Woche 46/2022: Wenn man sich wohlfühlt und Schweinefutterzusatzstoff als Zufluchtsort

Montag: Gewundert, mal wieder, über Kollegen, die ohne Not sonntags Mails schreiben.

Nach Feierabend suchte ich ein namhaftes Kaufhaus in der Bonner Innenstadt auf. Dort ist nun ein Teil der Rolltreppen außer Betrieb genommen worden, zur Energieersparnis, wie große, direkt vor den stehenden Treppen angebrachte Tafeln verkünden. Deswegen sind die stehenden Stufen nicht zugänglich, die Treppen somit auch als Nichtrolltreppen unbenutzbar. Stattdessen ist der Konsument, je nachdem, von welcher Seite er kommt, genötigt, nach Ankunft in der nächsten Etage eine Runde durch die Abteilung zu gehen, um per noch rollender Treppe ins nächste Stockwerk zu gelangen. Als Gernegeher beanstande ich das nicht, vielmehr frage ich mich, warum man überhaupt nur per Rolltreppe ins nächste Stockwerk gelangt, warum gibt es nicht auch ganz normale Treppen? Vermutlich gibt es die, irgendwo versteckt, wo man sie nicht auf Anhieb findet. Ich bin der Meinung, für Menschen ohne körperliche Einschränkungen oder unhandliche Traglasten gibt es keinen vernünftigen Grund, überhaupt eine Rolltreppe zu benutzen; Aufzüge erst ab fünf Stockwerken.

Dienstag: Erstmals kam es zu einem persönlichen Treffen mit Leuten eines IT-Dienstleisters, mit denen ich seit fast zwei Jahren gut und gerne zusammenarbeite und die ich bislang zwar regelmäßig, aber nur virtuell traf, und von denen ich zumindest teilweise nicht einmal wusste, wie sie aussehen, da sich kamerabegleitete Teams-Besprechungen bei uns erst langsam durchzusetzen beginnen, was ich bislang nicht vermisste. Das persönliche Treffen war sehr angenehm, wenngleich mir dabei deutlich wurde, wie wenig ich auch größere nicht-virtuelle Besprechungsrunden, bis März 2020 alltäglich, vermiss(t)e.

Abends aßen wir gemeinsam in einem vietnamesischen Restaurant, in dem ich bislang nicht gewesen war und das aufzusuchen ich mich ohne diese Einladung so bald auch nicht veranlasst gesehen hätte, manchmal hat man unerklärliche Vorbehalte gegenüber Unbekanntem. Das Essen war sehr gut, nicht zuletzt auch wegen der auf meinen Wunsch hin unterlassenen Korianderbeigabe. Mir ist völlig unerklärlich, wie man Koriander mögen kann. Ähnlich muss es schmecken, wenn man sich Seife über das Essen raspelt.

Mittwoch: Donald Trump hat (auf seinem Anwesen, wie berichtet wird) verkündet, demnächst wieder als Präsidentschaftskandidat antreten zu beabsichtigen. Als ob die Welt gerade nicht genug Krisen zu verkraften hätte.

Auf dem Rückweg zu Fuß vom Werk schnappte ich Gesprächsfetzen auf: „Das ist schon ganz nice“ und „Da hat man dann seinen eigenen space.“ Vielleicht ist das der Grund, warum junge Menschen heute kaum noch ohne Kopfhörer in der Öffentlichkeit anzutreffen sind, womöglich mögen sie den Unfug, den ihre Altersgenossen so von sich geben, einfach nicht hören. Beziehungsweise Altersgenossinnen, in diesem Falle war beides gesprochen von jungen Frauen. Sicher Zufall, es liegt mir fern, anzunehmen oder gar zu unterstellen, vor allem junge Frauen redeten dummes Zeug. Auch dieser Satz kam von einer jungen Frau: „Ich glaube, man bringt die beste Leistung, wenn man sich wohlfühlt.“ Wer wollte dem widersprechen.

Apropos wohlfühlen: Die Glühweinbude am Rheinpavillon hat nun wieder abends geöffnet. Das ist sehr erfreulich.

Besonders nice mit einem Hauch Amaretto

Nach Rückkehr musste ich mir von meinen Lieben anhören, ich röche wie ein Weihnachtsmarkt. Das war es wert.

Donnerstag: Heute legte ich mal wieder einen Inseltag ein, also einen anlasslos freien Tag zwischendurch. Warum ich diese Tage nicht auf einen Freitag oder Montag lege, werde ich gelegentlich gefragt. Nun: Ich mag diese Inseln im Fluss der Werktätigkeit. Die Arbeitswoche bis Mittwoch ist dadurch angenehm kurz, und am Freitag naht das Wochenende. Wohingegen sich die Rückkehr nach einem verlängerten Wochenende oft besonders mühsam anlässt. Darum Inseltage. Diesen nutzte ich für eine Wanderung durch die Wahner Heide südöstlich von Köln, die schon länger im Geplant-Ordner bei Komoot angelegt war. Das Wetter zeigte sich gnädig, nur ein paar wenige Regentropfen verlangten für kurze Zeit nach einer Kapuze, ansonsten blieb es trocken und mild.

Sehen Sie:

Bei Rösrath, kurz nach Betreten der Heide

Ebenfalls bei Rösrath

Vor Altenrath

Hinter Altenrath

Bei Lohmar

Vor Troisdorf. Im Vordergrund etwas verblühte Heide, also das namensgebende Kraut.

Während der Bahnfahrt nach Köln hörte ich eine Frau zu ihrem Begleiter sagen: „Ich finde das echt schwer, den Überblick zu behalten mit dem ganzen ab den Sechzigerjahren.“ Ich habe nicht genau mitbekommen, um was es ging; als 1967 Geborener stimme ich ihr jedenfalls uneingeschränkt zu.

Freitag: Manchmal, wenn ich Präsentationen anderer Bereiche sehe, bin ich froh, mit welchen Themen ich mich nicht beschäftigen muss.

Heute eröffnete der Bonner Weihnachtsmarkt. Unser Besuch am Abend fühlte sich unwirklich an, was nicht nur an den Männern in kurzen Hosen lag, die ich dort sah. Wie in besseren Zeiten strömten Menschen in großer Zahl durch die Budengassen und labten sich an Bratwurst, Backfisch und Warmgetränken. Erstmals wieder ohne Corona-Beschränkungen wie Masken, Impf-/Testnachweis und Abstände, als wäre es vorbei. Ich kritisiere das nicht, auch für mich hat die Seuche mittlerweile ihre Bedrohlichkeit weitgehend eingebüßt. Wenngleich mir bewusst ist, dass ich mich jederzeit erneut infizieren kann, nächstes Mal vielleicht mit langfristigen Folgen. Doch scheint mir die Gefahr zurzeit nicht größer, als während der Radfahrt ins Werk von einem Auto angefahren zu werden oder, wenn ich zu Fuß gehe, von einem irren Radfahrer, der während des Rasens durch die Fußgängerzone seine Aufmerksamkeit statt dem Fahrweg lieber dem Datengerät widmet.

Ist das wirklich so schwer?

Samstag: Im Rheinauenpark, durch den ich gelegentlich nach dem Mittagessen eine kleine Runde drehe, fand heute ein „Trauermarsch für die Nutrias“ statt, steht in der Zeitung. Damit will eine Initiative gegen das Abschießen der Tiere protestieren, die sich dort in den letzten Jahren mangels natürlicher Feinden stark vermehren und zunehmend aggressiv-futterfordernd gegenüber Parkbesuchern auftreten, wie mir meine Kollegin aus eigener Erfahrung bestätigte. Statt letaler Entnahme solle man sie sterilisieren, so die Forderung der Trauernden. Wie schön, wenn man keine anderen Probleme hat.

Ich werde alt. Das wurde mir mittags wieder auf dem Weihnachtsmarkt deutlich, wo ich einen bestimmten Stand suchte, den wir am Vorabend gesehen hatten, um auf Geheiß des Geliebten Trinkgefäße zu kaufen. Erst nach mehreren erfolglosen Runden über den Münsterplatz, wo ich mich mit den bereits um diese Tageszeit zahlreichen Besuchern im Tempo eines Gletschers durch die Gänge treiben ließ, fiel mir ein, dass sich der Stand in der Vivatsgasse befindet, wo ich ihn – immerhin – sofort fand und die Bierkrüge erstand.

Zahlreich auch die Kraniche, die nachmittags auf dem Weg Richtung Süden über das Haus zogen.

Nur eine von mehreren Formationen

Sonntag: Über Twitter wollte ich eigentlich nichts mehr schreiben. Einmal noch: Viele beklagen nun dessen Übernahme durch Elon Musk, der dort seitdem wütet und alles aus den Angeln zu heben im Begriff ist. Sie sehen sich dadurch aus ihrer digitalen Heimat vertrieben und beabsichtigen, Twitter zu verlassen oder haben es bereits getan. Als Zufluchtsort wird Mastodon genannt, was für mich weiterhin wie ein Schweinefutterzusatzstoff klingt.

Auch ich fühlte mich einst bei Twitter sehr wohl. Zehn Jahre lang, von 2009 bis 2019, betrieb ich dort einigermaßen – nun ja: erfolgreich ein Konto, hatte zeitweise mehr als tausend Follower. Mit der Zeit schwand die Freude daran, an meinem zehnten Jahrestag löschte ich das Konto. Die Gründe dafür habe ich hier und dort dargelegt. Doch bereits im August 2020 verspürte ich erneut Lust, wieder dabei zu sein, und legte mir einen neuen Anschluss zu. Was ich vorfand, war ein anderes Twitter als das, in dem ich mich früher so wohlgefühlt hatte. Zahlreiche derer, mit denen ich in gegenseitigem Gefolge verbunden war, fand ich wieder und folge ihnen erneut. Nur finde ich keinen Anschluss mehr: Fast keiner von ihnen folgt zurück, und wenn ich was schreibe, bleibt es ohne jede Resonanz. Wie ein Junge, der am Rand steht und den anderen beim Ballspielen zusieht, aber nicht mitspielen darf. Ein schlechtes Beispiel – ich verabscheue Sportarten mit Bällen. Besser dieses: Vielleicht kennen Sie die Szene von und mit Loriot, wo ein älterer Herr an einem Festessen teilnimmt und versucht, mit seinen Tischnachbarn ins Gespräch zu kommen, die sich untereinander bestens unterhalten, ihn jedoch beharrlich ignorieren. – Ich beklage das keineswegs im Sinne von „Keiner hat mich lieb“, bemerke es nur. Deshalb schaue ich nur noch unregelmäßig rein, noch seltener schreibe ich was. Wenn Herr Musk es demnächst stilllegen sollte, ist mir das egal. Mit Mastodon habe ich es bereits vor ein paar Monaten versucht, mich dort aber noch weniger wohl gefühlt. Daher ist das Konto längst wieder gelöscht.

Mit diesem Blog ist es ähnlich, mit dem Unterschied, dass es niemals „erfolgreich“ war und auch nicht sein soll. Dennoch beobachte ich jedes Mal mit einem ganz leicht in Richtung Neid tendierenden Gefühl, wenn in den Blogs, die ich regelmäßig lese, auf andere Blogs verwiesen wird, während das von mir hier Verfasste weitgehend unbeachtet bleibt. Das mag an dessen Qualität liegen, vielleicht weil es weder vegan noch gegendert ist. Wobei andere, die einfach nur täglich ganz knapp schreiben, was sie gegessen, getrunken und gelesen haben, dafür regelmäßig Gefallensbekundungen in zweistelliger Anzahl erhalten. (Die Gefällt-mir-Sternchen für dieses Blog würde ich übrigens gerne deaktivieren, finde die entsprechende Funktion bei WordPress aber nicht. Wenn jemand weiß, wie das geht, wäre ich für einen Hinweis sehr dankbar.) Bitte verstehen Sie auch das nicht als larmoyante Klage gegen die böse Blogwelt, es ist einfach so. Es gibt schlimmeres, zum Beispiel Koriander oder wenn irgendwo von „Mitgliederinnen und Mitgliedern“ zu lesen ist. – Ein paar regelmäßige Leserinnen und Leser gibt es hier, und darüber freue ich mich sehr. Daher wird dieses Blog weiterhin bestehen und regelmäßig beschrieben, selbst wenn Elon Musk irgendwann WordPress kaufen sollte, oder Donald Trump.

Diese Betrachtung ist nun länger geworden und hätte für einen separaten Aufsatz gereicht. Aber das würde dem Thema den Anschein einer Bedeutung verleihen, die es nicht hat.

Zum Schluss was Positives: Beim Spaziergang heute haben zweimal Autofahrer angehalten, um mich die Straße queren zu lassen, obwohl sie es nicht gemusst hätten. Daher nicht immer nur meckern.

Ein zusammenhangloses Bild vom Spaziergang

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Kommen Sie gut durch die Woche, lassen Sie sich nicht ärgern und umfahren.

Die Zweitausender – Wilde Zeiten

Nach Betrachtung der Siebziger-, Achtziger– und Neunzigerjahre schauen wir nun in die

Zweitausenderjahre.

Das Jahr 2000 begann mit einem bizarren Streit über die Frage, ob das neue Jahrtausend jetzt begann oder erst 2001. Eine eher theoretische Diskussion – für mich begann das neue Jahrtausend jetzt, am 1. Januar 2000. Ebenso uneins war man sich, wie dieses Jahrzehnt denn nun heißt. Bei den Siebziger-, Achtziger und Neunzigerjahren war es klar, aber jetzt? „Nullerjahre“? Klingt komisch, daher habe ich für mich entschieden, das Jahrzehnt trotz alpiner Anmutung als „Zweitausender“ zu bezeichnen.

Weltpolitisch begann das Jahrzehnt zunächst unauffällig, dann indes spektakulär mit den Terrorangriffen auf die USA am 11. September 2001. Als ich vormittags auf den Werksfluren erstmals davon erfuhr – kurz zuvor war das erste Flugzeug ins World Trade Center eingeschlagen – hielt ich es noch für einen Scherz, oder wenigstens einen Unfall. Erst nach Eintreffen des zweiten Flugzeugs wurde klar: Das war kein Versehen. Und doch – bei aller Schrecklichkeit war ich tief beeindruckt von der organisatorischen Leistung der Terroristen, unbemerkt von Geheimdiensten gleichzeitig vier Flugzeuge zu entführen und zwei davon innerhalb kurzer Zeit eigenhändig in die New Yorker Türme zu lenken. – Eine beliebte Frage bis heute: „Wo waren Sie am 11. September 2001?“ Für mich kann ich sie beantworten: Nachmittags hatte ich einen Besichtigungstermin einer Wohnung in der Bonner Weststadt, vier Zimmer, neunzig Quadratmeter mit Balkon, als Ersatz für unsere für zwei Personen doch etwas beengte Dachkammer in der Südstadt. Wir bekamen sie und waren sehr zufrieden damit, wenngleich auch diese Wohnung, wie die Dachkammer, in unmittelbarer Nähe zur Bahnlinie lag, daher nicht gerade ruhige Lage. Aber daran waren wir inzwischen gewöhnt und fühlten uns darin sehr wohl. Nach dem Umzug (für den wir letztmalig Freunde und Bekannte missbrauchten) hatte ich das Gefühl, in Bonn und im Rheinland richtig angekommen zu sein.

Die Kirschblüte in der „Altstadt“ lockte noch nicht Touristenscharen an

Ebenfalls 2001 beschloss der Deutsche Bundestag das Lebenspartnerschaftsgesetz. Wir durften zwar aufgrund eines verfassungsgerichtlich bestätigten, absurden „Abstandsgebotes“ nicht heiraten, immerhin eine „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ eingehen, die alle Pflichten und kaum Rechte der herkömmlichen Ehe zwischen Mann und Frau beinhaltete, insbesondere keinerlei steuerliche Vorteile. Das hielt uns nicht davon ab. Mein Antrag, noch vor dem Umzug in der Dachkammerküche dargebracht, verlief ostwestfälisch knapp und wurde vom Liebsten positiv beschieden, statt mit einem Ring wurde der Beschluss mit Jägermeister besiegelt. Als Termin legten wir einen Tag im Mai des Folgejahres fest, genau der Tag, an dem wir uns fünf Jahre zuvor kennen gelernt hatten.

Der standesamtliche Akt erfolgte im schmucklosen Trauzimmer des Bonner Stadthauses, das laut Standesbeamtin anlässlich unserer Vermählung so voll war wie selten. Der Liebste nahm (freiwillig) meinen Nachnamen an. Etwas irritiert war ich, als ich nach der Trauung meinen Chef hinter mir „Herzlichen Glückwunsch, Herr K.“ sagen hörte und erst im Umdrehen, um mich zu bedanken, bemerkte, dass er meinen Mann beglückwünschte. Amüsant hingegen die Frage aus Reihen der nachfolgenden Hochzeitsgesellschaft: „Wo ist denn die Braut?“

Glücklich und frisch verheiratetpartnert

Für die anschließende Feier hatten wir eine Gaststätte in Bonn-Kessenich reserviert, wo unsere zahlreichen Gäste die Wirtsleute durch erheblichen Appetit beeindruckten; gegen Ende musste der Jungkellner Jägermeister aus Privatbeständen seiner Eltern ranholen. Maßgabe für die Feier war, auf keinen Fall irgendwelche peinlichen Hochzeitsspielchen durchzuführen, woran sich alle hielten. Einziger unvermeidlicher Programmpunkt war der Hochzeitstanz, der mangels Tanzvermögens meinerseits nicht gar so elegant ausfiel, dafür schnell vorüber war.

Die Hochzeitsnacht verlief in nicht allzu romantischem Rahmen, niemand trug den anderen über die Türschwelle, im Zweifel wäre dazu auch keiner in der Lage gewesen. Stattdessen zählten wir Geld – anstelle von Sachgeschenken hatten wir uns finanzielle Unterstützung der Feier gewünscht.

Die Tatsache, nun „verpartnert“ zu sein, hinderte uns gemäß gegenseitiger Übereinkunft nicht daran, die Ausgeh- und Begegnungsmöglichkeiten in Bonn, Köln und darüber hinaus zu nutzen, was auch körperliche Kontakte mit Dritten ausdrücklich nicht ausschloss, weder gemeinsam noch jeder für sich. So verbrachte ich bereits die nächste Samstagnacht nach der Feier mit Ehering, Wissen und Erlaubnis meines Mannes im Kölner Chains, einem Lokal, dessen Zweck nicht in erster Linie dem Tanz und Getränkeverzehr diente und das für darüber hinausgehende Aktivitäten entsprechende Räumlichkeiten aufwies.

Selbstverständlich kam es nicht immer zum Äußersten. Manchen traf man einmal, andere öfter; einer blieb uns über Monate verbunden, kurzzeitig war gar sein Name an Klingelschild und Briefkasten angebracht – der Sommer 2003 war nicht nur in meteorologischer Hinsicht sehr heiß.

Auch gänzlich der Unzucht unverdächtige Aktivitäten nahm ich wahr: Im Sommer 2005 trat ich einem Männerchor in Köln bei, dem ich immerhin fünfzehn Jahre lang die Treue hielt. Jeden Mittwochabend fuhr ich nun zur Chorprobe nach Köln. Manchmal kostete es Überwindung, abends nach einem Arbeitstag noch mit der Bahn nach Köln zu fahren und erst kurz vor Mitternacht wieder zu Hause zu sein, doch fast immer kehrte ich mit einem Glücksgefühl zurück. Singen macht glücklich. Erst recht auf der Bühne vor Publikum, trotz vorangehendem Lampenfieber, das gehört dazu.

Irgendwas aus der Westside Story

Auch dem Hobby Eisenbahn widmete ich wieder mehr Zeit. Nachdem wir 2005 erneut umgezogen waren, jetzt in die Innere Nordstadt (auch Altstadt genannt, was nicht ganz richtig ist: Die Bonner Altstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt und nicht wieder aufgebaut, jedenfalls nicht als Altstadt; das nur am Rande) baute ich ab 2008 eine Modelleisenbahn auf, wenn auch nur eine ganz kleine, die an frühere Anlagen auf dem Dachboden des Bielefelder Elternhauses nicht heranreichte. Immerhin konnte ich meine Loks und Wagen, die sich bis dahin in einer Wandvitrine die Räder in den Rahmen gestanden hatten, wieder etwas bewegen, was nach so langer Abstinenz in etwa so glücklich machte wie Singen.

Nahverkehrszug 7843 nach Dransfeld kurz vor Abfahrt

Beruflich änderte sich nicht viel für mich. Mit meinem Chef, mit dem ich anfangs leichte Probleme gehabt hatte, kam ich inzwischen gut aus. Ende 2002 zog das Unternehmen vom ehemaligen Postministerium in ein repräsentatives (und zunächst innerhalb Bonns umstrittenes) Hochhaus am Rhein, auf den ich nun vom 24. Stock aus blickte.

Das Dampfschiff „Goethe“ wurde 2008/2009 leider von Dampf- auf Dieselantrieb umgebaut

Urlaube verbrachten wir mit zwei Freunden regelmäßig auf Gran Canaria, wo es ebenfalls zahlreiche der oben beschriebenen zwischenmännlichen Begegnungsorte gibt. Die Tage verbrachten wir üblicherweise am Strand vor den Dünen von Maspalomas.

Vermutlich trug ich zum Zeitpunkt der Aufnahme eine Badehose

Erstmals im Sommer 2006 fuhren der Liebste und ich mit dem Auto nach Südfrankreich, zunächst nach Nyons, dann Malaucène. Dort in der nördlich Provence gefiel und gefällt es uns so gut, dass das bis heute unser bevorzugter Urlaubsort geblieben ist.

Rosé passt immer

Anfang des Jahrtausends fand ich die Freude am Schreiben wieder, bis dahin hatte ich nur regelmäßig Tagebuch geschrieben. So entstanden einige Bücher, für eines fand ich gar einen Verlag, der es 2006 herausbrachte. Allerdings war ihm keine Erfolg beschieden, es wurden nur ein paar hundert Exemplare verkauft. Zu recht, wie im Nachhinein zu bemerken ist, es war wirklich schlecht geschrieben und so gut wie gar nicht einem Lektorat unterzogen. Ein paar mal versuchte ich mich noch an Literatur im Themengebiet schwules Lieben/Leben/Leiden, stets ohne Erfolg. Inzwischen habe ich mich vom Traum einer Schriftstellerkarriere verabschiedet; manches sollte man denen überlassen, die es können.

2007 entstand dieses Blog, das ich noch immer mit großer Freude befülle. Zwei Jahre später entdeckte ich Twitter für mich. Dort entwickelte sich schon bald diese gewisse Sucht nach Sternchen, Erwähnungen und neuen Verfolgern, deren ich zeitweise über tausend hatte. Mit Facebook hingegen freundete ich mich nie an, nach zwei Anläufen trennten wir uns endgültig.

Was war sonst in den Zweitausendern:

  • Apple brachte mit dem iPhone das erste Smartphone in die Welt, welches das Verhalten und die Gewohnheiten der Menschen seitdem erheblich beeinflusst hat. Auch bei uns, nachdem sich der Liebste, stets ein Freund der Produkte mit dem angebissenen Apfel, eins zugelegt hatte. Ein Jahr später war es meins, nachdem er es durch ein Gerät der neuesten Generation ersetzt hatte.
  • Angela Merkel löste Gerhard Schröder als Bundeskanzler ab und hielt sich für den Rest des Jahrzehnts und weit darüber hinaus im Amt.
  • Der Euro löste die D-Mark und weitere europäische Währungen ab. Viele rechneten bei jedem Bezahlvorgang noch in Mark um und befanden, nach der Umstellung sei alles teurer geworden, vor allem die Gastronomie, was der neuen Währung bald des Namen „Teuro“ einhandelte. Manche tun das noch heute.
  • Putin und Erdogan kamen jeweils als Präsident ihres Landes an die Macht, mit den bekannten Auswirkungen auf die Freiheitsrechte ihrer Völker und darüber hinaus.
  • Mit Joseph Ratzinger wurde ein Deutscher Papst. „Wir sind Papst“, titelte die Bild-Zeitung. Als er am Weltjugendtag in Köln teilnahm, ratzteten die Besucher aus und feierten ihn mit „Benedetto“-Rufen fast wie einen Popstar, was er nun wirklich nicht war.
  • Die USA eröffnen unter George W. Bush den zweiten Irakkrieg mit Auswirkungen im Irak und der Region bis heute.
  • Oasis, für mich die größte Band aller Zeiten, lösten sich nach Streit der Gallagher-Brüder auf. Beide traten danach noch ein paar mal mit Solo-Projekten in Erscheinung, die alten Erfolge von Oasis wurden nicht mehr erreicht. Vielmehr weiß ich in musikalischer Hinsicht zu diesem Jahrzehnt nicht zu schreiben. Sicher gab es Gutes und Typisches, doch fiele es mir im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahrzehnten schwer, typische Hits und Interpreten der 2000er zu benennen. Ich habe sie gehört, doch ist kaum etwas hängen geblieben.

Den Jahreswechsel 2009/2010 verbrachten wir unspektakulär zu zweit zu Hause, wie immer hatte der Liebste vorzüglich gekocht. Nach dem Essen gingen wir zum Opernhaus am Rhein und schauten zu, wie andere hunderte und tausende Euro in die Luft jagten. Die Zehnerjahre hatten begonnen und wir gingen noch ein paar Kölsch trinken und Leute treffen in Bobas Bar.

#Twexit – Der letzte Tweet hat keine Pointe

Tweet1

Nun bin ich also seit zehn Jahren bei Twitter. Das erscheint mir als der richtige Zeitpunkt, mein Konto zu löschen. Die Beweggründe dazu habe ich schon hier dargelegt, dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen.

Vielleicht noch dieses: Twitter ist mittlerweile das Sprachrohr von Leuten wie Donald Trump geworden. Alle verfallen in Aufruhr, wenn er dort mal wieder irgend einen Unfug abgesondert hat. Viele andere Spinner verbreiten über Twitter ihren Hass und Falschinformationen, jedes Mal ein kleiner Angriff auf das menschliche Miteinander. „Social Media ist die Toilette des Internets“, wird Lady Gaga zitiert. Dafür bekäme sie von mir ein Herzchen.

Zehn Jahre Twitter – es gab sehr schöne Zeiten, besonders auch die persönlichen Treffen mit anderen Nutzern, für die ich manchmal gar längere Reisen auf mich nahm, etwa bis nach Oberhausen, Wiesbaden und Berlin. Viele nette Menschen habe ich dadurch persönlich kennen gelernt. Besonders danke ich dem @vergraemer und @johannes, die es mir ermöglicht haben, eigene Texte vor Publikum zu lesen, was mir stets eine große Ehre und ein Vergnügen war; mit beiden wäre ich ohne Twitter niemals in Kontakt gekommen.

Vielen Dank an alle, die mir bis heute die Treue gehalten haben, und das sind noch immer erstaunlich viele. Vielleicht haben sie es auch einfach nur versäumt, mir die Gefolgschaft zu kündigen, weil sie das Interesse genauso verloren haben wie ich.

Machts gut, weiterhin viel Spaß und gute Unterhaltung, bitte lasst euch nicht aufhetzen!

In tiefer Verbeugung

Carsten / Postwestfale / @PlanC_

schlusstweet

Woche 45: Sehr zufrieden

Montag: „Everyone‘s a sinner“, las ich letztens, an eine Wand gesprüht. Mit Blick auf die Wahnsinnigen in Pakistan fordere ich ein natürliches Recht auf Gotteslästerung für jedermann, wenn nicht gar die Pflicht dazu.

Apropos Wahnsinnige: Warum wird den Tweets eines Politikers eigentlich immer eine so große Bedeutung beigemessen? Das ist doch zumeist nur hohles Gezwitscher.

Dienstag: Niemand soll behaupten, ich sei nicht bereit, mich für das Wohl des Unternehmens aufzureiben und mein letztes Hemd zu opfern.

„Lösungen für die Lebensqualität im Alltag“, so der Werbespruch unseres Kantinenbetreibers. Zu dessen Unterstreichung gab es heute Metzgerfrikadellen. Nach den sonst angebotenen Schweine-, Rinder-, Geflügel-, Gemüse- und Tofufrikadellen eine willkommene Abwechslung.

Mittwoch: Die Vorfreude auf das bevorstehende Weihnachtsfest ist bereits jetzt allgegenwärtig.

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Auf dem Weg ins Werk kam mir eine Läuferin entgegen, die während des Laufens unentwegt auf ihr Telefon starrte. Ich war kurz versucht, sie anzuschreien: „Merkt ihr es wirklich nicht?“

„Ein leerer Bauch macht böse“, sagt der Kollege. In der Kantine wurde veganes Reisfleisch angeboten. Ein kulinarisches Oxymoron.

Donnerstag: „Du hast wohl keinen Bock auf das Thema“, sagt der Chef. Notiz an mich: Ich muss dringend an meiner Mimik arbeiten.

„Die Bezirksregierungen arbeiten derzeit mit Hochdruck an den Fortschreibungen der Luftreinhaltepläne und prüfen Maßnahmen und Potenziale“, schreibt die Zeitung. Das klingt genau wie das synonym gern genommene „fieberhaft“ immer ein bisschen nach „… haben nicht den leisesten Schimmer einer Idee, wie sie das Problem lösen können“.

Von Luft- zu Stadtreinhaltung. Vorgestern war in der Bonner Altstadt Sperrmüll-Abholung. Heute, auf dem Weg in den Rewe zum Zwecke des Erwerbs von Brot und fünf Nougat-Marzipan-Baumstämmen zur Versüßung des Büroirrsinns lief ich an drei verlassenen Kühlschränken und zwei Monitoren vorbei. Ist das Unwissen, blanke Dummheit oder kalkulierte Ignoranz? Vermutlich letzteres, irgendwer wird das Zeug schon irgendwann beseitigen.

Freitag: Noch einmal Kantine. Heute gab es Gänsekeule mit Knödeln, Rotkohl und Lyrik dazu: „Gans und gar / ist einfach wunderbar“. Ich habe sie trotzdem genommen und war sehr zufrieden.

Sehr zufrieden bin ich auch immer mit meine Lieblingsfrisörin. „Geht das Wasser?“, fragte sie am Abend, während sie mir mit sanfter Hand das Haar wusch. Geht das Wasser? Eine interessante Frage, die sich vielleicht auch der Tourist auf dem Büsumer Seedeich mit Blick auf das Wattenmeer stellt, unsicher ob Ebbe oder Flut.

Eine interessante Frage auch hier: Auf Twitter geschah heute Merkwürdiges. Am 28.10.2009 schrieb ich dort dieses:

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Heute, also neun Jahre und zwölf Tage später, geschah dieses:

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Wie mag Frau Gaukeley auf diesen uralten, mäßig witzigen Tweet gestoßen sein, warum hat sie ausgerechnet den zitiert, und warum gefällt das so vielen? Die digitale Welt ist immer wieder voller Rätsel.

Samstag: Rätselhaft, mit Tendenz zu unbegreiflich, ist auch das Anspruchsdenken eines Ehepaars, das laut Zeitungsbericht ein idyllisch gelegenes Haus im bayrischen Holzkirchen gekauft hat und nun seit drei Jahren gegen Kuhglockengebimmel von der benachbarten Weide klagt. „Auch den Gestank beim Düngen mit Gülle wollen sie nicht mehr dulden – und die auf ihr Grundstück fliegenden Insekten ebenso wenig“, so die Zeitung. Ich bin dafür, dass Menschen, die Häuser neben Kuhweiden, Bahnlinien, Flughäfen und Flüssen kaufen und anschließend wegen Glocken-, Zug-, Flugzeug- beziehungsweise Schiffslärms die Gerichte belästigen, automatisch ihr Eigentumsrecht am erworbenen Grund verlieren und zwangsweise in die schweigende Ödnis der Magdeburger Börde umgesiedelt werden. Wobei ich schon gerne wüsste, wie die Fliegen künftig per Gerichtsurteil von dem Grundstück ferngehalten werden sollen.

Sonntag: Elfter elfter, Karnevals-Sessionseröffnung (nicht nur) auf dem Bonner Marktplatz. Nur mal kurz ein Stündchen kucken gehen, eins, zwei Kölsch, dann wieder nach Hause. Hat dann doch etwas länger gedauert und endete nach einer nur unwesentlich größeren Anzahl Kölsche im Zeughaus der Bonner Ehrengarde. Alaaf!

Thomas Glavinic schreibt in der F.A.S.: „Frische Luft ist der Gestank zwischen zwei Gasthäusern.“

 

Herzlichen Glückwunsch, Twitter!

10Jahre_Twitter

Liebes Twitter,

ich gratuliere dir zu deinem zehnten Geburtstag! Selbst bin ich jetzt seit sieben Jahren dabei, ist ja auch schon ganz schön lange in dieser schnelllebigen Welt. Leider liest man in letzter Zeit nur wenig Gutes über dich: Der Aktienkurs schwächelt, die Nutzerzahl geht zurück, deine Manager verlassen dich. Dann ärgerst du auch noch deine Stammnutzer, indem Algorithmen die Anzeige des Verlaufs beeinflussen und du ihnen erlauben (!) möchtest, künftig mehr als die berühmten hundertvierzig Zeichen zu schreiben (worüber sich zu empören mir besonders abwegig erscheint. Wann haben sich zum letzten Mal Menschen darüber beschwert, dass ihnen ein Mehr gestattet wurde?).

Und doch hat sich unser beider Verhältnis in den letzten Jahren gewandelt, meine anfängliche Leidenschaft für dich ist deutlich abgekühlt. Was du falsch gemacht hast, fragst du? Nichts. Immerhin: Facebook, Wer-kennt-wen und XING habe ich längst den Rücken gekehrt; Google+, Snapchat und wie sie alle heißen habe ich gar nicht erst ausprobiert; dir hingegen halte ich noch immer die Treue, wenn auch nicht mehr mit so großer Begeisterung wie früher. Früher, als ich täglich viel Zeit damit verbrachte, zu lesen, was andere schrieben, selber regelmäßig schrieb, mich freute über Sternchen (warum sind das jetzt eigentlich Herzchen??) und neue Folger, sogar mehrfach an Twittertreffen teilnahm, wo ich viele nette Menschen kennen lernte, auch aus den Reihen der „Twitter-Prominenz“. Durch dich nahm ich an Lesungen teil, manchmal sogar aktiv.

Doch spürte ich bald auch das Suchtpotential, das von dir ausgeht: Sternchen und Folger bedeuten Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit schreit nach mehr Aufmerksamkeit. Hinzu kam manchmal Neid: „Wieso bekommt der für so einen Mist jetzt so viele Sterne?“ oder, schlimmer: „Verdammt, warum ist mir das nicht eingefallen?“

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Dieser Wandel meiner inneren Einstellung zu dir störte mich. Ich schrieb auch hier über dich, was ganz gut ankam (und die vorgenannte Aufmerksamkeitsspirale weiter anspannte).

Doch irgendwann war es vorbei. Ich selbst las immer seltener, was andere schrieben, und wenn, brach ich gelangweilt nach wenigen Minuten ab (vor allem sonntags zur Tatort-Zeit). Viele von denjenigen, deren Zeugs ich immer gerne gelesen hatte, schrieben weniger oder gar nicht mehr. Auch mir fiel immer seltener etwas ein, was mir twitternswert erschien, und wenn doch, kam kaum noch Resonanz. Vielleicht, weil das, was ich selbst schrieb, nicht mehr gut war, vielleicht auch, weil die, die mich früher im Sternenglanz erstrahlen ließen, selbst nicht mehr bei dir reinschauten. Die Suchtspirale hat sich seitdem langsam entspannt, heute ist mir das vollkommen schnuppe.

Liebes Twitter, ich wünsche die für die nächsten mindestens zehn Jahre weiterhin alles Gute! Ob ich dann allerdings noch dabei sein werde, kann ich dir nicht versprechen. Und doch: Du hast mir in den vergangenen sieben Jahren viel Freude bereitet. Manchmal gelingt dir das heute noch. Deswegen bleibe ich. Erstmal.

Dein Postwestfale / @PlanC_

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#Koellesterin

Eher durch Zufall hatte ich vom Koellesterin erfahren, DEM Twitter-Treffen im Rheinland, welches am vergangenen Samstag nun schon zum vierten Mal in Köln stattfand. Ja, Lust hatte ich schon, teilzunehmen, aber ein kurzer Blick auf die Internetseite offenbarte: ausgebucht, schon lange. Na gut, dachte ich, nicht schlimm, zumal ich durch meinen renovierten Fuß immer noch ein wenig bewegungseingeschränkt bin.

 

Doch dann meldete sich ein Freund: es gibt eine Warteliste, trag dich da ein und schreibe eine Mail, dann kommst du rein. So taten wir es, der Freund und ich, und tatsächlich, wir standen auf der Gästeliste und kamen rein. 

 

Erste Feststellung des Abends, keineswegs überraschend: für jeden Teilnehmer gab es ein vorbereitetes Namensschild mit Twitternamen und Avatarbild. Nur nicht für mich. Weil ich ja nachgemeldet war. Der Freund war auch nachgemeldet, doch für ihn gab es ein Schild. Ich klage das nicht an, keineswegs mögen die Veranstalter es als Vorwurf empfinden, vielmehr ist es wohl einfach mein Schicksal.

 

Zweite Feststellung, eher überraschend: man durfte rauchen. Und so tat ich denn auch, vielleicht mehr als mir lieb war. Na ja, und Bier gab‘s sowieso, so viel wie der Geldbeutel und das persönliche Fassungsvermögen hergaben, schließlich befand man sich in einer Kneipe.

 

Ja, und da waren sie nun, große und nicht so große Twitterer aus der Republik, manche hatten richtig lange Anreisen auf sich genommen, nur um an diesem Abend hier zu sein. Auf der Internetseite hatte ich gesehen, wer angemeldet war, und so war ich sehr gespannt, den einen oder die andere, denen ich schon lange folgte, in Fleisch und Blut zu sehen und vielleicht ein bisschen mit ihm / ihr zu quatschen. Wie das so ist: die einen entsprechen „in echt“ ungefähr der Erwartung, andere sind ganz anders. (Einer gab sich genau so arrogant, wie er sich auf Twitter geriert. Ich habe mich von ihm noch am Abend getrennt.)

 

Dritte Feststellung: Die „Großen“ blieben eher unter sich – so zumindest mein persönlicher Eindruck, vielleicht irre ich mich – wobei „groß“ in diesem Zusammenhang natürlich genau so zutreffend ist wie „reich“ in Bezug auf Monopoly-Geld. Aber das macht nichts, die Stimmung war ausgezeichnet, dank der Gästeliste war es nicht überfüllt, und einige nette Unterhaltungen hatte ich auch, ebenso einige neue Twitterkontakte, denen ich nun folge, einfach weil mir die Menschen dahinter sympathisch sind. Auch die Musik war klasse, und hätte mein Fuß es erlaubt, hätte ich sicher getanzt (und so vielleicht etwas weniger geraucht). Als wir gingen, kurz nach sechs Uhr morgens, war der Saal noch voll, was wohl allein schon für die Veranstaltung spricht.

 

Mein persönliches Fazit des #Koellesterin: Es hat Spaß gemacht, schön, dass ich dabei sein konnte, sehr gerne beim nächsten Mal wieder. Vorausgesetzt, ich bekomme es mit und schaffe es wieder auf die Gästeliste. Ein Namensschild werde ich ich mir vorher selbst basteln, man weiß ja nie. Eines werde ich indes nicht verstehen: warum man nur deswegen eine Anreise von mehreren hundert Kilometern auf sich nimmt; je mehr Follower, desto weiter. Nun ja, ich glaube ich verstehe es doch, aber wir wollen nicht polemisch werden.

 

Zum Schluss: Bis hierhin vermied ich es konsequent, konkrete Namen zu nennen. Zwei nenne ich nun doch: @Sidera und @rock_galore. Vielen Dank für die Organisation und dafür, dass ich trotz viel zu später Anmeldung dabei sein durfte! Das mit dem Namensschild ist nicht eure Schuld, siehe oben. 

 

Und noch einen: vielen Dank, lieber @nutellaundmett, für die Übernachtungsmöglichkeit und deine Gastfreundschaft!

Über Abschiede

„Abschied ist ein scharfes Schwert“, so sang einst der busfahrerbärtige Barde Roger Whittaker. Früher, als er noch englisch sang, fand ich ihn richtig gut, doch als er anfing, auf WDR 4 deutsch zu singen, wurde er unerträglich. Abschied – das Leben ist voll davon: Abschiede von Menschen, Orten, Gewohnheiten oder Frisuren. Dabei will ich hier gar nicht auf die großen, dramatischen, schmerzvollen Abschiede eingehen, etwa den Tod, das Ende der Schulzeit oder den gezogenen Weisheitszahn, darüber haben bereits andere, die das viel besser können, genug geschrieben; nein, vielmehr sind es doch die kleinen, manchmal schleichenden Abschiede, die dem Leben die Würze geben. Hier eine unvollständige subjektive Auswahl meiner kleinen Abschiede:

Ich habe mich verabschiedet von…

… der Hoffnung, irgendwann zu wissen, wie ich sein möchte. Seit ich denken kann, wäre ich gerne anders, nur weiß ich nicht, wie. Andererseits, wenn ich so bleibe, bin ich auch zufrieden, es könnte viel schlimmer sein.

… dem Wunsch, etwas besonders gut zu können, in etwas besser zu sein als andere. Das gibt es nicht, einer ist immer besser. Ohnehin lebt es sich leichter, wenn man aufhört, sich stets mit besseren zu vergleichen.

… meinem flachen Bauch. Nicht, dass ich auch nur ansatzweise dick bin, aber früher war da weniger. Mit über vierzig darf das wohl so sein.

… meinem vollen Haar. Auch von Kahlköpfigkeit bin ich weit entfernt, dennoch, der Haaransatz wandert höher, und am Hinterkopf schimmert deutlich eine Lichtung.

… dem Versuch, französisch zu lernen. Ich habe es versucht, diese Sprache ist für mich unerlernbar, jedenfalls mit vertretbarem (d. h. möglichst geringem) Aufwand. Immerhin, ich kann in Frankreich ein Brot kaufen und ein Bier bestellen, viel mehr braucht man nicht zum Überleben.

… der Annahme, ich wäre in der Lage, zwei Tage hintereinander keinen Alkohol zu trinken. Irgendwo lockt immer eine entkorkte Weinflasche, und es wäre eine Sünde, diese umkommen zu lassen.

… langen Nächten in Köln. Wozu sich die Nacht mit zweifelhaften Vergnügungen um die Ohren schlagen, wenn zu Hause das warme Bett mit dem Liebsten darin lockt.

… dem Bestreben, Karriere zu machen. Da wo ich jetzt bin, bin ich sehr zufrieden. Ich arbeite gerne, lebe aber nicht für die Arbeit.

… der Vorstellung, mir selbst einen blasen zu können. Ich käme zu nichts mehr und wäre wohl auch noch nicht da, wo ich jetzt bin.

… von dem Vorsatz, ein besserer Mensch / Freund / Sohn / was auch immer zu werden. Besser kann ich nun mal nicht.

… meinem Ohrring. Von manchen Dingen, und mag man sie noch so sehr, sollte man sich zu gegebener Zeit verabschieden. Am besten, bevor es albern wirkt.

… der Erwartung, alles zu bekommen, wenn ich nur theatralisch loszuheule. Vermutlich eine der frühesten kindlichen Abschiedserfahrung eines jeden.

… zahlreichen Kleidungsstücken, die ich liebte, die sich anfühlten wie ein Teil von mir. Irgendwann ist jedes Hemd, jede Hose durchgescheuert. Oder einfach aus der Mode. Oder nicht mehr bauchkompatibel, siehe oben.

… der Möglichkeit, jede gute Musik auf Schallplatten kaufen zu können. Der Niedergang begann mit der CD; wie seelenlos ist doch heute eine mp3-Datei! Auch die Zeiten, da ich Musik im Radio jagte, um sie auf Kassette zu bannen, sind unwiederbringlich vorbei. Da lobe ich mir dann doch den iTunes-Store.

… dem Wunsch, einen VW-Käfer zu besitzen. Ja, dieses Auto hatte noch Charakter, nur noch erreicht von der Ente. Andererseits, die Vorstellung, damit zehn Stunden (oder länger) in die Provence zu fahren, relativiert den Abschiedsschmerz.

… geliebten Fernsehserien: ,Formel Eins‘ (nein, nicht diese hirnlosen Wagenrennen mit Lauda, Schumacher, Vettel und so, sondern die Musiksendung in den Achtzigern, die schließlich MTV nicht überlebte), ,Tom & Jerry‘ (die schönste Art der Gewaltverherrlichung) oder ,Kottan ermittelt‘ (was ist dagegen schon Tatort?)

… geliebte Radiosendungen: Hermann Hoffmanns ,Sender Zitrone‘, die ,Flipzeit‘ auf WDR 1 (überhaupt WDR 1), die ,Mal Sandocks Hitparade‘. Auch die sogenannte Radio-Comedy hat stark nachgelassen, alleine schon auf 1Live: ,Ernie und Herbert‘, ,Grillstube Saloniki‘, ,Satan‘, wo sind sie geblieben? Stattdessen flache Witzchen auf SWR3-Niveau mit eingeschobenen Geräuschen, damit man weiß, wo man lachen soll.

… der Aussicht, einmal bei einem Poetry Slam über die Vorrunde hinaus zu kommen. Ohnehin erscheint es mir pervers, zu schreiben, um zu gewinnen. Dennoch werde ich es wohl immer wieder versuchen.

… Twitter. Gut, ganz habe ich es noch nicht geschafft, aber es wird einer der nächsten Abschiede sein.

… der Illusion, dass sich irgendwer für das interessiert, was ich schreibe. Na gut, ein paar scheint es schon zu geben, und die genügen mir, über die freue ich mich. Danke, dass sie bis hierher gelesen haben!

Und doch bedeutet nicht jeder Abschied auch Schmerz. Von Roger Whittaker zum Beispiel habe ich lange nichts gehört, und ich kann nicht behaupten, ihn zu vermissen.

Abgeschrieben: Die Anatomie des Aufregens

Dass mich in letzter Zeit eine gewisse Twitter-Müdigkeit beschleicht, erwähnte ich unlängst. Umso mehr freut es mich, wenn ich dann bei meinen seltener gewordenen Besuchen dort auf Twitterer stoße wie den @Mindpenetrator1, der nicht nur sehr gut zwitschert, sondern unter dem Namen Mind-Penetrator auch ein sehr lesenswertes Blog über Alltägliches betreibt. Mit seiner freundlichen Erlaubnis hier eine Kostprobe seines Schaffens. Viel Vergnügen!

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Der nachfolgende Text wurde unter heftigstem Gefluche geschrieben, da der PC seinen Job wieder nicht vernünftig erledigt hat!!!!!

Ich habe nun schon einige Blogposts über die kleinen Aufreger des Alltags verfasst. Doch wie sieht er eigentlich aus, der kleine Aufreger? Über die ganz kleinen Ärgerlichkeiten bis hin zu den größeren?

Es gibt verschiedene Typen des Aufregens, die nach Charakter, Tagesform und natürlich auch dem Auslöser an sich zu unterteilen sind. Und es ist immer wieder erfrischend festzustellen, wie andere Leute ihrem Unmut Luft machen – es erfrischt aber auch nur, wenn man Beobachter der Situation ist und nicht selber der Auslöser war.

Da gibt es die Leute, die in jeder Situation die Contenance behalten, ruhig bleiben, manchmal sogar lächeln. Man kann sich mit ihnen nicht streiten, da sie von einem stetigen Ruhepol umgeben werden, der ihnen nicht das geringste Anzeichen von Wut erlaubt. Ein „Heuwägelchen“ und die Welt ist wieder in Ordnung.

Ich gehöre nicht zu diesen Menschen. Im Gegenteil, wenn ich wütend bin und ich dann noch angelächelt werde, treibt mich das endgültig zur Weißglut. Ich selber bin eher etwas cholerisch. Nicht immer. Aber wenn ich allein bin und mich niemand sieht, dann können schon Dinge das Fliegen lernen. Zuletzt war es Bärchenwurst. Ich will ja nichts kaputt machen.

Der PC ist heutzutage einer der größten Wutanfallauslöser. Jeder kennt die Problematiken und die damit verbundenen Fluchattacken. Man hört von Leuten plötzlich Neologismen im Schimpfwortrepertoire, auf die man so nicht kommen würde „DreckskackendePissarschsau…“ Sie wissen schon, der normale Wutausbruch eben.
Sollte der PC weiterhin störrisch bleiben und sich von den Schimpfwörtern unbeeindruckt zeigen, muss Gewalt her. Wenn man die Maus durchs Zimmer wirft, wird er schon sehen, was er davon hat. Auf der Arbeit würde ich so etwas natürlich nicht tun, zumeist gibt es dort keine kabellosen Mäuse und das darauffolgende Gespräch mit dem Chef dürfte auch unangenehm werden.
Im Normalfall nimmt der Kopf einige Minuten später wieder eine gesunde Hautfarbe an und die Adern senken sich wieder an ihre dafür vorgesehenen Stellen. Im besten Fall.

Die mutwillige Verletzung des Zehs durch ein Möbelstück ist ebenfalls gern einen Aufreger wert. Nachts hat man Durst, möchte etwas trinken und plötzlich taucht die Kommode aus dem Nichts auf und stößt gegen den Zeh. Hier ist man meist zu müde, um sich böse Schimpfworte einfallen zu lassen, in diesem Fall reicht ein gezielter Tritt gegen das hinterhältige Möbelstück, mit dem man den anderen Fuß ebenfalls lädiert, aber wenigstens mit einem triumphierenden Grinsen. Mistding.

Politik… auch ein Aufreger par excellence. So weitreichend. So endlos. Und so sinnlos. Entweder wird man aktiv oder man nimmt die Situation als gegeben hin. Wenn ich stundenlang im Wohnzimmer mit Freunden oder der Familie darüber diskutiere, hilft das niemandem. Man frisst es nur nicht in sich hinein. Ich habe die These aufgestellt, dass politische Themen als Lückenfüller auf Geburtstagen herhalten. Das Gezeter hilft keinem, aber man hat wenigstens ein Thema, auf dem kollektiv herumgehackt werden kann.

Die Dreistheit mancher Leute treibt uns regelmäßig in den Wahnsinn. Ob es der penetrante Drängler mit seinem dicken Gefährt auf der Autobahn ist oder ein frecher Verkäufer, der gierig auf seine Provision ist.

Straßenverkehr: Schätzungsweise wurde das wüste Fluchen und Beschimpfen hier erfunden. Jeder war mit Sicherheit schon einmal kurz davor, in sein Lenkrad zu beißen, weil die Anderen, die Vollidioten, die den Führerschein im Lotto gewonnen haben, einfach nicht in der Lage sind, vernünftig zu fahren. Vorfahrtnahme, dreistes Drängeln, wildes Überholen. Stau. Man steigt gut gelaunt ins Auto ein und ist nach 20 Minuten an dem Punkt angelangt, einfach aus dem Wagen zu steigen und zu gehen. Wie Michael Douglas in „Falling Down“. Speziell an Sommertagen gleicht die Autofahrt einer rivalisierenden Fehde von Einzelkämpfern. Ich kann mir dieses Phänomen bis heute nicht erklären, versuche mittlerweile aber, bei schönem Wetter das Auto stehen zu lassen. Aus Umweltschutzgründen. Und aus Selbstschutz. Es ist ein weitläufiges Thema, der Straßenverkehr. Wenn man Fahrrad fährt, sind die Autofahrer nicht vorsichtig genug, fährt man nächsten Tag Auto, sind die Fahrradfahrer die Idioten. Eigentlich stört alles und jeder.
Sicherlich basiert vieles auf der Unfähigkeit mancher Leute, vieles sind Mißverständnisse, klären werden wir das Thema allerdings nie.

Provisionsgeile Verkäufer. Wir sind mittlerweile geimpft, nichts zu schnell zu kaufen, alles zu prüfen und uns nichts aufschwatzen zu lassen. Das klappt bei Versicherungen und Staubsaugervertretern, in Klamottenläden sind wir dem meist jedoch schutzlos ausgeliefert. Während der Verkäufer wortgewandt auf den hilflosen Käufer einredet, wie TOLL die neue Hose an ihm aussieht, versuche ich meistens, den Blick des Käufers zu erhaschen und vorsichtig den Kopf zu schütteln. Es hängen ja auch überall Spiegel, aber wenn der Verkäufer eben sagt, dass das jetzt SO getragen wird, dann muss er ja Recht haben. Spätestens zu Hause fliegt die neu gekaufte Hose in die Ecke.

Manchmal sehen wir über etwas hinweg, weil wir gut gelaunt sind, weil wir Zeit genug haben, weil jedem von uns mal Fehler passieren:
Dann hat der Postbote eben geschellt und ihm war nunmal heute nicht danach, die Stufen hochzutraben, um das Paket abzugeben. Nun liegt ja der Abholschein im Briefkasten, aber man hat Zeit und kann sein Paket auch selber abholen. Solange dies das einzig unangenehme Vorkommnis des Tages ist, hat man ja kein Problem.
Bin ich mit dem falschen Fuß aufgestanden oder habe mich bereits auf der Arbeit oder im Straßenverkehr geärgert, wird die Fahrt zur Abholstelle sowohl für die Autofahrer im Umkreis als auch die Mitarbeiter am Schalter der Post eher weniger erfreulich.

Es gibt noch viele andere Aufreger und es kommen jeden Tag neue dazu. Letztlich ärgern wir uns, wenn wir kritisiert werden, verletzt werden, wenn wir keine Zeit haben, in Hektik sind und es kommt etwas dazwischen, wenn uns Geld abgeluchst wurde für irgendein unnützes Zeug, wenn wir selber etwas verbocken und uns dabei über uns selber ärgern.
Zum Beispiel, wenn man eine Uhr reparieren will. Auf einem Holztisch. Und schon eine Unterlage benutzt, um den Tisch nicht zu vermacken. Das Gehäuse zuschraubt. Die Uhr hochnehmen will. Feststellt, dass die Uhr am Tisch festgeschraubt ist. Durch die Unterlage durch. Ein Loch im Tisch.
#?!&%$@*%!!!!
Die nachfolgenden Minuten hätte selbst der Tonmeister bei RTL wegzensiert.

Aufreger haben eben keine bestimmte Anatomie, sie können laut und heftig sein, ein deftiger Tritt gegen Gegenstände, ein Knurren. Ein zartes „Ach herrje, das ist aber gar nicht schön“. Soll das ein Fluchen sein? Das ist doch kein Fluchen! Wenn man flucht, da muss man doch laut… also das regt mich jetzt echt auf!!!

Ein fröhliches „Heuwägelchen“!

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Quelle: http://mindpenetrator.blogspot.de/2012/06/die-anatomie-des-aufregens.html

Gefällt mir nicht

In der aktuellen Ausgabe der NEON beschreibt der Autor Felix Hutt in seinem Artikel „Gefällt mir zu sehr“ seine Facebook-Sucht: Wie er ins Bad verschwindet, Wasserhähne aufdreht und die Toilettenspülung betätigt, um seiner Freundin Körperpflege vorzugaukeln, in Wahrheit aber heimlich mit seinem Handy die neuesten Neuigkeiten in Facebook liest; die Freude, wenn jemand einen seiner Einträge kommentiert oder mit diesem Gefällt-mir-Dings versehen hat; seine ständige Angst, etwas zu verpassen; den ständigen Zwang, immer und immer wieder, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, nachzusehen, was es neues gibt; die Enttäuschung, wenn eine Freundschaftsanfrage unbestätigt bleibt.

Schließlich sucht er Suchtexperten, Psychologen und Wissenschaftler auf, wird in die Röhre geschoben, bekommt am Ende bestätigt: Ja, er ist süchtig, der Gedanke an Facebook aktiviert bei ihm dieselben Hirnregionen wie beim Raucher das Nikotin, man empfiehlt ihm, sich bei Facebook abzumelden oder eine Therapie zu machen. Abmelden kommt für ihn nicht in Frage, dann lieber eine Therapie.

Ich mag Facebook nicht. Lange Zeit habe ich mich geweigert, mich dort überhaupt anzumelden, allein schon wegen des Geschreis, das darum gemacht wurde; es ist derselbe Grund, weshalb ich keine Harry-Potter-Bücher gelesen und Der Herr der Ringe im Kino gesehen habe (also gut: den ersten Band Harry Potter habe ich gelesen, um mitreden zu können, ich gebe es zu). Meinen Facebook-Account habe ich mir schließlich doch zugelegt, mehr aus praktischen Erwägungen, ich kann, wenn ich will (meistens will ich nicht), Kontakt halten zu Leuten, die ich sonst aus den Augen verloren habe, oder ich erfahre von einigen Veranstaltungen, die ich sonst nicht mitbekommen hätte, und an denen ich dennoch fast nie teilnehme.

Es ist mir – bitte verzeihen Sie den Ausdruck – absolut scheißegal, wer gerade irgendwo kackt, wer das kommentiert, wem das „gefällt“; wer jetzt mit wem befreundet ist, wer welches dämliche Spiel spielt (und mich womöglich dazu einlädt – vergesst es!); irgendwelche Urlaubs- oder Partybilder langweilen mich sowieso, nicht nur auf Facebook.

Mich stört die inflationäre Verwendung, oder besser: der Missbrauch des Wortes „Freund“. Ein Freundschaft ist etwas, was Zeit braucht, wachsen muss, manchmal über Jahre; eine Freundschaft entsteht jedoch nicht durch das Anklicken einer Schaltfläche, ein Mensch, dem ich im echten Leben noch niemals begegnet bin, kann nicht mein Freund sein; vielleicht bin ich da etwas altmodisch, sei es drum.

„Dann ist doch alles gut“, könnte man jetzt annehmen, „der Artikel in der NEON betrifft dich nicht.“ – Doch, tut er. Ersetzt man Facebook durch Twitter, treffen 95% zu: Das ständige Lauern auf noch mehr Follower, die permanente Jagd nach Sternen, Retweets und Replies; die Enttäuschung, wenn ein vermeintlich guter Tweet ohne jegliche Reaktion im Rauschen untergeht, dagegen die freudige Überraschung, wenn ein mittelmäßiger Tweet im Sternenglanze erstrahlt (zum Beispiel dieser); dieser ständige Zwang, etwas witziges, geistreiches schreiben zu müssen, die allgegenwärtige Überprüfung jedes Satzes, jeder Bemerkung, jeder Situation, ob sich daraus ein netter Tweet formulieren lässt; dieser Selbstvorwurf „Warum ist mir das nicht eingefallen“, wenn wieder einer so einen Knaller losgelassen hat, und so weiter…

Schöbe man auch mich in die Röhre und läse man mir dann einige gute Tweets vor, würden vermutlich dieselben Hirnregionen aktiv wie bei Felix Hutt, siehe oben.

Und irgendwie gefällt mir das nicht.