Woche 52/2022: Nächste Ausfahrt Zierfische

Montag: Driving home from Christmas. Der Junge, der einst meinen Namen trug, freute sich zu Weihnachten am meisten darauf, wenn am Heiligabend nach Gottesdienst und Essen endlich das Glöckchen bimmelte und Einlass gewährt wurde ins Wohnzimmer, wo am Baum die (echten) Kerzen brannten und wir, mein Bruder und ich, uns auf die darunter abgelegten Geschenke stürzen durften. An den Weihnachtsfeiertagen verbrachte ich viel Zeit im Wohnzimmer, betrachte bäuchlings auf dem Teppich liegend den Zug der L.G.B.-Eisenbahn mit der neuen Lok oder den neuen Wagen, wie er Runde um Runde den Baum umfuhr. Oder ich blätterte in dem Eisenbahnbuch, das ich geschenkt bekommen hatte. Schaute immer wieder auf die neue Uhr. Freute mich über den Pullover, eine Muh, eine Mäh oder Tätärätätä. Am zweiten Weihnachtstag fuhren wir mit dem Wagen nach Lämershagen, einem Ortsteil im Südosten von Bielefeld, von wo aus wir durch den Teutoburger Wald flanierten. Von der Brücke über die A 2 aus winkten wir den Autos zu, die sich auf dem Rückweg von den Weihnachtsbesuchen befanden.

Seit ich in Bonn wohne, sitze ich an Weihnachten selbst in einem dieser Wagen auf der A 2. Heiligabend verbringen wir meistens hier in Bonn, am ersten Weihnachtstag geht es los: Nicht allzu lang schlafen, mit einer Spur Widerwillen aufstehen, Geschenke ins Auto packen, dann auf nach Ostwestfalen zur Mutter und weiter zur Schwiegerfamilie. Gut essen, reichlich trinken, die alten Geschichten, lachen, manchmal auch ein Tränchen, Taxi ins Hotel. Morgens Frühstück, wenn es gut läuft ohne Kater (dieses Mal lief es gut), die Mutter nach Hause bringen, zurück nach Bonn. Ankommen, Ruhe. Das ist heute der Moment, auf den ich mich zu Weihnachten am meisten freue. Weihnachten 2022 ist überstanden – rückblickend war es ganz schön.

Er hat es auch hinter sich.

Während der Rückfahrt sah ich kurz vor Hamm auf einem Feld rechts der A2 ein großes Schild: »700 Aquarien – Nächste Ausfahrt Zierfische«. Wie viele Autofahrer mögen dadurch inspiriert werden, in Hamm abzufahren und erst nach Erwerb von einem Duzend Guppys oder Black Mollys ihre Fahrt Richtung Süden fortzusetzen?

Nach Rückkehr ging ich als erstes spazieren, woran mir auch einsetzender Regen nicht die Freude nahm. Bemerkenswert: Bereits heute, am Zweiten Weihnachtstag, liegt gegenüber neben dem Spielplatz der erste Tannenbaum abgelegt. Da konnte wohl auch jemand nicht das Ende vom Fest abwarten.

Was jemanden bewogen haben mag, am unteren Ende unserer Straße zwei Kartons mit Bananen abzustellen, ist schwer nachvollziehbar. Falls die Absicht war, anderen damit Gutes zu tun, darf man diese als im Ansatz verrissen betrachten, denn die Früchte sind dunkelbraun bis schwarz. Wenigstens verzichtete er auf den üblichen Zettel „Zu verschenken“.

Dienstag: Eine Woche Urlaub. Wie einst Opa Hoppenstedt bekam ich zu Weihnachten einen Plattenspieler geschenkt. Den nahm ich heute in Betrieb und bin damit sehr zufrieden.

Mich erreichte eine verspätete Weihnachtsgeschichte, die ich aus persönlichen Gründen sehr schön finde.

Mittwoch: Nach spätem Frühstück unternahm ich einen Gang durch die Innenstadt und an den Rhein. Fußgängerzone und Rheinpromenade waren menschengefüllt, viele haben ebenfalls Urlaub zwischen den Jahren. Am Rheinufer lag ein Hotelschiff aus der Schweiz, im Restaurant auf dem Hinterdeck wurde das Mittagessen gereicht. Die örtlichen Ausflugsschiffe dagegen liegen menschenleer im Winterschlaf bis zur nächsten Saison, bei einem wurde auf dem Oberdeck der Weihnachtsbaum demontiert. Nur wenige Frachtschiffe waren unterwegs. Rheinabwärts brummte ein Boot mit angebautem Kran, beladen mit grünen und orangen Bojen; Tonnenleger nennt man diese Boote meines Wissens. Tonnen gibt es wohl immer zu legen, auch zwischen den Jahren.

Oberhalb des Rheinufers steht im großen Garten einer Villa ein türmchenartiges Ziegelgebäude mit vielen Fenstern. Ich weiß nicht, welchem Zweck es ursprünglich diente. Vielleicht als Teehäuschen oder Gästeunterkunft. Oder als Rückzugsort des Hausherrn, wenn die Lieben daheim mal wieder an den Nerven zerrten; wo Menschen zusammenleben, kommt das gelegentlich vor, Sie kennen das sicher. Wie auch immer: Ich stelle es mir traumhaft vor, ofenbeheizt an einem kalten Wintertag darin im bequemen Sessel ein Buch zu lesen (wenn Sie unbedingt wollen auch ein gutes Buch, ich weiß nicht, warum das immer wieder betont werden muss; wer freiwillig schlechte Bücher liest, ist selbst schuld, wobei die Beurteilung, ob ein Buch gut oder schlecht ist, jedem selbst obliegt), zwischendurch immer wieder den Blick über den Fluss schweifen lassen. Oder am Schreibtisch zu sitzen, dahinter ein Fenster mit Rheinblick. Wem da nichts zu schreiben einfällt, dem ist nicht zu helfen.

Oder einfach nur sitzen und schauen.

Auch müsste ich mir nicht sagen lassen „Du hörst ja komische Musik“, wenn während des Sitzens, Lesens oder Schreibens Pink Floyd läuft. Das haben wir gerne: Erst zu Weihnachten einen Plattenspieler verschenken, dann rummeckern. So eine Langspielplatte läuft übrigens ganz schön kurz, stelle ich fest. Das war mir gar nicht mehr bewusst.

Donnerstag: Vergangene Nacht schlief ich schlecht. Gegen drei Uhr wachte ich auf und schlief längere Zeit nicht wieder ein. Vielleicht war der Körper urlaubsbedingt schlafsatt. Draußen zankten Katzen und schrieen dabei wie angebratene Säuglinge. Während des Wachens zogen diverse Gedanken durch, nichts Bedeutendes und nichts, was in Erinnerung geblieben ist, bis auf die Idee für einen passenden Buchtitel: „Was besorgt den, der keine Sorgen hat?“

Es hätte ein schöner Wandertag werden können. Geplant war eine Tour durch den Bonner Norden, das Meßdorfer Feld und das Vorgebirge maximal bis Brühl. Da Komoot hierfür etwa sieben Stunden veranschlagt, war offen, wie weit ich kommen würde, ehe das Nachlassen von Wanderlust oder Tageslicht eine Beendigung der Wanderung ratsam erscheinen ließen, was dank der parallel verlaufenden Stadtbahnlinie jederzeit möglich wäre. Trotz Schlafmangels kam ich zur vorgesehenen Zeit um kurz nach acht gut aus dem Tuch, der Regen war durch, der Tag versprach trocken, zeitweise sonnig zu werden, perfektes Wanderwetter.

Doch ach: Beim Anziehen der Wanderschuhe waren diese zu klein. Das konnte nicht sein: Ich habe sie im Oktober gekauft und war seitdem zweimal beanstandungslos darin gewandert. Da auch meine Füße seitdem sehr wahrscheinlich nicht gewachsen sind, beschloss ich, dennoch zu gehen, vielleicht glichen sich Schuhe und Füße im Laufe des Tages wieder an. Leider nicht – bei Ankunft am Meßdorfer Feld spürte ich die erste schmerzende Blase an der rechten Ferse, bald darauf auch an der linken. Daher entschied ich mich für den Abbruch und schleppte mich zur nächsten Bushaltestelle, wo bald ein Bus kam und den geschundenen Körper zurück in die Innenstadt brachte, von wo aus ich mich mit letzter Kraft unter Tränen nach Hause schleppte. (Na gut, ganz so schlimm war es nicht, dennoch ärgerte ich mich über den ausgefallenen Wandertag, ohne genau zu wissen, wem oder was das Scheitern in die Schuhe zu schieben war.)

Für ein Bild hat es immerhin gereicht: Das Meßdorfer Feld, dahinter das Vorgebirge.

Statt Wanderung als ein Sofalesetag. Es hätte zweifellos schlimmer kommen können. Und die Wanderung wird so bald wie möglich nachgeholt.

Freitag: Aufgrund interner atmosphärischer Störungen, auf deren Inhalt und Anlass ich nicht weiter eingehen werden, wünschte ich mir vormittags das oben besungene Gartenhäuschen am Rheinufer als vorübergehenden Rückzugsort. Wo so ein Häuschen nicht zur Verfügung steht, muss ein Zimmer mit einer zu schließenden Tür und einer Stereoanlage ausreichen.

Dort hörte ich nach längerer Zeit mal wieder „Mein Vaterland“ von Friedrich Smetana. Was ich mich dabei schon immer fragte: Warum ließ der Komponist das wunderschöne, zu Grundschulzeiten ausgiebig besprochene Stück „Die Moldau“ nach dem sanftleisen Ausklang mit zwei Donnerschlägen enden? Sollte das Publikum im Konzertsaal damit geweckt werden?

Später hörte ich bei noch immer geschlossener Tür die zweite Symphonie von Mahler, ebenfalls länger nicht mehr gehört. In welcher Verfassung mag sich Gustav Mahler während der Entstehung befunden haben? Jedenfalls nicht sehr aufgeräumt. Immerhin, das Finale ist grandios.

In einem Blog las ich die Frage, seit wann man sich zum Jahreswechsel nicht mehr „einen guten Rutsch“ wünscht. Ich weiß nicht, ob man das wirklich nicht mehr tut, vielmehr meine ich, es immer noch häufig zu hören und lesen. Soweit es mich betrifft, meide ich schon lange diese Formulierung, weil ich sie für unsinnig halte. Warum sollte jemand ins neue Jahr rutschen, und worauf? Soll er gar ausrutschen und sich was brechen? Das ist nun wirklich niemandem zu wünschen, weder zum Jahreswechsel noch sonst. Gut, ein paar wenigen vielleicht schon, aber das muss man denen ja nicht mitteilen.

Samstag: Das Jahr verabschiedet sich mit ungewöhnlich milder Temperatur. Auch das häusliche Klima scheint (zum Zeitpunkt der Niederschrift) wieder gemäßigter. Was soll der Zank auch immer.

Wie zu lesen ist, erfreuen sich die Namen Erwin und Kurt wieder größerer Beliebtheit bei der Namensgebung Neugeborener. Schade, dass mein Vater (E) und sein Lieblingsschwager (K) das nicht mehr erleben. Aber vielleicht erheben sie darauf im Jenseits ihr Glas. Bestimmt würden sie das tun.

Ich mag es immer wieder sehr, wenn die Sichtweise anderer bei bestimmten Randthemen mit meiner übereinstimmt:

»Ich habe neulich einen Hörtest gemacht und wenn ich es richtig verstanden habe, sagte man mir, ein Hörgerät wäre sehr sinnvoll für mich, ich glaube aber, ich bin im Moment nicht in der Verfassung, dass ich noch mehr mitbekommen möchte.«

Gelesen bei Frau Anje

„Hey Helene Fischer, spiel Roland Kaiser“, sprach der Geliebte zu fortgeschrittener Stunde zur Siri-Box und wunderte sich über die ausbleibende Ausführung. Ansonsten blieben die Silvester-Feierlichkeiten in angemessenem Rahmen.

Sonntag: Neben einem Asteroiden, der die Erde doch nicht verheerte, nennt die Sonntagszeitung in der Rubrik „Zehn düstere Prognosen, die sich nicht bewahrheitet haben“, wir würden uns nie wieder die Hand geben. Was genau wäre daran so düster gewesen?

Ich verschone Sie mit der in anderen Blogs üblichen Jahresrückblicksfragenliste, da es Sie vermutlich wenig interessiert, was ich gutes oder schlechtes gegessen, ob ich weniger oder mehr Geld ausgegeben habe oder meine Haare länger oder kürzer trage.

Neujahrsgrüße sind jetzt häufig verbunden mit dem Zusatz, 2023 möge ein besseres Jahr werden als das alte, was angesichts der aktuellen Krisen in der Welt nachvollziehbar, jedoch keineswegs wahrscheinlich ist. Gleichwohl kann ich das verblichene 2022 in ganz persönlicher Hinsicht nicht beklagen, insgesamt war es für mich ein recht gutes Jahr. Unsere Corona-Infektion haben wir gut und ohne spürbare Nachwirkungen überstanden, die bislang einzige Auswirkung der Energiekrise ist ein etwas zu kaltes Büro im Werk. Vielen Imponderabilien begegne ich inzwischen mit wachsendem Fatalismus. Wenn es schlimmer nicht wird, bin ich zufrieden. Wir werden sehen.

Spazieren war ich heute auch.

***

Ich wünsche Ihnen ein erfreuliches Jahr und eine angenehme erste Woche. Im Übrigen würde es mich sehr freuen, wenn Sie hier weiterhin gelegentlich lesen. Machen Sie es gut!

Woche 38/2022: Gluck des Urlaubs

Montag: Ein angenehmer Urlaubstag nach gutem Schlaf und spätem Aufstehen. Beim Frühstück schauten wir kurz in die Beerdigung der Queen. Mein Interesse an königshäuslichen Schicksalen ist nicht sehr ausgeprägt, daher ging mir ihr Ableben nicht sonderlich nahe. Als die Dudelsäcke loslegten, stellte sich schon eine gewisse Gänsehaut ein.

Nachmittags verbanden wir die Besorgung regionaler Spezereien (Trüffelprodukte, Olivenöl, Rosé) mit einer Ausfahrt durch die immer wieder Herz und Auge erfreuende Gegend.

Dienstag: Morgens nahm ich drei Tassen aus dem Geschirrschrank, ehe mir einfiel, dass wir nur zu zweit hier sind. Die Gewohnheit.

Nach dem Frühstück durchwanderten wir bei Sonnenschein die Umgebung, selbstverständlich mit einem angemessenen Pique Nique.

Den Nachmittag nach Rückkehr verbrachte ich überwiegend im Liegestuhl, wo Vorstehendes notiert wurde und aus dem ich Sie herzlich grüße.

Mittwoch: „Hier ist dein Gluck“, schrieb morgens jemand per Mail. Er ahnte wohl nicht, wie recht er damit hat.

Der Sportteil der Tageszeitung erfährt von mir normalerweise keine Beachtung und wird rasch überblättert. Heute blieb das desinteressierte Auge indes an dem Wort „Schach-Skandal“ hängen. (Ähnliches geschah vor längerer Zeit schon einmal beim Wort „Schachschlacht“, das ich notierte und mangels Verwendungszweck bislang nicht benutzte.) Wodurch also kann eine derart unaufgeregte Beschäftigung wie das Schachspiel (es fällt mir schwer, es als Sport zu bezeichnen, gleiches gilt für Angeln und Autorennen) einen Skandal auslösen? Folgendes ist passiert: Der in Schachinteressiertenkreisen als Superstar gefeierte Magnus Carlsen hat eine Partie verloren gegen einen unbekannten Neunzehnjährigen, weil letzterer womöglich betrogen hat. Das wirft die Frage auf, wie man bei einem Brettspiel, wo für jedermann sichtbar schwarze und weiße Püppchen verschoben werden, betrügen kann. Die konkrete Antwort bleibt der Bericht schuldig, nur soviel: Laut einem Experten sei es denkbar, „mithilfe von Analkugeln Vibrationssignale zu empfangen, um die nächsten Züge zu planen“. Mir ist schleierhaft, wie rektale Stimulation ausgerechnet geschicktere Schachzüge anzuregen vermag. Jedenfalls rief die Idee bei mir länger anhaltendes Grinsen hervor.

Apropos Züge: Laut einem anderen Bericht beabsichtigt die Deutsche Bahn, die Staatsbahn der Ukraine bei der Einführung europäischer Standards im Bahnbetrieb und Management zu beraten. Trotz Krieg gilt die ukrainische Eisenbahn bislang als erstaunlich zuverlässig, daher sollte sie das Angebot der DB besser ausschlagen. Oder ein Gegenangebot unterbreiten: die Beratung der Deutschen Bahn bezüglich stabiler Betriebsführung unter widrigen Umständen wie Sturm, Laubfall, Hitze und Schnee.

In von mir abonnierten Blogs las ich gleich zweimal das Wort „lecker“, das ich aus nicht näher bekannten Gründen furchtbar finde.

Köstlich hingegen das Getränk und die Lektüre. Gluck des Urlaubs.
Abends hätte ich beinahe einen Sonnenuntergang fotografiert

Donnerstag: Manchmal, zum Gluck Glück nicht allzu oft, wache ich nachts auf und schlafe nur schwer wieder ein, so wie vergangene Nacht, nachdem mich Blasendruck aus dem Tuch getrieben hatte. Dann geht in meinem Kopf ein Gedankenquirl an, der mich eine Zeit lang mit potentiellen Unannehmlichkeiten beschäftigt, etwa die, Fremde schlichen um das Haus, um uns auszurauben oder zu meucheln, oder sie brechen das Auto auf und klauen den Wein aus dem Kofferraum. Jedes draußen vernommene Knacken und Rascheln wird plötzlich zur Gefahr. Doch schlief ich irgendwann wieder ein und wachte ungemeuchelt auf, als hinter der Jalousie der neue Tag hellte.

Nach dem Frühstück fuhren wir mit dem unversehrten Auto nach Avignon, zunächst in die Metro, die wir jedes Mal erst nach einem längeren Verwaltungsakt, der mehrere Metromitarbeiter beschäftigt, betreten dürfen. Hauptzweck des Besuchs war die Ergänzung der Champagnervorräte, ein Kistchen Rosé landete ebenfalls auf dem Wagen; beides sollte stets in ausreichender Menge im Haus sein, gerade in diesen Zeiten.

Danach fuhren wir in die Markthalle, waren allerdings spät dran, viele Stände schlossen schon. Dennoch werden wir voraussichtlich in absehbarer Zeit nicht hungern.

Nach einem Kaffee (manchmal geht es auch ohne Alkohol) auf dem zentralen Place de l‘Horloge fuhren wir zurück, wo der Liegestuhl schon bereit stand.

Noch einmal zur Bahn. Die bekommt neue Züge. Dazu die Zeitung (Hervorhebungen durch den Chronisten):

An neuen Zügen wird der Aufschwung des Schienenverkehrs nicht scheitern. Bahnchef Richard Lutz kündigt ein gewaltiges Investitionsprogramm für neue Züge an. Bis zum Ende des Jahrzehnts gibt die Bahn 19 Milliarden Euro für neue Züge aus.

[…]

Ein großer Teil der Pläne war bereits bekannt, etwa die Anschaffung von insgesamt 73 ICE 3 Neo, die ab dem kommenden Dezember auf die Gleise kommen und allein 2,5 Milliarden Euro verschlingen.

[…]

Die Modernisierung der Strecken wird viele weitere Milliarden verschlingen, die der Bund bereitstellen muss.

(General-Anzeiger Bonn)

Ich weiß nicht, ob der Verfasser des Artikels sich in Ausbildung befindet oder nur einen schlechten Tag hatte; gleichwohl fraget man sich: Liest das vor Veröffentlichung niemand mehr gegen?

Freitag: Eine Woche geht immer schnell herum, das gilt (zum Glück) für Arbeits- wie (leider und umso mehr) für Urlaubswochen. So ist heute schon wieder der letzte Tag vor unserer Abreise morgen früh. Den Vormittag verbrachte ich sitzend (beziehungsweise liegestuhlliegend) und lesend vor unserem Haus. Der Liebste unternahm unterdessen einen Ausflug nach Vaison La Romaine in den Supermarkt. Er kann sich dort stundenlang aufhalten und die regionalen Lebensmittelangebote besichtigen, wohingegen mein diesbezügliches Interesse nach kurzer Zeit nachlässt. Daher ist es für alle Beteiligten besser, er fährt ohne mich.

Bei Max Goldt las ich den aus der Psychiatrie stammenden Begriff „querulatorischer Interpunktionsexzess“. Dieser bezeichnet den Drang mancher Internetnutzer, ihre mehr oder weniger sinnvollen Wortbeiträge mit möglichst vielen Ausrufe- und Fragezeichen zu bekräftigen. Also etwas, das Sie in diesem Blog üblicherweise nicht vorfinden!!!!!

Samstag: In der Nacht hatte es zu regnen begonnen. Auch morgens zur Abfahrt trommelten noch schwere Tropfen auf das Vordach und den Blechtisch vor der Tür, an dem wir an den Vorabenden den Rosé zur Nacht genossen hatten. Einerseits linderte der Regen den Abschiedsschmerz ein wenig, andererseits blieb die übliche Wehmut, die mich jedesmal begleitet, wenn wir auf dem Weg von Malaucène zur Autobahn letztmalig Landschaft und Dörfer durchfahren. Bis zum nächsten Mal – voraussichtlich im nächsten Frühling, wenn nicht eine Seuche, ein Atomkrieg, ein Meteoriteneinschlag oder was anderes Dummes dazwischen kommt. Man muss ja mit allem rechnen.

Sonntag: Hier noch ein bebilderter Rückblick auf die zurückliegende Woche.

Die Nachbarschaft
Höflichkeit hat ihren Wert – in diesem Fall max. 1,20€
Blick in Richtung Grozeau-Quelle
Besucher nach dem Pique Nique
Es ging uns gut
Nochmal unser wunderbares Haus
Wasserangebot im Metro zu Avignon. Gut Ding will Kohle haben.
Haustechnik

Nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub, bitte entschuldigen Sie die diese reichlich abgewetzte Floskel. Der Rucksack ist gepackt für die viertägige Reise ins Allgäu von morgen bis Donnerstag, worauf ich mich trotz ungünstiger Wetterprognose sehr freue. Möge die Deutsche Bahn mit mir sein.

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Ich wünsche auch Ihnen eine angenehme Woche.

Woche 25/2022: Perfekter Service, unaufgeregter Regen und haarige Männerbeine

Montag: Der erste Tag der zweiten Urlaubswoche begann mit einem guten Frühstück. Wir sind in Beaune (Burgund) in einem sehr guten Hotel. Zu loben ist (neben den ausreichend dimensionierten Saftgläsern) die Frühstückszeit bis elf Uhr; vergangene Woche auf dem Schiff mussten wir bis neun am Platz sein, was täglich ein unurlaubshaftes Frühaufstehen erforderte. Daran gewöhnt, war ich auch heute bereits um sieben wach und hätte erforderlichenfalls aufstehen können. Mangels Erfordernis blieb ich liegen, schlief nochmal ein und träumte, ich führte ein Privatgespräch mit Angela Merkel. Sie war sehr sympathisch, wir verstanden uns bestens. Keine Sorge, es geht mir gut.

Nach dem Frühstück fuhren wir durch die Umgebung. Es ist immer noch heiß, wenngleich etwas weniger als die Tage zuvor.

Das Burgund ist bekannt für seinen Drogenanbau im höheren Preissegment.
La Rochepot
Chagny

Während der Fahrens sahen wir immer wieder regionaltypisch helle Rinder, die augenscheinlich zufrieden grasten oder sich im Schatten der Bäume niedergelassen hatten. Eigentlich hat es so ein Rind gut: Es sorgt sich nicht um morgen, Klima, Krieg und Corona, was ziehe ich an, hat stets zu fressen, und zu gegebener Zeit wird es nach letaler Entnahme zu Rumpsteak, Kotelett und anderen Leckereien verarbeitet, wohingegen wir nach Ende der Laufzeit nutzlos vergraben oder verbrannt, bestenfalls kompostiert werden.

Dienstag: Der Tag begann trübe und deutlich kühler. Morgens regnete es leicht, was uns nicht davon abhielt, (als einzige) das Frühstück beschirmt auf der Hotelterrasse einzunehmen. Wenn man hier ein gekochtes Ei essen möchte, bereitet man es sich selbst zu. Dazu steht ein Behälter mit kochendem Wasser bereit. Das rohe Ei legt man in eine farbig markierte Haltevorrichtung, die an den Behälterrand gehängt wird, auf dass wallendes Wasser das Ei garend umspüle. Zur Kontrolle der Kochzeit dienen Sanduhren mit drei, vier und fünf Minuten Rieseldauer. Die von mir gewählten vier Minuten erwiesen sich als zu kurz, nach dem Köpfen war das Ei innen noch sehr flüssig. Morgen versuche ich sechs Minuten nach Armbanduhr, vielleicht auch sieben, ich habe ja Zeit.

Pünktlich zum Mittag, als wir zu einer weiteren Tour in die Umgebung aufbrachen, brachen auch die Wolken auf und die Hitze kehrte zurück. Daher sah ich bei der Einkehr am Nachmittag in Nuits-Saint-Georges zunächst davon ab, einen Rosé zu bestellen.

Sonnenbrillen sind albern.

Mittwoch: Das Frühstücksei war perfekt. Seine Zubereitung indes mysteriös: Wie geplant hängte ich es in den Behälter mit kochendem Wasser, um es sieben Minuten später herauszuholen. Irgendwann brachte mir die Bedienung unaufgefordert ein gekochtes Ei an den Tisch. Ob es das von mir zuvor eingehängte war, weiß ich nicht, und woher sie von meinem Siebenminuteneiwunsch wusste blieb ihr Geheimnis. Wie auch immer – so geht perfekter Service.

Vormittags verließen wir Beaune mit Ziel Arbois im Jura, wo der Liebste Unterkunft außerhalb des Ortes gebucht hat. Uns wurde eine Suite zugewiesen mit einem Sprudelbecken für zwei Personen im Schlafzimmer, von dem wir aus Gründen der Ressourcenschonung jedoch keinen Gebrauch machten.

Allee bei Chaussin, etwas nachbearbeitet

Bei Ankunft gab es ein Gewitter, das in angemessenem Abstand an uns vorbeizog, wohingegen es in der Gegend um Beaune ziemlich heftig gewütet haben muss.

Das Hotel am nächsten Tag, ohne Gewitter

Direkt unter unserem Balkon rauscht ein kleiner Wasserfall. Inwieweit er die Nachtruhe beeinträchtigt, wird sich zeigen. Zur Not haben wir noch die Ohrstöpsel vom Schiff.

Donnerstag: Ohrstöpsel waren nicht erforderlich. Das Zimmer ist nach außen gut schallisoliert.

Vormittags, als die Sonne noch nicht allzu sehr stach, machten wir einen Rundgang durch die örtlichen Fluren, vorbei an einem weiteren Wasserfall. Nachmittags unternahmen wir eine Ausfahrt in die Umgebung mit Weinkauf. Auch hier im Jura gibt es gute Weine, wobei manche durch ihre Sherry-Note zunächst gewöhnungsbedürftig sind.

Bei Les Planches-près-Abois

Auf dem Rückweg machten wir Halt in einem Supermarkt, um uns einen Überblick über das lokale Schaumweinangebot zu verschaffen. Während des Schauens räumte ein offenbar gut gelaunter Angestellter Weinflaschen von einer Palette in die Regale, dabei pfiff er „Désormais“ von Charles Aznavour und verschaffte mir so für den Rest des Tages einen durchaus angenehmen Ohrwurm.

Jetzt, da ich dieses notiere, sitze ich auf dem Balkon, unter mir rauscht der Hauswasserfall, aus Südwesten grollt das nächste Gewitter heran. So könnte ich Tage, Wochen verbringen: sitzen, schauen, lesen, etwas schreiben. Gerne auch ohne Gewitter.

Freitag: Morgens regnete es. Als wollte das Wetter uns den Abschied zur Abreise leichter machen. Wobei ich Regen ja grundsätzlich mag, in Maßen, versteht sich, nicht in verheerenden Sturzfluten. Dieser war guter Regen, unaufgeregt fiel er senkrecht zu Boden, ohne Böen, Hagel, Blitz und Donner. Beim Frühstück hätte ich gerne noch länger zugeschaut, wie vor dem Fenster dicke Tropfen im Gewässer unterhalb des kleinen Wasserfalls Blasen schlugen. Aber wir mussten los, wenn es am schönsten ist, Sie wissen schon.

Unaufgeregter Regen

Der Regen blieb während der Fahrt ständiger Begleiter, mal als graue Front in der Ferne, mal waren wir mittendrin und zuckelten aus Sicherheitsgründen langsam hinter Lastwagen her, warum nicht, wir hatten es nicht eilig. Die Welt wäre wohl friedlicher, nähmen wir Menschen es gelassener hin, dass Dinge so lange dauern, wie sie eben dauern.

Aufgeregter Regen

Dann meldete das Auto auch noch Öldurst, der an der nächsten Raststätte gestillt wurde.

Samstag: Zu Hause ist es auch schön. Spätestens nach der ersten Nacht im eigenen Bett, der ersten Sitzung auf heimischer Brille wird dies immer wieder deutlich.

Besorgungen ließen mich die menschengefüllte Fußgängerzone aufsuchen. Im Vorbeigehen sah ich aus den Augenwinkeln einen jungen Mann am Straßenrand sitzen, vor sich drei Becher mit Schildern, die ich erst richtig wahrnahm, als ich schon dran vorbei war; die visuelle Wahrnehmung benötigte wohl ein paar Sekunden, bis sie in den zuständigen Hirnwindungen angekommen war. Auf den drei Schildern stand: „LSD“, „Bier“ und noch was anderes, vielleicht „Tabak“, ich wollte nicht nochmal zurück gehen. Auch weiß ich nicht, ob hierdurch die Spendenbereitschaft der Vorbeigehenden positiv beeinflusst wurde.

Im Übrigen habe ich den subjektiven Eindruck, der Anteil der Gehenden, die ihr Umfeld ausschließlich über das Display ihres Datengerätes wahrnehmen, ist nochmals angestiegen.

Sonntag: Unter der Überschrift „Das nervt uns im Sommer“ beklagt die Sonntagszeitung neben anderem behaarte Männerwaden in kurzen Hosen. »Shorts lassen erwachsene Männer wie Kinder wirken. Verschwitzte, behaarte Unterschenkel sind unappetitlich. Vor allem aber lassen sie jedwede Eleganz vermissen«, so der vermutlich männliche Verfasser, ganz klar ist das nicht erkennbar. Als Alternative rät er, einen langen Rock zu tragen. Mit Verlaub – das ist so ziemlich das Dümmste, was ich seit langem gelesen habe. Was ist lächerlicher, deprimierender anzusehen als rasierte Jungsbeine, womöglich noch tätowiert? Und über Männer in Röcken möchte ich mich lieber nicht äußern. Deshalb für alle, die es ähnlich sehen, dieses:

Archivbild aus dem vergangenen Jahr

Was wirklich nervt: Wenn man mich, wie jetzt geschehen, „Liebe:r Carsten“ anschreibt.

Auch aus der Sonntagszeitung:

F.A.S. vom 26.6.2022

Ich verstehe die Frage nicht.

Gesehen am Wegesrand während des Spaziergangs; wieder so etwas, wo ich gerne die Geschichte dahinter wüsste:

Bonn, Friedrichstraße

***

Das war es mal wieder mit dem Urlaub. Die Vorfreude auf die Werktätigkeit ab morgen hält sich in Grenzen, aber das kommt bestimmt noch. Kommen Sie gut durch die Woche!

Woche 15/2022: Menschengewühl am Hotelfrühstücksbuffet

Montag: Es wäre vermessen zu behaupten, in den vergangenen zwei seuchengeplagten Wochen hätte ich bedeutende Dinge getan. Genau genommen tat ich nicht viel mehr als zu schlafen und gegen die FDP zu stänkern. Heute, am ersten Arbeitstag danach, wurde ich daran erinnert, mit welchen, Außenstehenden nur schwer erklärbaren Beschäftigungen man acht Stunden auch verbringen kann, wofür man zudem noch gut bezahlt wird.

Gelesen bei Frau Novemberregen: »Nicht, dass das Leben an sich irgendwie entspannter geworden wäre aber bekanntlich spielt ja die eigene Haltung zu den Fakten auch eine ganz wesentliche Rolle. Und ich bin fest entschlossen, mich nicht mehr übermäßig zu sorgen oder vielleicht auch einfach gar nicht mehr, es führt ja zu nichts.« Und ich sah, dass es gut war.

„Schützen dürfen wieder Eier schießen“, steht in der Zeitung. Autsch. (Denken Sie sich hier spätpubertäres Kichern.)

Dienstag: Im Werk den Maileingang komplett abgearbeitet, einschließlich der Rückstände der vergangenen zwei Wochen. Zwei Anfragen habe ich unbearbeitet abgelegt, mangels Idee, was die Anfragenden von mir wollen und Lust, nachzufragen. Mal sehen, ob sie sich nochmal melden. Erfahrungsgemäß nicht. Das mag arbeitsmoralisch bedenklich erscheinen, andererseits ist es nicht zu viel verlangt, ein Anliegen einigermaßen verständlich zu formulieren.

Dank der Wärme verbrachte ich den frühen Abend mit Zeitungs- und Bloglektüre auf dem Balkon. Aus der Wohnung links schallte Musik, von der Terrasse unten Ess- und Gesprächsgeräusche, das ganze hinterlegt vom Rauschen der Stadthauslüftung. Wer es nicht mag, sollte nicht mitten in der Stadt wohnen und aufs Land ziehen, wo er sich dann über Hahnenkräh und Kuhglockenklang erregen kann.

Mittwoch: Apropos Hahn beziehungsweise Hühner – die Eierpreise steigen. Sind die Schützen schuld?

»Verantwortlich handeln« steht ausgerechnet auf einem Landtagswahlplakat der FDP. »Schlaue Ranzen tragen Tablet« auf einem anderen. Schlaue Ranzen? Egal, ich will nicht schon wieder darauf rumhacken.

»Wo möchtest du in 500 Jahren leben?«, las ich im Vorbeifahren auf dem Plakat einer anderen Partei, deren Name mir auf die Schnelle nicht auffiel (so als kleiner Hinweis an deren Wahlstrategen). Hierzu sei angemerkt: Ich möchte nicht von einer Organisation geduzt werden – nicht von Ikea noch Apple, auch nicht der internen Unternehmenskommunikation, schon gar nicht von einer Partei. Des weiteren hoffe ich sehr, in fünfhundert Jahren gar nicht mehr zu leben; immerhin diese Hoffnung scheint nicht unbegründet.

Deshalb frühzeitig an das Ende denken. („Reerdigung“ ist ein wunderbares Wort, finden Sie nicht auch?)

Dessen ungeachtet staunte ich mittags nach dem Essen über ein Meer aus Gänseblümchen im Rheinauenpark und fragte mich, ob das zuvor in jedem Jahr so viele waren, mir das nur nie auffiel; machmal ist man ja lange Zeit blind für etwas, das schon immer da war. Sehen und staunen Sie selbst:

..
..

Nachmittags sinnierte ich mit zwei Kollegen während einer Kaffeepause auf dem sonnenbeschienenen Werksbalkon (ja, sowas haben wir) über die aktuelle Lage. Wir waren uns schnell einig, die Menschheit im Ganzen ist bekloppt und voraussichtlich nicht mehr zu retten.

Donnerstag: Oder doch? Die gestern zunächst unerkannt gebliebene Partei nennt sich „Partei für Gesundheitsforschung“, ich habe heute nochmal für Sie genauer hingeschaut. Sie verfolgt laut Plakat ein bemerkenswertes Ziel: »Mit zukünftiger Medizin werden Menschen durch Verjüngung wahrscheinlich nicht mehr an Alterskrankheiten oder hohem Alter sterben und tausende Jahre leben können, und zwar körperlich und geistig gesund.« Über die geistige Gesundheit der Parteigründer erlaube ich mir kein Urteil. Wobei mich schon interessieren würde, wie die sich das mit der Verjüngung praktisch vorstellen: Hat man ab einem bestimmten Alter oder Grad der Gebrechlichkeit Anrecht auf eine Therapie, aus der man anschließend in jugendlicher Frische hervorgeht? Muss man dann den ganzen Mist wie Pubertät, Schule, Sturm und Drang nochmal durchmachen, immer wieder? Wohin mit den ganzen Menschen, wenn keiner mehr Lust hat zu sterben und immer noch neue geboren werden? – Die vielleicht besser mal nicht wählen.

Freitag: Vormittags fuhren wir los in Richtung Südfrankreich mit Zwischenhalt in Beaune. Nach zwei Wochen Seuchenpause und danach einer nicht allzu anstrengenden Arbeitswoche erscheint der (ohnehin äußerst unschöne, daher möglichst gar nicht zu verwendende) Begriff „wohlverdienter“ Urlaub übertrieben, aber machmal ergeben sich die Dinge so, was will man machen. Es könnte schlimmer sein. So richtig in Urlaubsstimmung bin ich noch nicht, das kommt bestimmt noch, spätestens mit dem ersten Rosé.

Samstag: Die Maskenpflicht scheint in Frankreich weitgehend überwunden. Zu den Dingen, die ich zwei Jahre lang nicht vermisst habe, gehört Menschengewühl am Hotelfrühstücksbuffet. Im Übrigen muss ich mich an das allgemeine Wir-tun-so-als-wäre-es-vorbei-Spiel noch etwas gewöhnen, das wird schon. Ab Herbst tragen wir dann wieder Maske, also noch nicht wegwerfen.

Nach staureicher Fahrt erreichten wir am späten Nachmittag unser Reiseziel Malaucène. Das Ankunftsgetränk war zwar kein Rosé, dennoch fühlte es sich schon sehr nach Urlaub an.

Santé

Sonntag: Den ersten Urlaubstag verbringen wir wie immer ohne nennenswerte Aktivitäten. Die Niederschrift dieser Tagesnotiz erfolgt auf der Terrasse unserer Ferienwohnung mit Blick auf das angewilderte Gärtchen, darin blühender Flieder, gelber Löwenzahn und außergewöhnlich großblätteriger Klee. Rechts ein großes Hühnergehege, dessen Bewohnerinnen (kein generisches Femininum, augen- und ohrenscheinlich wohnt dort kein Hahn) zufrieden in den Tag picken und ab und zu die üblichen Hühnergeräusche von sich geben. Einziger Schönheitsfehler: Zur Linken trennt nur eine hohe Hecke das Grundstück von der stark befahrenen Straße nach Carpentras, die beliebt zu sein scheint bei Motorradbesitzern, deren Maschinen einen nicht unerheblichen Teil der eingesetzten Energie in unösterliches Donnergrollen umsetzen. Auch das ist wohl auch eine Art von Freiheit.

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Ich wünsche Ihnen einen schönen Rest von Ostern und eine angenehme Woche.

Woche 37/2021: Wenn man weiß, wie es geht

Montag: Abends gab es vom Geschäftsbereich eine Grillparty, richtig mit Menschen und „Dreigeh“. So sehr ich Händeschütteln schon immer ablehne – diese Faustbegrüßung muss sich stattdessen auch nicht unbedingt durchsetzen. (Für die völlig kontaktfreie Begrüßung ist die Menschheit leider noch nicht reif.) Den Vorsatz, um 21 Uhr zu gehen, hielt ich ein. Es wurde dann auch Zeit, da allgemeines Aufräumen die Gemütlichkeit zu trüben begann, da will man nicht im Wege stehen.

Dienstag: Heute gab es ein virtuelles Arbeitstreffen unter Nutzung des Kommunikationsmediums „Mural“. Da mindestens fünfzehn der neunzehn Teilnehmer wie ich damit nicht vertraut waren, gab es zuvor eine spielerische Einweisung. Dann wurden wir aufgeteilt in Gruppen, wobei jede Gruppe dasselbe Thema bearbeitete, danach wurden die Gruppenergebnisse zusammengeführt. (Habe ich schonmal erwähnt, dass ich Gruppenarbeit ablehne, virtuell wie präsent? Bestimmt.) Um elf, als wir längst noch nicht fertig waren, verließ ich die Veranstaltung wegen eines Anschlusstermins. Ich möchte nicht schon wieder den Digitalskeptiker geben, doch bin ich mir sicher, ohne dieses Mural und erst recht ohne Gruppenarbeit wäre ein besseres Ergebnis in wesentlich kürzerer Zeit zustande gekommen.

Zwischendurch hieß es: „Wir können uns alle duzen.“ Das ist auch so etwas, das mir mit zunehmendem Alter immer weniger notwendig erscheint. #gerneweiterpersie

„Erzeugerpreise rauf – Verbraucherpreise runter“, las ich abends auf dem Wahlplakat der MLDP. Die haben es offenbar verstanden.

Irgendwo gelesen: „Mit Fremden reden ist überhaupt das Allerbeste.“ Wie neulich schon geschrieben: Man sollte stets offen sein für abweichende Meinungen, und wenn sie noch so absurd erscheinen.

Mittwoch: „Das hat mit Rasen nix zu tun – biste halt schneller unterwegs.“ Der Geliebte hat jetzt ein Elektrofahrrad.

„Die Corona-Pandemie hat den Trend zum Urlaub im Kokon beflügelt: Viele Touristen haben nach einer Analyse des ADAC in den Sommerferien versucht, den Kontakt zur Mitmenschheit zu reduzieren […] Man will jetzt auch auf der Reise unter sich sein, vielleicht sogar allein sein“, steht in der Zeitung. Das können noch touristisch interessante Zeiten werden. Das Wort „Mitmenschheit“ gefällt mir übrigens ausgesprochen gut.

Kein schöner Rant: Heute sah auch ich erstmals die Wahlwerbung der Grünen. Da hierzu vermutlich bereits alles gesagt und geschrieben wurde, erspare ich mir und Ihnen weitere Schmähungen.

Alle Jahre wieder – Wie sie sich nun wieder in Wort und Schrift empören über vorzeitiges Angebot von Weihnachtsnaschwerk in den Supermärkten, als ob sie gezwungen würden, derlei zu kaufen und essen. Ich freue mich jedenfalls sehr auf den ersten Nougat-Marzipan-Baumstamm. Merke: Stollen und Kurzarm schließen sich nicht zwingend aus.

Donnerstag: Morgens teilte ich das Bad mit drei Wespen, die freundlicherweise wenig Interesse zeigten an einem gemeinsamen Brausebad.

Kurz nach Mittag steckte eine junge Kollegin den Kopf durch den Türspalt meines Büros, es kam zum kurzen Plausch über „lange nicht gesehen“ und „wie gehts dir“. Es lag nicht an der Maskenpflicht, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, wer die Dame war; vielleicht hat sie es ja nicht gemerkt.

Wie die Zeitung berichtet, fahren fast siebzig Prozent der Erwerbstätigen nach wie vor mit dem Auto ins Werk, auch auf kurzen Strecken. In Deutschland sind vierzehn Prozent mehr Autos angemeldet als vor zehn Jahren; der Trend zu Zweit- und Drittwagen in deutschen Haushalten steigt. Offenbar gibt es noch zu wenig Staus und zu günstigen Kraftstoff. So wird das jedenfalls nix mit dem Klimaschutz.

Freitag: Sollten Sie demnächst in der Inneren Nordstadt von einem Radio am Kopf getroffen werden, dann ist es womöglich unser netzfähiges (beziehungsweise -unfähiges) Bad-Radio auf dem Flug aus dem Fenster, nachdem es mal wieder minutenlang verbunden, geladen und zwischengespeichert hat.

Um kurz nach vierzehn Uhr gingen mir zuerst die dringend zu erledigenden Geschäfte, dann die Arbeitslust aus. Da mein Gleitzeitkonto gut gefüttert ist, zudem Wochenende, besser noch: eine Woche Urlaub, verließ ich das Werk zeitig. Daheim empfing mich der erwartete Was-willst-du-denn-schon-hier-Blick des Geliebten, das muss man dann aushalten.

Samstag: Als wir im Sommer 2019 den Urlaub in Malaucène wegen unerträglicher Hitze nach einer Woche abbrachen und nach Hause flüchteten, ahnte wir nicht, dass es danach länger als zwei Jahre und zwei Monate dauern würde, bis wir wieder herkommen. Nun sind wir da, und es ist wunderschön, endlich wieder hier zu sein. (Ja, mit dem Auto, ich weiß.)

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Ein kurzer Kampf mit dem Türschloss unseres Hauses wurde nach vorübergehendem Ausbau desselben und Rückfrage bei der Vermieterin zu unseren Gunsten entschieden. (Wie fast immer im Leben: Wenn man weiß, wie es geht, ist es ganz einfach, aber eben nur dann.) Danach gingen wir zum traditionellen Ankunftstagesprogramm über, das im Wesentlichen aus Ankunftsgetränk, Pizza und Rosé besteht.

Sonntag: Nirgendwo und -wann schmeckt Baguette so gut wie beim ersten Frühstück in Frankreich, das ist bestimmt auch dieser Urlaubseffekt. Ob indes der beste Stollen wirklich aus Dresden kommt, vermag ich nicht zu beurteilen.

Ansonsten verbrachten wir den Tag überwiegend in erfreulicher Ereignislosigkeit aus der Liegestuhlperspektive, während im Hintergrund die Meteorologie tobte.

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Falls auch Sie gerade Urlaub haben, wünsche ich Ihnen eine angenehme Zeit. Allen anderen auch.