Woche 19: Schädliche Zurückhaltung und zweifelhafte Charaktere

Montag: Die Vorsitzende des Verbandes der Deutschen Automobilindustrie heißt Hildegard Müller, womit widerlegt ist, man benötige einen ungewöhnlichen Namen, um es im Leben zu was zu bringen. Laut Zeitungsbericht findet Frau Müller, wir müssten mehr Autos kaufen, dazu fordert sie staatliche Kaufprämien für Kraftfahrzeuge. Andernfalls drohe „eine für die Industrie schädliche Zurückhaltung der Konsumenten“. Schöner kann man die Perversion unserer Konsumkultur kaum auf den Punkt bringen.

Die Bestellbestätigungsmail der Kantine endet mit „Bleiben Sie gesund“. Einen Zusammenhang mit der Qualität der Speisen unterstelle ich nicht, kann ihn aber nicht völlig ausschließen.

Lockerungen auch im Bundesviertel: Der Altkanzler kann wieder unmaskiert das Brausen der Bundesstraße betrachten, vgl. Eintrag vom vergangenen Montag.

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Dienstag: Schädliche Zurückhaltung der Konsumenten muss die Rüstungsindustrie nicht beklagen, irgendwo ist schließlich immer Krieg – die deutschen Kriegswaffenexporte sind um vierzig Prozent gestiegen, vermutlich ohne staatliche Kaufprämien. Da staunen die armen Autohersteller. Vielleicht sollten sie Panzer und Kampfflugzeuge ins Programm aufnehmen, am besten mit umweltschonenden Elektroantrieben.

Vorschlag für das Unwort des Jahres: „Nukleare Teilhabe“.

Abends war ich beim Friseur, der mich abwechselnd siezte und duzte, was mich nicht störte, das Ergebnis ist trotz Maskenpflicht zufriedenstellend ausgefallen. Neben mir wurden einem kleinen Jungen die Haare geschnitten. Ich nehme an, er saß nur deshalb still, weil Mami währenddessen vor seinen Augen einen Film vom Telefon abspielte.

Mittwoch: Seit geraumer Zeit fahre ich mit dem Fahrrad ins Werk, dabei führt mich der Weg morgens am Hofgarten vorbei durch die Stockenstraße zur Adenauerallee/B9, die Einmündung ist ampelbewehrt. Bislang wechselte die Ampel jeden Morgen genau in dem Moment auf grün und ermöglichte so ein haltloses Einbiegen in die B9, wenn ich mich ihr auf wenige Meter genähert hatte; kurz nachdem ich die in den Asphalt eingelassene Kontaktschleife passierte, wechselte das Licht mit großer Verlässlichkeit zu meinen Gunsten. Wechselte, Präteritum, Vergangenheit: Seit zwei Tagen bleibt die Ampel rot und zwingt mich zum Halten (im Gegensatz zu den meisten anderen Radfahrern, die derartiges Leuchten ignorieren beziehungsweise als nicht ernst zu nehmenden Vorschlag auffassen, halte ich wirklich vor roten Ampeln, auch wenn mir dadurch verständnislose Blicke und manchmal Verwünschungen sicher sind). Ich beklage das nicht, nehme Momente des Wartens dankbar an, man wird ja nicht jünger. Außerdem wird sie ihre Gründe haben.

„Gerade jetzt ist Mundhygiene besonders wichtig“, sagt der Mann in der Reklame. Warum gerade jetzt und sonst nicht so, sagt er nicht.

Donnerstag: „Florian Schneider ist tot“, lässt mich der Geliebte am frühen Morgen kurz nach dem Zähneputzen (Mundhygiene ist wichtig) wissen. In vorübergehender Unkenntnis darüber, wer das ist beziehungsweise war, zumal die Glut meiner Verehrung für die Gruppe Kraftwerk allenfalls ein fernes, schwaches Glimmen ist, und der unzutreffenden Annahme, es handelte sich hierbei aufgrund des Namens um einen jüngeren Mann, gab ich zur Antwort: „Ja ja, die Guten gehen immer zuerst.“ – „Na dann haben wir an dir ja noch länger was“, so der Geliebte. Das kommt alles auf die Lorbas-Liste, die ich irgendwann anlegen werden.

Freitag: Hochzeitstag – seit nunmehr achtzehn Jahren bin ich glücklich verheiratet. Von Herzen danke ich dem Liebsten, dass er es immer noch mit mir aushält und mich nicht längst vom Hof gejagt hat; rückblickend, ohne ins Detail zu gehen, hätte er vielleicht den einen oder anderen Grund dazu gehabt. (Bitte denken Sie sich hier eine geigenschwangere Kussszene.) Der achtzehnte Hochzeitstag heißt übrigens Türkishochzeit. „Der Halbedelstein gilt als Schutzstein und soll Verführungen von der Ehe fernhalten“, lese ich dazu. Möge er dabei weiterhin erfolgreich sein.

In der Mittagspause sah ich einen, der in sommerlicher Freizeitkleidung einen Kinderwagen schob und in sein Kabeldings sagte: „Die Agenda habe ich noch nicht erhalten, aber die IT macht langsam Druck.“ Das nennt man wohl Parkoffice.

Fünfundsiebzig Jahre Kriegsende (oder Kapitulation, Befreiung; zweifelhafte Charaktere sprechen auch von Niederlage). Immer das gleiche Bild bei den zu solchen Anlässen üblichen Kranzniederlegungen: Politiker schreiten zu dem bereits niedergelegten Kranz, bücken sich und zupfen an den Schleifen herum, jedesmal, immer. Ist das eine Art Übersprungshandlung, oder legen die Helfer die Kränze zuvor bewusst unordentlich aus, damit die Politiker während des Gedenkens Beschäftigung vorweisen können?

Samstag: Eine echte und sinnvolle Innovation, nicht nur in viruslastigen Zeiten, wären Mundschutzmasken in schalldichter Ausführung, vor allem in Verbindung mit einer gesetzlichen Tragepflicht für bestimmte Personen. Um juristische Imponderabilien zu vermeiden verzichte ich darauf, Namen zu nennen, obschon mir spontan einige einfielen.

Sonntag: Da mich der Geliebte einer gewissen Geschwätzigkeit hier im Blog bezichtigt, verzichte ich für heute auf weitere Ausführungen.