedeutet, warum also nicht auch einmal „um die Wette“? Selbst wenn ich nach der ersten Runde raus sein sollte, die eine oder andere Rose bekomme ich vielleicht auch gehoben mit meinen textuellen Ergüssen… (ich hoffe nun auf viele Kommentare im Sinne von „klar schaffst du das“). Ja, ich bin versucht, mich für den nächsten Rosenkrieg am 23. Januar anzumelden. Soll ich…?

Ich müsste mal wieder was schreiben…

Vor einiger Zeit ließ ich mich hier über meine Freude am Schreiben auf der einen und über meine saumäßige Schreibdisziplin auf der anderen Seite aus. Was hat sich seitdem geändert? Nichts. Jedenfalls nichts in Richtung einer erkennbaren Verbesserung. Obwohl, ich schreibe seit einigen Monaten sehr regelmäßig und relativ viel: kurze Texte, nicht länger als 140 Zeichen, die sogar eine gewisse Leserschaft finden und von dieser zuweilen mit einem gelben Sternchen bedacht werden, Sie wissen was ich meine.

Auch einen längeren Text habe ich (seit über einem Jahr, insofern relativiert sich der Begriff „länger“ etwas) in Arbeit, ich weiß noch nicht, was daraus werden soll, ein Roman, eine Kurzgeschichte vielleicht. Das Problem ist (normalerweise hasse ich diese Phrase als Einleitung eines Satzes, in diesem Falle trifft sie jedoch den Nagel ins Auge): Ich schreibe nicht weiter daran, jedenfalls nicht regelmäßig. Dabei mangelt es nicht an Zeit und auch nicht an Ideen. Ich schreibe einfach nicht, warum auch immer. Nehmen wir einen typischen Sonntag, der eigentlich ideale Tag für schriftliche Betätigung. Erstmal ausschlafen, das ist ja klar. Dann ein ausgedehntes Frühstück mit meinem Partner, das ist uns heilig. Keine Ahnung, warum die diese Sonntagszeitung immer so umfangreich machen. Im Kulturteil lese ich über erfolgreiche Buchneuerscheinungen und die Schilderung eines normalen Arbeitstages des Autors. Schlechtes Gewissen packt mich und der feste Entschluss, mich später an den Schreibtisch zu setzen. Nach dem Frühstück verlagere ich mich in meinen bequemen Lieblingssessel am Fenster, wo ich die Zeitung zu Ende lese, anschließend blättere ich noch etwas in den Zeitschriften, die ich endlich mal lesen sollte, zumal die nächste Ausgabe bald kommt.

Das Wetter ist schön, wir beschließen, einen Spaziergang zu machen; danach, von der Wirkung frischer Luft getrieben, werde ich meiner kreativen Tätigkeit nachgehen. Der Weg führt uns am Biergarten vorbei. Wollen wir kurz auf eins…? Klar wollen wir. Kaum sitzen wir am Tisch unter hohen schattigen Kastanien, kommen Freunde von uns dazu, zufällig, nur auf ein Bier. Dabei bleibt es natürlich nicht, es ist so gemütlich, das Bier schmeckt. Als wir am frühen Nachmittag nach Hause kommen, lege ich mich hin, ein Stündchen nur. Als ich die Augen wieder aufschlage, schlägt die Kirchturmuhr sechs. Ich fühle mich noch etwas matt, zwinge mich aber vom Sofa. Einen Kaffee, eine Zigarette, dann an die Arbeit.

Während ich den Rechner starte, schauen mich ungeöffnete Post und zu tätigende Überweisungen anklagend an, die sich im Laufe der Woche auf dem Schreibtisch angesammelt haben. Deren Erledigung geht natürlich vor, erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Nachdem alles geöffnet, abgeheftet und überwiesen ist, öffne ich nun endlich die Datei meines Textes, der nun schon so lange seiner Vollendung harrt. Die erste halbe Stunde ist eine Qual. Ich lese das bereits geschriebene, ändere, ergänze oder streiche vielleicht das eine oder andere Wort oder einen ganzen Satz. Dann nähere ich mich dem vorläufigen Ende meines Textes, also der Stelle, an der es weiter gehen müsste. Ich habe lange nicht mehr meine Twitter-Timeline nachgelesen, nur ganz kurz. Zwei Tweets verlangen nach einer Antwort meinerseits, was ich umgehend voller Witz und Charme erledige.

Zurück zum Text. Also, wo war ich stehen geblieben. Der Satz, der jetzt geschrieben werden will, ist mit Abstand der schwerste. Er muss das vor längerer Zeit geschriebene verbinden mit dem noch zu schreibenden. Ein Blick auf die Uhr: ich muss meine Eltern anrufen, sonntags um diese Zeit rufe ich sie immer an, die warten sicher schon. Danach wird mir der Satz wie von selbst aus der Feder fließen, weil ich denn den Kopf etwas freier habe nach Erledigung familiärer Pflichten. – Keiner da, sind wohl unterwegs. Dann eben nicht. Gut, zum Text also. Ich beginne den problematischen Satz, kette mühsam Wort an Wort, bringe ihn zu Ende, Punkt. Nein, das geht nicht, er passt zum übrigen Text wie eine weiße Hand, die man einem Dunkelhäutigen transplantiert hat, weil gerade keine andere zur Hand, also ich meine, verfügbar war. Das Bild ist witzig, daraus kann man einen guten Tweet machen, der mir Sternchen, RT´s und Neufolger bringen wird, also wieder bei Twitter rein, wo ich neben der Platzierung des witzigen Tweets kurz die Timeline überfliege (33 Neueingänge, davon vier Antworten auf meine Tweets, denen ich gewohnt elegant entgegne).

Ich lösche den soeben geschriebenen Satz, der so gar nicht passen wollte und beginne einen neuen, wobei ich im Schreiben merke, ja, der fügt sich harmonisch an, davon noch zwei, drei weitere und der Schreibfluss würde mich erfassen. – Telefon. Meine Mutter. Detailreich erzählt sie mir die mehr oder weniger bedeutenden Ereignisse ihrer zurück liegenden Woche, ich ihr meine, wenn auch vielleicht nicht ganz so bis in alle Einzelheiten (manches müssen Mütter ja auch nicht wissen). Eine knappe halbe Stunde später, nachdem alles wesentliche ausgetauscht ist, widme ich mich wieder der Schrift. Der Satz steht wie eine Eins, perfekt, nun also der nächste, der mich dem Traum schriftstellerischen Ruhmes näher bringen wird. Mein Held betritt eine Kneipe. Ich habe Durst. Genauer: Kaffeedurst. Koffein wird die kreativen Gedanken erblühen lassen. Der Weg zur Kaffeemaschine führt mich an meinen Zigaretten vorbei. Gute Idee, lange nicht geraucht. Genüsslich stoße ich die bläulichen Wolken durch die Balkontür nach draußen, während der Kaffee duftend durchläuft.

In der Tat gehen mir die folgenden Sätze wesentlich besser von der Hand, der Text wächst, ich fühle mit meinem Helden, ich komme gut voran. Die Uhr leider auch. Nachdem ich den Satz zu Ende gebracht habe, muss ich aufhören, unaufschiebbare Einladung zum Essen, wir sind sowieso schon spät dran. Morgen; morgen werde ich an dieser Stelle nahtlos anknüpfen, das nehme ich mir fest vor. Wenn nicht… siehe oben.