Woche 46: Sie werden ihre Gründe haben

Montag: Pünktlich zu Beginn der Karnevalssession erfreuen die Stadtwerke die Jecken und Berufstätigen vorübergehend aufgrund von Bauarbeiten mit einer neuen, kreativen Linienführung der Stadtbahn 66. Welcher von beiden Gruppen der Mann zuzuordnen ist, der morgens bei Temperaturen nahe Null mit Jacke, Laptoptasche, kurzer Hose und baren Füßen in der Bahn Richtung Königswinter stand, war auf die Schnelle nicht zu ermitteln. Wobei sich jeck und berufstätig nicht gegenseitig ausschließen, wie immer wieder zu beobachten ist, nicht nur in der Session.

In die Kantine ging ich heute Mittag unbegleitet, da die üblichen Mitesser too busy waren. Merke: Wer keine Zeit für die Mittagspause hat, hat wesentliche Teile der Kontrolle über sein Leben abgegeben.

Dienstag: Des Morgens steht ein Elektroroller quer auf dem Gehweg. Mannhaft widerstehe ich der Versuchung, das Teil umzutreten. Zudem gebührte der Tritt ja eher dem Trottel, der den Roller dort abgestellt hat.

„Wir sollten erstmal die Lernkurve nehmen, statt die eierlegende Wollmilchsau zu haben, und proaktiv die Quick Wins indentifizieren.“ Es sind Sätze wie diese, für die es sich lohnt, morgens aufzustehen.

Verkehrte Welt: An manchen Tagen liegen die Haare abends, kurz vor dem Zubettgehen, am besten.

Mittwoch: Während einer Skype-Konferenz klingelt mein Telefon. Was geht in Menschen vor, die es zwanzig mal klingeln lassen, ehe sie begreifen, dass der Angerufene gerade das Gespräch nicht annehmen kann oder will?

Zunehmend erwische ich mich mittwochabends bei der Frage, ob es ein Wort dafür gibt, wenn man etwas, das man früher sehr gerne tat, nur aus einem Pflichtgefühl heraus nicht aufgibt.

Bei Herrn jawl las ich das wunderbare Wort „sinnentnehmend“.

Donnerstag: An manchen Tagen gehe ich aus dem Haus und fühle mich genervt von Menschen, die nichts anderes tun als an anderen Tagen auch, genau deswegen.

Auf dem Fußboden der U-Bahnhaltestelle liegt ein ausgepackter Tampon, glücklicherweise augenscheinlich unbenutzt. Eines der großen Rätsel des Lebens: Warum sind Dinge, wo sie sind?

Freitag: Ein weiteres Rätsel: „Ich bin fein mit einem Slot am Nachmittag.“ Was mag Menschen im Leben schlimmes widerfahren sein, wenn sie sich einer solchen Ausdrucksweise bedienen?

Vielleicht ist das auch genetisch bedingt. Für solche Fälle hat der Geliebte eine Idee: „Kann man da nicht ein anderes Gen einspritzen, das das eine überredet, oder so?“

Samstag: Auftritt am Abend in Zell an der Mosel, wo sie „Miau“ rufen, wenn der Rheinländer „Allaaf“ meint. Sie werden ihre Gründe haben.

Sonntag: Die (mir zugegebenermaßen unbekannte) Autorin Yasmina Reza im Interview mit der FAS: „Mit dem Alter verlässt man gewisse Zonen innerhalb seiner selbst, die man einfach nicht mehr besucht.“ Das klingt angenehm herbstlich.

Am Nachmittag lockte der Herbst ein wenig vor die Tür.

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(Im Frühling kommen sie in Scharen, um die Blüte dieser Bäume zu instagramieren. Jetzt, wo sie in herbstlicher Farbschönheit stehen, interessiert das niemanden.)